Hajo Funke
AfD-Masterpläne
Die rechtsextreme Partei und die Zerstörung der Demokratie | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-210-3

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Strategische Fragen linker Politik in Zeiten von Krieg und Krise
Eine Flugschrift
126 Seiten | EUR 12.00
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Antje Vollmer/Alexander Rahr/Daniela Dahn/Dieter Klein/Gabi Zimmer/Hans-Eckardt Wenzel/Ingo Schulze/Johann Vollmer/Marco Bülow/Michael Brie/Peter Brandt
Den Krieg verlernen
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ISBN 978-3-96488-211-0

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Frank Deppe
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Peter Wahl
Der Krieg und die Linken
Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
Eine Flugschrift
100 Seiten | Euro 10.00
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

15. Juni 2012 Bernhard Sander: Koalitionsvertrag NRW

Statt einer Bewerbung als Bundeskanzlerin

Zuerst einmal ist man überrascht, wenn man den Koalitionsvertrag liest: Warum ist er doppelt so umfänglich wie der letzte? Weil man fünf Jahre statt 20 Monate regieren will oder, weil vieles darin steht, was nicht auf das Terrain Landespolitik gehört?

Man ist zweitens überrascht, weil zentrale Elemente der Agenda 2010 relativiert werden: »Wir wollen die politischen Rahmensetzungen, die prekäre Arbeitsverhältnisse und den Niedriglohnsektor befördert haben, verändern.« (103/4757) »Die Arbeitslosenversicherung muss das vorrangige Sicherungssystem bei Erwerbslosigkeit sein, die Grundsicherung das nachrangige. Auch dafür bedarf es eines Politikwechsels auf der Bundesebene.« (107/4947) Man spricht vom »sozialstaatlichen Gebot des sozio-kulturellen Existenzminimums«: »Deshalb werden wir auf Bundesebene bedarfsdeckende und armutsbekämpfende Regelsätze einfordern.«

Weite Teile des Koalitionsvertrages zielen auf die Bundesebene, skizzieren also Elemente eines künftigen SPD-Regierungsprogramms. Wenn die SPD nach links rückt, wird der Spielraum für DIE LINKE enger. Das kann aber nicht bedeuten, sich zu radikalisieren, sondern es geht darum, den Platz zu behaupten und die SPD beim Wort zu nehmen. Bleibt nun als einzige politische Option, sich Grünen und SPD als Koalitionspartner auf Bundesebene an den Hals zu werfen? Das ist bereits 2002 gründlich daneben gegangen.

Aber ist die LINKE dann nicht überflüssig? Mit jedem Schritt der rot-grünen Landesregierung, der eine Politik der LINKEN umsetzt, entsteht nicht nur eine Kontrollverpflichtung bei der Umsetzung, sondern die Forderungen können ausgeweitet werden. Aber dazu muss sich die LINKE.NRW neu erfinden. Es gilt nach den Feldern zu suchen, die brach gelassen werden. Denn wer – wie die Koalitionäre – glaubt, mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro sei die Altersversorgung »armutsfest«, ist offenbar doch noch immer ziemlich realitätsfern.

Der Kommunalpolitik der LINKEN wird nun gesteigerte Bedeutung zukommen. Vieles an diesem Koalitionsvertrag zur öffentlich geförderten Beschäftigung, zum Einsatz von EU-Fördermitteln, zu Stadtentwicklungsfonds und Stärkungspakt kann durch entsprechende Initiativen vor Ort präzisiert und eingefordert werden. Ansätze zu Landes-Kampagnen (Energiearmut, Hochschulreform usw.) erlauben es, das Profil der LINKEN weiterzuentwickeln.


ÖBS statt Industriepolitik?

Raum für die Profilierung der LINKEN lässt die Industriepolitik. Der Koalitionsvertrag bleibt gegenüber den Verlierern des Strukturwandels passiv und fördert nur die »Cluster« der »Leitmärkte«. Zur Automobilindustrie, die mit zwei großen Konzernen in Köln und Bochum vertreten ist, fällt dem Koalitionsvertrag noch nicht einmal das Wort ein, wenn es um Elektromobilität geht.

