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16. Juli 2016 Redaktion Sozialismus

Türkei: gescheiterter Militärputsch auf dem Weg zu einem autoritären Präsidialregime

Der Putschversuch von Teilen des Militärs gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei ist gescheitert. Tausende TürkInnen folgten dem Aufruf des Präsidenten und demonstrierten ihre Unterstützung für die Regierung. Die türkische Armee sieht sich als Wächterin der weltlichen Verfassung des Landes und hat seit 1960 drei Mal gegen die Zivilregierung geputscht – und sich mehrfach in die Machtverteilung eingemischt.

Die Armeespitze erklärte dieses Mal, sie habe sich von Anfang an gegen den Putsch gestellt. Für die Regierung war die Erhebung von Teilen des Militärs keine wirkliche Herausforderung, sie hatte binnen eines Tages die Lage wieder unter Kontrolle.

Präsident Erdoğan beschuldigte seinen in den Vereinigten Staaten lebenden Widersacher, Fethullah Gülen, hinter dem Aufstand zu stehen. Gülens Bewegung bestreitet jede Beteiligung. Die politische Führung der Türkei hat offenbar vor, den gewonnenen Machtkampf mit den Putschisten zu nutzen, um mit aller Härte gegen die Gülen-Bewegung vorzugehen. Gülens Hizmet-Bewegung hat über ihre weltweit verbreiteten Schulen ein einflussreiches Netzwerk aufgebaut, das von der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) als Schattenorganisation gebrandmarkt wird.

Gegen Gülen, der sich 1999 nach Amerika absetzte, prozessierte der türkische Staat seit Januar 2015 in Abwesenheit. Die Justiz beschuldigte den prominenten Prediger und Dutzende von Mitangeklagten, staatliche Institutionen unterwandert, eine bewaffnete Terrororganisation gegründet und einen Umsturz im Schilde geführt zu haben.


Türkische Gesellschaft gespalten

Die Eskalation des Krieges in den kurdischen, südöstlichen Teilen der Türkischen Republik, die Bombenanschläge im Inland und die Zuspitzung der militärischen Auseinandersetzungen im Bürgerkrieg in Syrien haben das innenpolitisch Klima erheblich verschärft und zur Verunsicherung der türkischen Wirtschaft geführt, vor allem was das Investitionsklima und den Tourismus angeht.

Die Chance, dass in der Türkei weitere Wirtschaftsreformen umgesetzt werden, hatte sich nach dem Rücktritt von Premierminister Ahmed Davutoğlu verschlechtert. Dieser war Mitglied eines Kreises von Reformern innerhalb der Regierungspartei AKP, zu dem auch Finanzminister Naci Ağbal und der stellvertretende Premierminister Mehmet Şimşek gehören.

Zu den angestrebten Reformen gehören eine Erneuerung des türkischen Arbeitsmarktes, des Rentensystems sowie des Kapitalmarktes. Die Kapitalmarktreform sollte es heimischen Unternehmen erleichtern, über die Weiterentwicklung des Anleihe- und Aktienmarktes an Investitionskapital zu gelangen. Die Pläne von Präsident Erdoğan zielten dagegen darauf ab, über eine Verfassungsreform die Macht der Präsidenten auszubauen.

Im Jahr 2023 wird die Türkei hundert Jahre alt, und es ist ein offenes Geheimnis, dass Erdoğan auch dann noch das Land führen will. Sein Wahlsieg bei der Präsidentschaftswahl und die Parlamentswahlen waren Schritte zu einer Präsidialverfassung. Er sieht sich als Anführer einer »neuen starken wachsenden Türkei«, die durch das Korsett des parlamentarischen Systems nur eingeengt wird.

Die politischen Manöver der AKP zeigten, dass die türkische Regierung den Fokus auf eine konstitutionelle Reform legt. Bislang wurde die Mischung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik kombiniert mit einer neo-osmanischen Außenpolitik, die immer wieder an den aggressiven Machtgestus der Sultanzeit erinnerte, von der großen Mehrheit der AKP-Wähler akzeptiert. Aber der Bürgerkrieg gegen die Kurden, die Proteste im Gezi-Park und nach dem Grubenunglück in Soma, ebenso wie die AKP-Korruptionsskandale, haben die gesellschaftlichen Konfliktlinien im Land verhärtet.

