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21. Februar 2012 Christoph Lieber: Von Wulff zu Gauck – Dramaturgie einer Zäsur

Über die »postdemokratische« Inthronisation eines Bundespräsidenten

In trauter Gemeinschaft mit Wullfs Amigos Carsten Maschmeyer und Veronica Ferres.

Über Wochen zog sich die Causa Wulff hin, als wirkmächtiges mediales »Politainment«. Insbesondere die Printmedien bedienten in diesem Falle die ganze Palette von Recherche über Information und Aufklärung bis zu Unterhaltung und der Bestärkung von Vorurteilen. Dazu kamen eine Pressekonferenz, ein denkwürdiges Fernseh-Interview und diverse Talkrunden mit den üblichen Verdächtigen sowie ein unerwarteter Shooting Star: Pfarrer Hintze.


Erster Akt

Im Unterschied zum Faktotum Glaeseker war Letzterer die Lichtgestalt, die Erklärung und Aufklärung in das Dunkel der Kette berechtigter bis unberechtigter, wahrer und halbwahrer Anschuldigungen zum Wohl und zur Verteidigung seines Präsidenten bringen wollte und doch – List der Geschichte – dem wochenlangen Gezerre die entscheidende Wende ins Strafrechtliche gab. Die »Grauzone« zwischen Politik, Wirtschaft und Privatleben im Fall Wulff erhielt eine Farbe: In grüner Tinte hatte der Ministerpräsident im Mai 2009 neben der Empfehlung seines Medienreferats, die Bürgschaftsvergabe an Filmunternehmen in Niedersachsen und damit auch an seinen befreundeten Filminvestor David Groenewold einzustellen, den Kommentar »überzogen« und »zu fundamental« niedergeschrieben.

Das Öffentlichwerden dieses Aktenvermerks veranlasste am 16.2. den ehemaligen Dezernenten für Geldwäsche und organisierte Kriminalität und heutigen Oberstaatsanwalt in Hannover, Clemens Eimterbäumer, und seine Kollegen, auf Basis einer dreizehnseitigen Begründung ein Ermittlungsverfahren gegen Wulff einzuleiten, um endlich selbst umfassende Akteneinsicht zu erhalten und seriös recherchieren zu können, und zu diesem Zwecke die Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten zu beantragen.

Diesem parlamentarischen Verfahren kam Wulff mit seiner Rücktrittserklärung am 17.2. zuvor, in der er nach wie vor von seiner »vollständigen Entlastung« ausgeht. Dennoch wird mit der in der politischen Kultur der Bundesrepublik bislang einmaligen Causa Wulff auch Deutschland von einem politischen Vorgang eingeholt, der in anderen kapitalistischen Demokratien schon seit langem zum politischen Alltag gehört. Mit Clinton, dem israelischen Staatspräsidenten Katzav oder jüngst Berlusconi standen und stehen hochrangige führende Politiker ihres Landes ebenfalls wegen Grenzüberschreitungen in den Grauzonen von Politik und Wirtschaft, Macht- und Privatperson vor Gericht.

Am Fall Wulff kann zudem klar gemacht werden, dass die Entstehung solcher »Grauzonen« systembedingt seit den 1990er Jahren mit der Durchsetzung finanzmarktkapitalistischer Strukturen und Gepflogenheiten gegen die herkömmlichen politischen Regularien des »rheinischen« Kapitalismus einhergeht. Amigo-Affären, Filz und Bereicherung gab es auch in der politischen Kultur des Fordismus. Aber Vermarktlichung, Kundenorientierung, Lobbyismus, Kommissions(un)wesen, Stiftungen, Public Private Partnership und Eventkulturen verschoben zunehmend die bis dato gültigen Grenzziehungen zwischen Politik und Wirtschaft.

Die meisten politischen Skandale seit den 1990er Jahren haben mit eben dieser Grenzverschiebung zu tun, die vornehmlich durch Finanzialisierung und Kapitalisierung ehemals klar definierter und durch »Richtlinien« geregelter politischer Felder die dabei involvierten Akteure in ihren beruflichen Funktionen mit der Möglichkeit in Berührung bringt, als Privatperson an möglichen Vermögenspositionen zu partizipieren. Mit dem Wegbrechen des meritokratischen Fundaments und einer intakten Leistungskultur entwickeln sich bei einer vermögensgetriebenen Ökonomie Formen von Maßlosigkeit, die dann – obwohl systembedingt – den Akteuren als persönliche »Gier« zugeschrieben werden – beim sozialen Aufsteiger Wulff als kleinbürgerliche Schnäppchen- und Schnorrermentalität, beim habilitierten Mathematiker »Dr. No« von der HSH Nordbank in ganz anderen Dimensionen.