Die Vereinbarungen enthalten einige Ansatzpunkte für politische Initiativen auf kommunaler Ebene: Die Koalition will die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Gründung von Genossenschaften verbessern.

Ebenfalls sehr lang sind die Ausführungen zur Energiepolitik. Diese Branche hat für NRW mit den Hauptverwaltungen von RWE und EON sowie zahlreichen (Kohle-) Kraftwerken eine herausragende Bedeutung. Der »schnellstmögliche Umstieg auf erneuerbare Energien« blendet allerdings die Stadtwerke vollständig aus. Wie die Bundesregierung ist man daran interessiert, auch bei den erneuerbaren Energien das Oligopol der großen Anbieter zu erhalten und die Rentierlichkeit ihrer gigantischen Windpark-Investitionen nicht durch dezentrale Anlagen zu gefährden, damit »eine zügige Bearbeitung (z.B. Planfeststellungsverfahren für neue Stromtrassen) sichergestellt werden« kann (46/2115). Hier hat sich die SPD-Zielvorstellung durchgesetzt: »Wir werden uns für eine deutsche Netzgesellschaft auf der Übertragungsebene mit bestimmendem Einfluss der öffentlichen Hand einsetzen.« (54/2500) Umgekehrt dient die Ertüchtigung der Netze sicherlich auch den mittelgroßen Produktionsverbünden, die in kommunalen Besitz entstanden sind (Trianel, Steag usw.). Die angestrebte Stärkung von Kraft-Wärme-Kopplung ist zu begrüßen.

Bemerkenswerter Ansatzpunkt für DIE LINKE ist, dass die Landesregierung »Energiearmut« vermeiden will (vgl. 52), was sich jedoch nicht auf soziale Tarifsysteme, sondern auf Modellprojekte zur Verbraucherberatung beziehen soll. Sogenannte unkonventionelle Gasgewinnung durch Fracking bleibt verboten (vgl. 61) und für die private Erschließung von Kohlabbau gibt es kein öffentliches Geld (vgl. 55).

Vieles greift gewerkschaftliche Formulierungen zur »guten Arbeit« auf. Es bleibt zu beobachten, wie viel von der »Vorbildfunktion« der öffentlichen Hand ihren Niederschlag im Alltag der Behörden und der öffentlichen Betriebe finden wird. Das interessanteste zum Thema Arbeit ist einerseits, dass man sich nur auf eine gewisse Begrenzung der Sonn- und Feiertagsarbeit im Einzelhandel verständigen konnte. Andererseits gibt es detaillierte Ausführungen zu »dauerhafter Beschäftigung in einem öffentlich geschaffenen Sektor«. Zielgruppen sollen sein: »Menschen mit Migrationsgeschichte, Alleinerziehende sowie Berufsrückkehrerinnen und -rückkehrer, ältere Menschen, Menschen mit Behinderung sowie junge Menschen ohne Schulabschluss«. Zu ihrer Unterstützung »werden wir die Arbeitsmarktaktivitäten der Grundsicherungsträger mit Landesfördermitteln ergänzen und Mittel aus dem europäischen Sozialfonds einsetzen«. (105/4850)

Kernpunkt ist immer noch das »Fördern durch Fordern«, das »finanzierbar ist, wenn passive Transferleistungen in aktive und individuell angepasste Förderwege umgewandelt werden. Arbeitgeber im privat-gewerblichen Bereich, Sozialbetriebe, die freie Wohlfahrtspflege, Integrationsunternehmen, Kommunale Spitzenverbände und Behörden, Verbände, Gewerkschaften und Kammern sind Partner bei der Integration von Menschen durch öffentlich-geförderte Arbeit. Es erfolgt keine Beschränkung auf gemeinnützige und zusätzliche Beschäftigungsfelder.« (106/4882) Diese Konzepte werden intensiv zu prüfen sein, bieten sie doch einerseits Angriffsflächen wegen der Subventionierung von Privatunternehmen und dem Abbau regulärer Beschäftigung bzw. von Arbeitsplätzen in Werkstätten für Menschen mit Behinderung, andererseits auch positive Ansätze zur Stadtentwicklung.