Wirtschaftsbeobachter befürchten, dass der Modernisierungsprozess in der Türkei unterbrochen wird. Die Vernachlässigung wichtiger Wirtschaftsreformen – wie die niedrige Sparquote der Türkei, der hochgradig unproduktive Agrarsektor, die massiven Defizite im Ausbildungssystem und dem Arbeitsmarkt sowie die zögerlichen ausländischen Investitionen – werde die Republik zurückwerfen.

3,5% Wachstum erwartet die Weltbank für dieses Jahr. Die türkische Wirtschaft hat auch 2015 eine entsprechende Wirtschaftsleistung realisieren können. Ein Wirtschaftswachstum von 4% erscheint im internationalen Vergleich als ein gutes Ergebnis. Für das Schwellenland Türkei reicht es jedoch nicht aus, um eine Arbeitslosenquote von 10,3% zu reduzieren und die langfristigen Entwicklungsziele der Regierung zu realisieren.

Nach den bisher nicht korrigierten Projektionen der Wirtschaftsplaner in Ankara will das Land bis zum hundertjährigen Republikjubiläum 2023 ein BIP von 2.000 Mrd. US-Dollar erwirtschaften, was einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 25.000 US-Dollar entsprechen würde. Die Exporte sollen von 144 Mrd. US-Dollar im Jahr 2015 auf 500 Mrd. US-Dollar steigen. Ziel ist es, die Türkei bis 2023 zu eine der zehntgrößten Volkswirtschaften der Welt zu entwickeln.

Doch selbst bei einem jährlichen Wachstum von 7% ab 2016 dürfte das Land im Jahr 2023 nur ein BIP von 1.425 Mrd. US-Dollar und einen Exportwert von 260 Mrd. US-Dollar erreichen. Angesichts dieser Zahlen und der fortbestehenden strukturellen Wachstumshemmnisse werden von Seiten der Wirtschaft die Forderungen an die Regierung immer lauter, die Ziele für 2023 zu korrigieren und auf eine realistischere Basis zu stellen.

Das Strukturdefizit der Türkei besteht weiterhin in der hohen Abhängigkeit von importierten Rohstoffen, Energieträgern und Halbwaren. Da für die Herstellung von Exportgütern zahlreiche Vorprodukte aus dem Ausland eingeführt werden müssen, führen steigende Ausfuhren automatisch zu steigenden Einfuhren. Die Handelsbilanz wird nicht entlastet. Weitere Probleme sind die unzureichenden Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, eine ineffiziente berufliche Ausbildung sowie die niedrige inländische Sparquote.


Modernisierung der Türkei durch gemäßigten Islamismus

Recep Tayyip Erdoğan ist der zwölfte und der erste vom Volk gewählte Präsident der Türkei. Er wolle eine »neue Ära« beginnen und den »Streit der Vergangenheit« beilegen, Staatsoberhaupt aller 77 Mio. TürkInnen sein. Diese sollten gleich welcher Herkunft und welchen Glaubens gleichberechtigte BürgerInnen sein und die Konflikte der Vergangenheit der »alten Türkei« angehören.

Die Ankündigung eines Neuanfanges stieß bei der in sich sehr widersprüchlichen türkischen Opposition und auch bei ausländischen Beobachtern auf Vorbehalte. Die AKP hat in den letzten Jahren einen »moderaten Modernisierungsprozess« verfolgt und sich in der Regel über Einwände und Proteste rigoros hinweg gesetzt. Verwürfe und Ermittlungen wegen Clan-Wirtschaft und Korruption wurden mit massiven Regierungseingriffen in den Justizapparat unterbunden.

