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Den Krieg verlernen
Zum Vermächtnis einer Pazifistin | Eine Flugschrift
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ISBN 978-3-96488-211-0

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Zeitenwenden?
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Der Krieg und die Linken
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Heiner Dribbusch
STREIK
Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
ISBN 978-3-96488-121-2

29. September 2016 Otto König / Richard Detje: Das Märchen von der »Streikrepublik Deutschland«

Streikbilanz

Am Wochenende 30.9.-2.10.2016 findet in Frankfurt a.M. unter dem Titel Gemeinsam gewinnen! die dritte Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung der Reihe »Erneuerung durch Streik« statt. Otto König und Richard Detje nehmen dies zum Anlass, die Streikbilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) vorzustellen.

Das Streikrecht steht unter Beschuss. In immer mehr Ländern häufen sich die Fälle, in denen Streiks ausgehebelt, mit Sanktionen belegt oder verboten werden. Eine weltweite Erhebung der Friedrich Ebert Stiftung weist »einen eindeutigen Trend hin zu zunehmenden Verstößen gegen das Streikrecht« nach.[1] Dabei geht es nirgendwo um ein generelles Streikverbot – die Methoden sind subtiler, aber nicht minder wirksam.

Da werden ganze Arbeitnehmergruppen beispielsweise in »strategischen Einrichtungen der Daseinsvorsorge« ausgeschlossen – auch in EU-Mitgliedstaaten wie Italien, Estland und Deutschland; da werden bürokratische Verfahrenshürden aufgebaut, die zumindest temporär wie Streikverbote wirken, und es werden Behörden ermächtigt, Streiks auszusetzen oder für rechtswidrig zu erklären – nicht nur in der Türkei, sondern auch in Spanien; und da werden Sanktionen gegen Streikende bzw. deren Gewerkschaft verhängt, wodurch die Ausübung des Streikrechts existenzbedrohenden Charakter annahmen kann.

Auch hierzulande wurde die Gefährdung der Republik beschworen, als kleine Spartengewerkschaften den Bahn- und Flugverkehr tageweise lahmlegten – flugs war von Streikverboten in »strategischen« Wirtschaftsbereichen die Rede. Nachdem im vergangenen Jahr auch noch die ErzieherInnen für die überfällige Reform ihrer Eingruppierung und Bezahlung die Arbeit niederlegten, wurde nicht nur von den Arbeitgebern das Gespenst »Streikrepublik Deutschland« an die Wand gemalt.

2015 war ein »intensives Streikjahr«, stellt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung in ihrer Arbeitskampfbilanz fest.[2] Das Arbeitskampfvolumen ist auf rund zwei Millionen Streiktage angestiegen, was ein Plus von 1,6 Mio. Streiktagen gegenüber dem Vorjahr bedeutete (siehe Abb. 1). Diese Steigerung beruhte im Wesentlichen auf zwei großen Auseinandersetzungen. Allein rund 1,5 Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie auf den Streik bei der Post. Hinzu kam zu Beginn des letzten Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie mit rund 885.000 Beschäftigten.

Auch wenn das Volumen der Streiktage auf Grund der genannten Gründen außergewöhnlich war, sind für den WSI-Experten Heiner Dribbusch »eine Million und mehr Streikbeteiligte keine Seltenheit«. Und erst Recht kein Grund, die Wahrnehmung eines Grundrechts zu einem Angriff auf die Republik umzudeuten und durch die gesetzliche Regelung der »Tarifeinheit« Arbeitskämpfe minoritärer Interessengruppen wieder einhegen zu wollen.

Quelle: WSI

Hinzu kommt, dass das Volumen der Streiktage in Deutschland im internationalen Vergleich nach wie vor gering ist, wie das WSI aufzeigt. Die Bundesrepublik gehört in sämtlichen Vergleichen sowohl der EU- als auch der OECD-Mitgliedsländer zu den streikarmen bzw. »wirtschaftsfriedlichen« Ländern. Nach Schätzungen des WSI fielen hierzulande zwischen 2005 und 2014 im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 15 Arbeitstage aus. In Frankreich kamen auf 1.000 Beschäftigte hingegen im Jahresmittel 132 Arbeitskampftage, in Dänemark 124, in Finnland 71, in Spanien 63 und in Irland 28. Ein deutlich niedrigeres Streikvolumen findet sich nur in Österreich, Polen und der Schweiz.