Landespolitik in der europäischen Finanzkrise

Aber der Kern der Landespolitik dreht sich um die Finanzen. Der Gedanke von Johannes Rau, dass die Schulden von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von Übermorgen sind, zählt für die Regierung Kraft-Löhrmann nicht mehr. Man akzeptiert die These, dass die Finanznot strukturell und vor allem politisch herbeigeführt sei – im wesentlichen durch die Verletzung des Konnexitätsprinzips (»Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen«). »Mit einem Gesamtvolumen von 40 Mrd. Euro sind die Kommunen inzwischen neben den Sozialversicherungen der zweite große Sozialleistungsträger in Deutschland.« (142/6587) Zwar liest man pauschale Formeln, aber eine Aufdeckung der Handlungsbedingungen der europäischen Finanzkrise findet sich in dem Text nicht.

Dem Lande fehlen wegen der Überwälzung der Soziallasten und anderer Aufgaben etwa fünf Mrd. Euro. Daher fordert man (wieder Bundestagswahlprogramm in Vorbereitung): »Die Beteiligung des Bundes an der Finanzierung der Sozialtransferleistungen ist Grundvoraussetzung für die nachhaltige Gesundung der Kommunalfinanzen in NRW« und damit die mindestens auf 50% angelegte schrittweise Übernahme der Grundsicherung im Alter, Beteiligung an der Eingliederungshilfe und an den Kosten der Unterkunft. (vgl. 142/6593-6605)

Solange das nicht geschieht – so die verquere Logik der Koalition – »darf Haushaltspolitik das Schuldenmachen nicht von einem auf den anderen verschieben«. Deshalb kommt man zu der offensiven Begründung der Festschreibung einer Schuldenbremse in der Landesverfassung: »Die Schuldenbremse verpflichtet auch den Bund zu einer angemessenen Finanzierung der auf die Kommunen und Länder übertragenen Aufgaben.« (180/8230) – wo auch immer das stehen mag. Die entsprechenden Grundgesetzvorschriften zur auskömmlichen Finanzausstattung der Kommunen (Art. 28 GG) und zur Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen werden schon seit Jahren verletzt.

Vorsorglich kündigt der Koalitionsvertrag »strukturelle Veränderungen in allen Bereichen und Ressorts auf der Ausgabenseite« an. (180/8214)

  • Diese Aufgabenkritik soll durch das Prinzip der Vorbeugung die Rendite von morgen erwirtschaften.

  • Man fordert a) die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer (142/6607) und b) die »Ausgabe gemeinsamer Anleihen des Bundes und der Länder, um die erdrückenden Zinszahlungen deutlich reduzieren zu können« (181/8253), wofür es Zustimmung von den Piraten geben könnte.

  • Bei den Piraten wird ebenfalls auf Wohlwollen treffen, dass die Kosten- und Leistungsrechnung mit Benchmarking, Controlling und dem anderen betriebswirtschaftlichen Werkzeug eingeführt werden soll.

  • Alle Förderprogramme sollen nach Möglichkeit auf revolvierende Darlehensvergabe umgestellt werden, wobei der landeseigenen NRW.Bank eine tragende Rolle zugedacht ist. »Die Refinanzierungsmöglichkeiten der Bank sollen genutzt werden, um … bisher bereitgestellte Haushaltsmittel zu ersetzen.« (186/8464) Im Rahmen der sozialen Wohnraumförderung läuft dies natürlich auf eine weitere Vertiefung der Segregation zwischen den Stadtteilen und eine Fortschreibung des Mangels an bezahlbaren Wohnungen in den Rheinmetropolen hinaus, während in den Problemstädten mit schrumpfender Bevölkerung der Verfall wenig rentierlicher Objekte nicht gestoppt ist.