Außenpolitisch verfolgte die von der AKP dominierte politische Klasse einen Kurs der Etablierung einer Regionalmacht. Mächtige Bauprojekte wurden gegen regionale Widerstände, auch mit Einsatz repressiver Mittel, durchgesetzt. Nicht nur in Wahlkämpfen konnte von einem fairen Zugang zu den Massenmedien keine Rede sein. Vor dem Hintergrund des Auf- und Ausbaus einer Präsidialdemokratie mit dem langjährigen Ministerpräsident an der Spitze, gestützt auf ein breites Netzwerk von Clan-Abhängigkeiten, und dem erklärten Ziel, eine kapitalistische Gesellschaft mit einer islamisch geprägten Zivilgesellschaft zu etablieren, klingt die Erklärung der Respektierung von rechtsstaatlich-demokratischen Strukturen wenig überzeugend.

Kritiker der Regierungspolitik werden als Verschwörer angegriffen, die Interessen einer einzigen Partei mit jenen der ganzen Nation gleichgesetzt. Die Folge ist eine tief gespaltene Gesellschaft. Der Staat wird, wie es in der Geschichte der Türkei fast immer der Fall war, über die individuellen Rechte der BürgerInnen gestellt.

Eigentlich hat sich die AKP schon über ein Jahrzehnt der Aufgabe verschrieben, ein neues Kapitel in der Geschichte der Türkei zu schreiben. Als fortschrittlich und demokratisch gelten nicht mehr die laizistischen Kemalisten, sondern islamisch orientierte PolitikerInnen, also eine politische Elite, die ihre Wurzeln im gemäßigten Islam hat. Die AKP und ihr charismatischer Führer Erdoğan haben in den letzten Jahren unbestreitbar eine Modernisierung vorangebracht, wenngleich diese mit der Entwicklung eines »crowny capitalismus« verknüpft ist.


»Crowny Capitalismus« in der Türkei

Das Land sieht heute anders aus als vor dem Amtsantritt der AKP im März 2003. Es hat sich wirtschaftlich stark entwickelt, die Verstädterung ist unübersehbar. Die Türkei ist ein entwickelter kapitalistischer Schwellenstaat und hat in der Zivilgesellschaft eine islamisch geprägte Kultur mehrheitsfähig gemacht. Die KurdInnen haben nach einer jahrzehntelangen Politik der Verfolgung, zeitweilig einige demokratische Rechte und eigenständige wirtschaftlich-kulturelle Entwicklungspielräume erhalten.

Der Prozess der Befriedung wurde im letzten Jahr abgebrochen. Der Präsident setzt erneut auf eine militärische Lösung im Kampf gegen die PKK und auf intensiven Druck auf die kurdische Partei HDP in Ankara. Die KurdenpolitikerInnen seien Handlanger der PKK-Terroristen und gehörten vor Gericht gestellt. Im Parlament setzte die AKP deshalb die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten durch.

 

Die Modernisierung der Türkei erfolgte mit Unterstützung der kapitalistischen Hauptländer. Seit Jahrzehnten hat die Türkei eine herausgehobene Position in der kapitalistischen Welt. Die NATO-Mitgliedschaft wurde stets vor dem Hintergrund militärstrategischer Optionen eingeordnet. Aber: Die privilegierte Mitgliedschaft stellte immer auch eine große Herausforderung dar, weil die Gesellschaft auf einem langen Weg der Transformation in kapitalistische Strukturen war und zeitweilig massive Zweifel auftauchten, ob dieses Ziel überhaupt erreichbar war. Abgesehen von den vielfältigen rüstungspolitischen Vergünstigungen ist die Türkei seit Jahrzehnten ein großer Sanierungsfall für die kapitalistischen Metropolen.

Seit 2002 sind die Investitionen deutlich angestiegen, die Inflation konnte schrittweise gedrückt werden und die massive Deregulierungswelle von öffentlichen Unternehmen hat nicht zu einem steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt. Parallel zu dieser verstärkten Transformation in Richtung »normaler« kapitalistischer Strukturen wurden auch große Anstrengungen unternommen, auf dem Terrain des Rechtsstaates, der Minoritäten und der massiven regionalen Unterschiede einen »Modernisierungsprozess« durchzusetzen.