Insbesondere im Mainstream der Privatisierung öffentlicher Bereiche in den 1990er und 2000er Jahren galt es für Kommunalpolitiker bis zu Ministerpräsidenten, sich als wirtschaftskompetent und wirtschaftsfreundlich zu profilieren – unter der fragwürdigen Prämisse, dass dies automatisch mit einer Förderung des Allgemeinwohls identisch wäre. Nicht anders Christian Wulff im Zuge standortsichernder Filmförderung für sein Land Niedersachsen im Jahre 2005: »Hier wünsche ich mir einen konstruktiven Dialog mit den Kreditinstituten, um diese Instrumente optimal zum Nutzen der Filmwirtschaft einzusetzen.«

Ähnliches hat sicher auch Kurt Beck zu Beginn seines Eventprojektes Nürburgring verlauten lassen. Ob im Fall Wulff die Folgewirkungen zu Anklage, Strafbefehl oder Geldzahlung führen, bleibt abzuwarten. Auch hier könnte das Ende in einem nur schwer zu durchschauenden Verfahren zwischen Privatkanzleien, Staatsanwaltschaft und Geldzahlung durch eine schon öfter finanzmarktkapitalistisch deformierte Rechtssprechung bestimmt sein. Auf alle Fälle drohte die Causa Wulff zu einer massiven Beschädigung der politischen Kultur sowie einem weiteren Ansehens- und Vertrauensverlust der politischen Klasse in der Wahlbevölkerung zu führen. Dem musste das politische Personal insgesamt, Regierungskoalition wie rot-grüne Opposition gegensteuern.

Zweiter Akt

Als Mitglied der politischen Klasse beschwor Wulff noch in seinem Abgang die bundesrepublikanische Konsensdemokratie: »Unser Land braucht einen Präsidenten, der vom Vertrauen nicht nur einer Mehrheit, sondern einer breiten Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger getragen wird.« Diese Steilvorlage griff die Kanzlerin eine halbe Stunde später zur frühzeitigen Einbindung der politischen Opposition auf: »In diesem Geiste werden die Parteien, die die Bundesregierung tragen, werden CDU und CSU und FDP sich nun beraten, und anschließend unmittelbar auf die Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen zugehen. Wir wollen Gespräche führen mit dem Ziel, in dieser Situation einen gemeinsamen Kandidaten für die Wahl des nächsten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland vorschlagen zu können.«

Damit war Rot-Grün der Wind aus den Segeln genommen, bei der nun anstehenden Kandidatenkür wie vor zwei Jahren politisch-kulturelle Eigenständigkeit und Differenz gegenüber dem Regierungslager markieren zu können. Um beim Wahlvolk nicht selbst in den Geruch zu kommen, das »Quälende« der Wulff-Debatte der letzten Wochen auf anderer Ebene zu verlängern, verpflichteten sich SPD und Grüne auf einen gemeinsamen und konsensuellen Kandidatenvorschlag. Dass ihre Wiedervorlage von 2010, Joachim Gauck, bei einem solchen Verfahren nun der 3%-Partei FDP kurzzeitig Profilierung verschaffte, musste dabei auch von der CDU und ihrer Kanzlerin hingenommen werden. Aber am 19.2. hatte Merkel das Heft wieder in der Hand und konnte so einmal mehr ihre »Teflonqualität« unter Beweis stellen.

In der Mitte einer Allparteienformation sitzend und bei vorheriger, auch von Rot-Grün tolerierter Ausgrenzung der Linkspartei – ein Rückfall dieser Parteien in Zeiten neoliberaler Einheitssaucen von Rot-Grün und Schwarz-Rot –, kann die ostdeutsche Pfarrerstocher die Ordnungssehnsucht einer Mehrheit der deutschen Wahlbevölkerung in der konservativen Lichtgestalt eines ehemaligen ostdeutschen Pfarrers, Bürgerrechtlers und Stasi-Aufklärers in einer Person bedienen und befriedigen: Joachim Gauck.

Auch wenn das »unsinnige Geschwätz« (FAZ) des SPD-Vorsitzenden von der »Staatskrise« durch die politische Dramaturgie dieses Wochenendes widerlegt scheint, sind durch diesen bislang nahezu einmaligen Vorgang einer parteipolitisch einvernehmlichen Kandidatenkür zum Staatsoberhaupt die eh schon lädierten Mechanismen der Parteiendemokratie hierzulande weiter geschwächt und in Richtung neoliberaler Postdemokratie verschoben worden. Oder im Bild der »Transformation der Demokratie« anlässlich der Großen Koalition Mitte der 1960er Jahre: »Es versteht sich: hier ist die Rede von Parteien verschiedener Richtung, aber gleichen Typus: von Ordnungsparteien, die – spinozistisch gesprochen – sich in dem Modus, nicht in der Substanz einer konservativen Politik unterscheiden.« (Johannes Agnoli 1968)

Mitten in Zeiten der Krise der politischen Repräsentanz und Demokratieentleerung wird kein Raum für öffentlichen Austausch und Abwägen unterschiedlicher Optionen gegeben, sondern in gemeinsamer Staatsräson ein Einheitskandidat gekürt, gemäß dem neoliberalen TINA-Prinzip: »There Is No Alternative«.