  • Was bisher nicht ging, soll nun angefasst werden: »Bundesratsinitiativen für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine sozialgerechte Reform der Einkommenssteuer mit einer Anhebung des Spitzensteuersatzes« (198/8313) sowie die Reform des Erbschaftssteuer und des Grundsteuerrechts.

  • Die pauschale Aussage, bis zum Ende der Legislaturperiode (2017) eine Mrd. Euro Ausgaben gestrichen zu haben, steht nicht im Vertrag. Sie reduziert das strukturelle Defizit gerade mal um 20%. Weder wird geklärt, wo dies geschehen soll, noch wie der Haushalt danach schuldenfrei gemacht werden kann. Von nachhaltiger Haushaltspolitik kann darum keine Rede sein. Die Kraft-Löhrmann-Regierung kündigt vage an, die internen Verwaltungsstrukturen zu durchleuchten. Doch wenn die dort wahrgenommenen Aufgaben der Selbstorganisation (Beschaffung, Personalverwaltung usw.) zentralisiert bzw. auf nachgeordnete Behörden übertragen werden, muss dies zwangsläufig zu Arbeitsverdichtung, erhöhten Krankenständen, Verringerung der Dienstleistungsqualität und Verfügbarkeit usw. führen.

  • Das Sozialticket bleibt – ein später Erfolg des LINKEN-Wahlkampfes? Alles andere bei der ÖPNV-Finanzierung richtet sich – wie so oft 0150 an den Bund.


Unter dem Strich: Vage landespolitische Perspektiven

De facto bleibt vieles im Koalitionsvertrag reine Symbolpolitik, solange man keinen Zugriff auf die bundespolitische Ebene hat. Stattdessen setzen sich wieder die neoliberalen Ideen der Grünen durch, mit Modellprojekten den einheitlichen Sozialstaat aufzulockern, die Effizienzsteigerung vor die Einnahmeverbesserung zu setzen und Ausgaben zu vermeiden. Die Forderung der LINKEN im Wahlkampf nach einer gebührenfreien Kita für alle (es bestehen von Stadt zu Stadt erhebliche Unterschiede), war als Forderung der Sozialdemokraten wahrgenommen worden. Im Koalitionsvertrag steht zwar die Freistellung weiterer Kita-Jahre, da aber über Zeithorizonte nichts ausgesagt wird, regiert die normative Kraft des Faktischen: »Es ist kein Geld da, wir haben keine Alternative.«

Die in Aussicht gestellte »Präventionsrendite« (Vorbeugen ist billiger als Reparieren) entpuppt sich wie die Ausbildungsstellengarantie als eine politische Inanspruchnahme demografischer Entwicklung: Seit 2008 sinken die Schülerzahlen, sodass sich die Ausbildungsmärkte entspannen, während es an den Universitäten zunehmend rauher hergeht: Verkürzung der Schulzeit, exzessive Konkurrenz um Bundes-Exellenz-Mittel, fehlende Kompensation der wegfallenden Studiengebühreinnahmen usw. finden im Koalitionsvertrag keine befriedigend quantifizierten Antworten.

Einige Duftmarken für die Multiplikatoren im Bildungsbürgertum sind natürlich auch vorhanden (was man schon mit der LINKEN hätte haben können): Zulassung aller über 16 Jahren zur Landtagswahl, Vereinfachung von Bürgerbegehren, Ausweitung des Wahlrechts für ausländische BürgerInnen. Und vor allem sehr detaillierte Ausführungen zu Präventionsketten und andere Sozialarbeit. Die Bildungspolitik nimmt breiten Raum ein, um zu verdeutlichen, dass der Bruch mit den Wahlversprechen eines längeren gemeinsamen Lernens zugunsten eines verfassungsmäßig verankerten »Schulfriedens« mit der CDU an den guten Vorsätzen nichts geändert hat.

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