Ein Jahr nach der schweren Finanzkrise von 2001 an die Regierungsmacht gewählt, setzte die AKP das vom Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitete Reformprogramm rigoros um: Der Staatshaushalt wurde entschlackt, der Wechselkurs flexibilisiert, der Bankensektor auf solidere Grundlagen gestellt und die Unabhängigkeit der Zentralbank gestärkt. Die vom IWF lancierte neoliberale Strukturpolitik wurde von einer islamisch geprägten Partei umgesetzt.

2013 zahlte die Türkei die letzte Rate der IWF-Kredite zurück. Die Phase von 19 Beistandskrediten war zu Ende. Erstmals seit 1994 stand das Land beim IWF ohne Schulden da. Seitens der Regierung wird dies als historischer Wendepunkt gefeiert, als Beweis für die rasante ökonomische Erneuerung, die das Land vor allem in den vergangenen zehn Jahren erfahren hat. Eine wichtige Rolle spielte bei dieser Abnabelung vom IWF die Aversion von Regierungschef Erdoğan gegenüber internationalen Finanzorganisationen, zumal sich dieser seine Politik nicht gern vorschreiben lässt, schon gar nicht aus dem Ausland.

Die AKP hatte bei den Wahlen von November 2002 mit 35% der WählerInnenstimmen eine komfortable Parlamentsmehrheit gewonnen. Dies erlaubte ihr die Wahlgesetze so zu ändern, dass auch ihr Parteichef Erdoğan bei einer Nachwahl in die obere Klasse des politischen Systems aufrücken konnte. Bis dahin galt er wegen islamistischer Aktivitäten als vorbestraft und nicht wählbar. Der Prozess der Modernisierung und Zivilisierung des Islam durch die beschleunigte Entwicklung zum Kapitalismus werde gefährdet; es drohten Auseinandersetzungen mit fundamentalistischen Kräften.

Seit den Wahlen von 2002 hat die AKP die drängendsten ökonomischen Probleme der Türkei angepackt. Die Inflation bewegte sich im einstelligen Bereich, die ausländischen Direktinvestitionen erreichen neue Höchstmarken, die Finanzen sind geordnet. Als die AKP an die Macht kam, war der Staatshaushalt in einer so desolaten Verfassung, dass viele angekündigten sozialen Reformen verschoben werden mussten, bis der von Vorgängerregierungen angehäufte Schuldenberg einigermaßen reduziert war.

Die Türkei war bei der Sanierung auf das Wohlwollen der NATO-Alliierten und des IWF angewiesen. Logischerweise forderte daher ein Teil der Unternehmer die Distanzierung vom Irak und die Hinnahme einer Eintrübung des Verhältnisses zu den anderen islamischen Staaten. Die Anlehnung an die USA brachte auf jeden Fall eine Reduktion der Militärschulden, eine Fortführung des Umschuldungsprogramms und eine EU-Anbindung.

Die Wirtschaft steht heute auf einem weit tragfähigeren Fundament als zu Beginn der Regierungszeit der AKP. Seit 2002 hat das Bruttoinlandprodukt (BIP) um durchschnittlich ca. 4-5% pro Jahr zugelegt, bei einer gleichzeitigen Verdreifachung des Pro-Kopf-Einkommens auf 10.500 US-Dollar und einem beeindruckenden Aufschwung auch im anatolischen Hinterland. Ein robuster wirtschaftlicher Aufschwung – zwischen 2010 und 2013 kletterte das BIP um durchschnittlich 6% pro Jahr – hat der AKP geholfen, dreimal in Folge die Wahlen zu gewinnen.