Nach dem »Streikjahr 2015« zeichnet sich nach den ersten sechs Monaten in 2016 ein deutlich geringeres Arbeitskampfvolumen ab. Laut WSI waren bisher rund 405.000 streikbedingte Ausfalltage zu verzeichnen. Das Arbeitskampfgeschehen im ersten Halbjahr wurde insbesondere durch Warnstreikaktionen dominiert. Im öffentlichen Dienst und bei der Telekom legten über 200.000 Beschäftigte verhandlungsbegleitend die Arbeit nieder. In mehreren tausend Betrieben der Metall- und Elektroindustrie machten rund 800.000 Beschäftigte zwischen März und Mitte Mai von ihrem Recht auf Warnstreik Gebrauch. [3]

Für das WSI liegt der Unterschied zu 2015 darin begründet, dass es 2016 bisher keine großen, über Wochen andauernden Arbeitsniederlegungen gegeben hat. Daraus resultuiert die niedrigere Zahl von Ausfalltagen, obwohl sich ähnlich viele Beschäftigte an Warnstreiks beteiligt haben. Das gewerkschaftsnahe Institut rechnet im weiteren Jahresverlauf nicht mit einer Trendwende.

Da Flächenstreiks in der Industrie seit 2003 ausblieben, lässt sich in den vergangenen zehn Jahren der weit überwiegende Teil der Streiktage dem Dienstleistungsbereich zuordnen. Dies zeigte sich auch im letzten Jahr. 2015 entfielen zirka 81% aller Streikenden auf die Industrie (inklusive Bau). Umgekehrt sah es bei den arbeitskampfbedingten Ausfalltagen aus: 90% der Streiktage fanden im Dienstleistungsbereich statt. Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die vier Konflikte bei der Post, der deutschen Bahn, im Sozial- und Erziehungsdienst sowie die Streiks bei der Lufthansa.

Dass vermehrt Arbeitskämpfe stattfinden, weil nicht nur DGB-Gewerkschaften, sondern auch Berufsgewerkschaften Kollektivverhandlungen führen, hat schon Reinhard Bispinck zurechtgerückt. Für die Jahre 2006-2014 weist die »Streikstatistik ... rund 46 Tarifkonflikte mit Streikaktionen der Berufsgewerkschaften aus. Im direkten Vergleich mit den DGB-Gewerkschaften relativiert sich diese Zahl. Allein die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) führte im selben Zeitraum 140 Streikaktionen aus, und bei ver.di waren es 800 Tarifkonflikte mit Streikaktionen. Diese Zahlen zeigen, dass die Berufsgewerkschaften nicht an der Spitze der Bewegung stehen.«[4]

Die Ausweitung der Konflikte im Dienstleistungssektor ist nachweislich auf die zunehmenden Angriffe der Geschäftsleitungen ehemals staatlicher Unternehmen auf tarifliche Standards zurückzuführen. So hat bei der Deutschen Post der Vorstand den Konflikt mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di durch die Ausgliederung des Paketdienstes provoziert, was darauf zielte, ZustellerInnen zukünftig schlechter bezahlen zu können. Für das WSI ist das Vorgehen des Postkonzerns ein Beispiel dafür, wie Unternehmen einheitliche Tarifstrukturen aufbrechen und die Tarifeinheit zerstören.

Im Bahn-Konflikt war es ein Grundsatzstreit zwischen Management und Lokführer-Gewerkschaft um die Tarifzuständigkeit, der Dauer und Eskalation des Konflikts bestimmte. Dagegen wollte ver.di im Sozial- und Erziehungsbereich eine generelle Aufwertung des Berufs-feldes erreichen. ErzieherInnen in Kitas und Sozialarbeiter führten keinen Abwehrkampf, im Gegenteil: Sie verlangten eine Höherbewertung ihrer Berufe, was in der Öffentlichkeit auf Verständnis stieß.