Phoenix aus der »republikanischen« Asche: Gauck

Mit dem Vorschlag Gauck haben CDU/FDP und SPD/Grüne ihren Beitrag zum »befremdlichen Überleben des Neoliberalismus« (Colin Crouch) hierzulande geleistet. Inmitten der Krise des Finanzmarktkapitalismus in Europa und der Verfestigung sozialer Spaltung und fortgeschrittener Prekarität trotz gegenwärtiger ökonomischer Stabilität wird auf einer symbolisch-gewichtigen, wenn auch machtpolitisch weniger bedeutsamen Ebene ein Akteur installiert, der völlig ungebrochen die neoliberalen Topoi von Eigenverantwortung, Freiheit und Verpflichtung dem eigenen Land gegenüber verkörpert, wie man sie noch aus den Endlosschleifen einer Sabine Christiansen im Ohr hat.

In den zentralen politischen Botschaften aller Bundespräsidenten seit den 1990er Jahren reflektiert sich die gegenüber anderen kapitalistischen Metropolen zeitverzögerte, aber dadurch umso beschleunigtere Durchsetzung finanzmarktkapitalistischer Strukturen und Mentalitäten in Deutschland: in der Herzogschen Ruck-Rede der Vorgriff auf das neosozialdemokratische Aktivierungsprogramm von »Fördern durch Fordern«; die ersten Anzeichen sozialer Spaltung in der sozialdemokratisch weichgespülten Metapher »Versöhnen statt spalten« des Bruder Johannes; und auch wenn Horst Köhler kurz vor Ende seiner Amtszeit von den »Monstern« der Finanzmärkte sprach, beschwor der ehemalige IWF-Direktor auf dem Arbeitgeberforum 2005 in einer seiner »großen« Reden die »Ordnung der Freiheit«, die Aktivierung entfesselter Marktkräfte und Erhardsche Zeiten – und als guter schwäbischer Protestant erbat er dafür auch noch Gottes Segen.

Und jetzt wird mit der Person Gauck zugleich ein Wertekanon präsentiert, der den Topos zu Beginn neoliberaler Gesellschafts»reformen« – Leistung muss sich wieder lohnen – nach über 20 Jahren massiver sozialer Kollateralschäden in Form eines Freiheitspathos wieder reaktivieren soll, das sich zwar in seiner Absetzung zur staatssozialistischen Vergangenheit legitimiert, aber die sozialen Verwerfungen kapitalistischer Gegenwart keineswegs einfängt. Es ist daher kein Zufall, dass der Gaucksche Wertehimmel von Freiheit und Eigenverantwortung zugleich mit den fatalen Kehrseiten eines rigoros durchdeklinierten Leistungsprinzips konnotiert ist, die sich auch in Gaucks politischem Repertoire finden: die Sarrazinsche »politische Korrektheit« gegenüber Migranten, Verächtlichmachung der Einforderung sozialer Sicherung als »Fürsorgestaat« oder die Diffamierung der kapitalismuskritischen Seiten einer Occupy-Bewegung als »unsäglich albern«; dazu kommt die Befürwortung des Afghanistan-Einsatzes.

Die BundesbürgerInnen können sich also darauf einstellen, dass mit ihrem neuen Präsidenten nicht nur zur Freude des Ex-Tagesthemenmoderators und Wertepapstes Ulrich Wickert, sondern zum Schrecken vieler alleinerziehender Hartz IV-Bezieherin wieder das Motto eines John F. Kennedy angedient werden wird: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was Du für dein Land tun kannst.« Zugleich werden mit der Person Gauck funktionierende Anerkennungsmechanismen und soziale Durchlässigkeit in einer durch ihn wieder zum Erblühen gebrachten Bürgergesellschaft beschworen.

Was unten, bei Hartz IV und anderen Formen von Prekarisierung schon lange nicht mehr funktioniert und insbesondere die Sozialdemokratie nach wie vor umtreiben sollte, funktioniert innerhalb der Eliten und den Trägern von reichlich ökonomischem, politischen und bestimmtem kulturellen Kapital: Aufstieg. Das soll nun »von oben« auf die ganze Gesellschaft ausstrahlen. Bei Christian und insbesondere Bettina Wulff funktionierte das – bis zum Zeitpunkt der falschen Freunde. Bei Gauck, dem Aufsteiger aus dem Osten, wird dieser Anschein einer guten und durchlässigen Gesellschaft länger funktionieren – er hatte bislang nach eigener Aussage die richtigen Freunde.

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