Strukturschwache Regionen im Hinterland mutierten zu anatolischen Tigern, die Regierung machte den Energiemarkt wettbewerbsfähig, sie reformierte den Bankensektor und flexibilisierte den Wechselkurs. Inzwischen hat das türkische Wachstumswunder jedoch an Glanz verloren. 2014 erreichte das Schwellenland ein Plus des BIP von 2,9%. Im laufenden Jahr erwarten unabhängige Ökonomen eine Expansion um rund 3%, was deutlich unter dem langfristigen Potenzial liegt. Die Weltbank stellte unlängst fest, die Türkei sei am Ende des fulminanten Aufschwungs angelangt. Von Regierungsseite wird primär auf exogene Faktoren verwiesen, etwa die Kriegswirren in den wichtigen Exportländern Syrien und Irak.

Verbessert hat sich auch die Geldwertstabilität und die Finanzpolitik: So lag das Defizit des Zentralstaats zwischen 2004 und 2013 im Durchschnitt bei 2,4% des BIP, während die Schulden unter 40% des BIP rutschten. Rund 70% der Schulden sind dabei in türkischer Lira denominiert, was die Verletzlichkeit gegenüber Wechselkursschwankungen markant vermindert hat.

Das rasante Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre ging einher mit einem Leistungsbilanzdefizit, das zwischen 2010 und 2013 durchschnittlich 7,5% des BIP erreichte. Der Fehlbetrag wird hauptsächlich durch Portfolioinvestitionen finanziert, womit das Schwellenland hohen Risiken ausgesetzt ist, sollten sich die Stimmung gegenüber den Emerging Markets verdüstern und Gelder abgezogen werden. Der IWF fordert Ankara im jüngsten Länderbericht dazu auf, das strukturelle Defizit in der Handels- und Leistungsbilanz zu reduzieren. In der Tat geht in der Türkei eine längere Wachstumsperiode zu Ende.

Ausschlaggebend für den Erfolg der AKP und seinen Chef Erdoğan war vor allem der soziale und wirtschaftliche Aufstieg, der auch bei den anatolischen Mittel- und Unterklassen angekommen ist. Zugleich sind mit dem Wahlsieg der AKP die negativen Symptome der Entwicklung bestenfalls in den Hintergrund gedrängt: Das Ausmaß an Korruption und Vetternwirtschaft gehört zum System, und mit dem Wunsch nach einer neuen Ära ist die Fehlentwicklung nicht beseitigt. Die AKP ist nach 15 Jahren an der Macht mit der unzureichenden wirtschaftlichen Dynamik und den massiven Verteilungsauseinandersetzungen in eine komplizierte Phase eintreten.

Der IWF fordert aktuell von der Türkei eine straffere Haushalts- und Geldpolitik. Damit soll insbesondere die zuletzt bei rund 7,5% liegende Inflation nach unten gebracht werden, heißt es in einer von IWF-Experten vorgelegten Studie. Sie empfehlen zugleich, die Binnennachfrage zu zügeln, bis Strukturreformen Früchte tragen. Als vorrangig bezeichnen die Fachleute größere Einsparungen im Haushalt und mehr Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt. Als zentrales Risiko für das Land sehen sie eine Beschleunigung der Kapitalabflüsse.


Ende der Modernisierung?

Die alte politische Klasse wurde beherrscht von kleinen Parteien, deren Führern es in erster Linie darauf ankam, ihre eigene Position abzusichern. Schwerfällige Koalitionsregierungen aus wenig kompatiblen Partnern waren die unvermeidliche Folge. Die katastrophale Inflation, die die leistungsfähige türkische Wirtschaft jahrzehntelang beeinträchtigte, wurde ignoriert, weil es einfacher und – zumindest eine Zeitlang – weitaus lukrativer war, sich mit ihren Symptomen zu befassen, als die Krankheit zu kurieren.

Wenn diese politische Klasse stolz darauf war, die moderne Türkei zu repräsentieren, so hielt sie doch an einem Kennzeichen des Osmanischen Reiches fest: Alle Macht kam von oben. Die Masse der Bevölkerung war da, um regiert, nicht um gehört oder konsultiert zu werden. Im Grunde hatte das Volk dem allmächtigen Staat zu dienen und für ihn da zu sein, nicht umgekehrt. Unter diesen Bedingungen war es nahezu unmöglich, die tatsächlichen Probleme des Landes – Wirtschaftswachstum, Schul- und Gesundheitswesen, Arbeitslosigkeit – vernünftig anzupacken. Immer wieder kam das chaotische System ins Stocken und die Armee, die sich als oberste Hüterin der säkularen Republik versteht, schaltete sich ein, um Ordnung zu schaffen.