Der Streik ist die zugespitzte Form der aktiven Anwendung gewerkschaftlicher Machtressourcen. Doch vielfach geht es nicht in erster Linie um Streikfähigkeit, »sondern darum, die Voraussetzungen herzustellen, um überhaupt noch wirkungsvoll und kollektiv Interessen von Belegschaften und Lohnabhängigen vertreten zu können« (Klaus Dörre). Gewerkschaftliche Erneuerung bedeutet in vielen Betrieben und Branchen, Konfliktfähigkeit überhaupt erst wieder herzustellen, damit ArbeitnehmerInnen den Mut fassen, wieder für ihre Ansprüche zu kämpfen.

Das WSI registrierte für das Jahr 2015 jenseits der großen Branchentarifrunden zahlreiche Konflikte im Zusammenhang mit der Durchsetzung, Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Tarifbindung. Dazu zählt der seit Frühjahr 2013 anhaltende Konflikt mit dem US-amerikanischen Online-Versandhändler Amazon, der sich weiterhin hartnäckig weigert, überhaupt mit ver.di in Tarifverhandlungen einzutreten. Infolgedessen fanden auch im ersten Halbjahr 2016 wiederholte Arbeitsniederlegungen an mehreren Logistik-Standorten des Konzerns statt.

»Das Ausgliedern von Geschäftsbereichen, die Gründung von Tochtergesellschaften, Haustarife und Tarifflucht tragen wesentlich dazu bei, dass die Tariflandschaft immer mehr zersplittert und die Zahl der Arbeitskämpfe zunimmt«, so Reinhard Bispinck vom WSI. In der Metall- und Elektroindustrie nahm ab Mitte der 1990er Jahre die Zahl der tarifgebundenen Betriebe kontinuierlich ab. Galten 1998 Tarifverträge noch für 76% der Beschäftigten in Westdeutschland und 63% in Ostdeutschland, lag die Tarifbindung 2012 nur noch bei 60% im Westen und 48% im Osten. Heute deckt der Flächentarifvertrag im Durchschnitt weniger als die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten (47,8%) ab.

Gewerkschaftspolitisch ist der Verfall der Tarifbindung quer durch alle Branchen ein Existenzproblem, das durch eine fortschreitende Fragmentierung der Belegschaften noch verstärkt wird. Für die IG Metall war dies ein maßgeblicher Grund dafür, dass sie in der Tarifrunde 2016 damit begann, in nicht-tarifgebundenen Betrieben für die Beendigung des tariflosen Zustands zu mobilisieren. Im Focus dieser auf mehrere Jahre angelegten Kampagne stehen nicht nur Klein- und Mittelbetriebe, die sich durch eine besonders niedrige Tarifbindung auszeichnen, sondern auch Betriebe im Kern und am Rande der zentralen Wertschöpfungsketten. So konnten in den letzten Wochen vor allem in Betrieben der industriellen Kontraktlogistik durch den Abschluss von Haustarifverträgen Erfolge erzielt werden. Auch dies spricht dafür, dass in Belegschaften eine stärkere Konfliktbereitschaft wächst.

Die Stärkung von Organisations- und institutioneller Macht sind zwei Ressourcen gewerkschaftlicher Widerstands- und Durchsetzungskraft im Rahmen eines desorganisierten Kapitalismus. Streiks, d.h. die kollektive Verweigerung der Arbeitskraft, sind das unabdingbare Korrelat der Tarifautonomie. Nur so kann verhindert werden, dass gewerkschaftliche Tarifverhandlungen nicht zum »kollektiven Betteln« verkommen. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Verteidigung des grundgesetzlich geschützten Streikrechts.

[1] Edlira Xhafa: Verschwindet das Streikrecht? Eine weltweite Erhebung zu neuen Trends, FES briefing, Mai 2016.
[2] Vgl. Arbeitskampfbilanz 2015 »Ein außergewöhnliches Streikjahr, Pressemitteilung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung vom 3.3.2016.
[3] Vgl. Arbeitskampf-Zwischenbilanz 1. Halbjahr 2016: Arbeitskämpfe: Deutlicher Rückgang der Ausfalltage, aber weiter hohe Streikbeteiligung, Pressemitteilung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung vom 16.6.2016
[4] Reinhard Bispinck: Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik, auf www.gegenblende.de (11.5.2015).

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