Die Türkei hat sich stark verändert, ohne dass die überlieferte politische Klasse es bemerkt hätte. Langsam, aber sicher zog Anatolien in die Städte ein. Rasch bildete sich eine selbstbewusste, dynamische islamische Bourgeoisie heraus. Junge Frauen fanden nichts dabei, mit Kopftuch durch die eleganten Viertel Istanbuls zu schlendern, in denen Möchtegern-Pariserinnen bislang den Ton angegeben hatten. Der politischen Klasse entging allerdings die wachsende Unzufriedenheit darüber, dass sich niemand um die wahren Probleme des Landes kümmerte.

Die hartnäckige Teuerung schmälert derweil die Wettbewerbsfähigkeit und den Anreiz, zu sparen. Mit einer Sparquote von rund 15% liegt die Türkei weit niedriger als andere Schwellenländer (China: 45%). Angesichts der geringen Ersparnisse im Inland müssen Investitionen durch Kapitalzuflüsse aus dem Ausland finanziert werden. Eine höhere Sparquote wäre daher ein wirksames Mittel, um den Fehlbetrag in der Leistungsbilanz zu reduzieren.

Erdoğans ambitioniertes Entwicklungsziel, bis 2023 ein BIP von 2000 Mrd. US-Dollar zu erarbeiten, würde ein jährliches Wachstum von 7% voraussetzen, was derzeit als wenig realistisch erscheint. Wolle sich die Türkei aus der »Middle Income Trap« befreien, brauchte es Rechtssicherheit, transparente Regulierung der Märkte und mehr Innovation, warnte unlängst die Weltbank. Die OECD legte Ankara in ihrem Wachstumsbericht ans Herz, unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen und Ältere stärker in den Arbeitsmarkt einzubinden. Arbeitgeber würden jedoch durch einen im internationalen Vergleich hohen Mindestlohn abgeschreckt. Saftige Lohnnebenkosten selbst für Teilzeitbeschäftigte und ein rigider Kündigungsschutz führten dazu, dass viele nur in der Schattenwirtschaft eine Beschäftigung finden. Die neoliberalen Beratungsinstitutionen fordern daher eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes.

Galt Erdoğan nach der Jahrtausendwende als Garant für eine marktorientierte Politik, die von glaubwürdigen Reformern wie dem Vizeministerpräsidenten Ali Babacan vorangetrieben wurde, hat sich in letzter Zeit eine von Autokratismus beherrschte Stimmung breit gemacht. Zudem schaltet sich der Patriarch unentwegt in Entscheidungen ein, die nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fallen.

Irritierend mutet auch der Feldzug gegen Mitglieder der Gülen-Bewegung an. Staatsanwälte begannen mit Korruptionsermittlungen gegen PolitikerInnen und Geschäftsleute, die Erdoğan nahestehen. Die Angeschuldigten sahen dahinter einen Umsturzversuch aus dem Umfeld des Predigers Gülen. Den Zorn Erdoğan s bekam die Bank Asya, die dem in die USA geflüchteten Kleriker nahesteht, zu spüren. Das Finanzinstitut, das nach den Regeln des Islamic Banking Geschäfte macht, wurde wegen angeblicher Verfehlungen vom Staat einverleibt. An allen Fronten wittert die Regierung Unterwanderungsversuche der »Gülenisten«. Protestiert die Zivilgesellschaft, beschuldigt Erdoğan ausländische Mächte, Drahtzieher zu sein.

Ein Wechsel zu einer Präsidialrepublik, zugeschnitten auf den resoluten »Firmenchef« Erdoğan, würde kein neues Wachstumswunder bewirken. Allerdings ist die weitere Machtverteilung offen und damit die Ausgestaltung des Modernisierungskurses. Die AKP-Regierung hatte den Ausbau der Infrastruktur zu einem der Schwerpunkte ihrer Wirtschaftspolitik gemacht. In Istanbul entsteht bis zum Jahr 2017 ein dritter Flughafen, der mit einem geplanten Passagieraufkommen von jährlich 150 Mio. zum größten der Welt werden soll. Der Bosporus, die Meerenge, die Europa und Asien trennt, wird mit einem dreistöckigen Eisen- und Autobahntunnel verbunden. Überirdisch lässt die Regierung eine dritte Brücke errichten, die beide Kontinente verbindet. Zudem wird mit dem sogenannten Kanal Istanbul eine Alternative für die Handelsschifffahrt gebaut, die heute über den stark frequentierten Bosporus vom Mittelmeer ins Schwarze Meer gelangt.

Der konfrontative Kurs des Präsidenten gegen den Westen, der Versuch einer Zensur des Internets, die Politisierung der Justiz, die Inhaftierung regierungskritischer Journalisten und die Verhängung milliardenschwerer Bußen gegen Medienhäuser, sind ungeeignet, den Rechtsstaat und die demokratische Zivilgesellschaft zu stärken. Die formell unabhängige Zentralbank geriet ins Visier präsidialer Kritik. Mit wirren Argumenten – etwa der Überzeugung, die hohe Inflation sei eine Folge zu hoher Zinsen, oder der fixen Idee, die Türkei werde von einer zwielichtigen Zins-Lobby bedroht – fordert Erdoğan die Währungshüter zu Zinssenkungen auf. Das Vertrauen der Konsumenten bewegt sich auf dem tiefsten Niveau seit fünf Jahren, während die Arbeitslosenquote mit 11% nahe einem Fünf-Jahre-Hoch liegt.

Der nachlassende Modernisierungsimpuls kann nicht allein auf Schwächen in der türkischen Wirtschaft zurückgeführt werden. Die Kriege in den Nachbarländern Syrien und dem Irak, aber auch die anhaltend schwache Nachfrage der EU, wohin fast die Hälfte der türkischen Exporte fließt, sorgen seit Jahren für ein angespanntes Umfeld. Dennoch, die Wirtschaftsprobleme sind zu einem gewichtigen Teil hausgemacht und sind politischer Natur. Damit geht ein Imageschaden einher, der für die Türkei deshalb besonders riskant ist, weil das Land zur Finanzierung seines chronischen Leistungsbilanzdefizits auf den steten Zustrom ausländischen Kapitals angewiesen ist. Dem Land bringen seine großen Prestigeprojekte kaum etwas, gefordert sind sozial orientierte Strukturreformen.


Ausblick

Nicht nur Erdoğans eingeschworene AnhängerInnen, auch seine GegnerInnen haben den Staatsstreich abgelehnt. Der gescheiterte Putsch könnte einen Versuch eines demokratischen Neustarts einleiten. Doch dies wird bloßes Wunschdenken bleiben. Die Putschisten sind an den BürgerInnen und der Armee gescheitert. Dieser Sieg wird neben einer Abrechnung- und Säuberung zugleich einen Ausbau von Erdoğans Machtansprüchen bringen.

Einer der wesentlichen Erfolge der AKP ist die Entmachtung der Armee, ihre weitgehende Kontrolle durch gewählte zivile Institutionen. Für Erdoğan, den autoritär regierenden Staatschef, ist der schnell gescheiterte Putsch eine politische Steilvorlage. Einen demokratischen Neubeginn im Land, einen Reset, der die Trennung der Staatsgewalten in der Praxis wiederherstellt, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit wieder garantiert, werden die Tage und Wochen nach dem Putsch nicht bringen. Der gescheiterte Putsch vom 15. Juli ist so etwas wie ein Freifahrschein für die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei, für ein erfolgreiches Referendum zur Verfassungsänderung, für die endgültige Gleichschaltung von Justiz und Medien.

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