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27. August 2012 Alban Werner: Obama im grundsatzpolitischen Schlagabtausch

US-Wahlkampf wird interessanter

Der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf ist seit kurzem interessanter und, so könnte man sagen, genuin politischer geworden. Es klingt wie ein Treppenwitz: Ausgerechnet die Nominierung des fiskalpolitischen Radikal-»Falken« Paul Ryan als »running mate«, d.h. Vizepräsidentschaftskandidat an der Seite Mitt Romneys könnte wieder genuin richtungspolitische Inhalte in die Debatte tragen.

Die Rahmenbedingungen

Einerseits war der Vorwahlkampf der Republikanischen Partei (GOP) erstaunlich stark um sexuell aufgeladene Themen gekreist und hatte richtungspolitische Entscheidungsfragen schlafwandlerisch umschifft. Wenn nicht gerade der texanische Gouverneur Rick Perry damit angab, gleich drei wichtige staatliche Regulierungsbehörden zu schließen, ihm auf Nachfrage aber nur zwei einfallen wollten, dann beschäftigte das Bewerberfeld der GOP die Presse mit Ehebruchskandalen (so geschehen beim Unternehmer Herman Cain und Bill Clintons altem Gegenspieler Newt Gingrich) oder offensiver Gegnerschaft zu Verhütungsmitteln und Familienplanung (Rick Santorum).

Andererseits bewegte sich der Wahlkampf im Eiltempo auf das zu, was Jugendliche hierzulande das »Niveau-Limbo« nennen, seitdem klar war, dass der ehemalige Massachusetts-Gouverneur Mitt Romney für die Republikaner gegen Barack Obama ins Rennen um die Präsidentschaft gehen wird. Auch aus dem Lager des einstmaligen Saubermanns Obama wurde Romney für seine Biographie attackiert. Ein Werbespot aus diesem Lager bringt den ehemaligen Stahlkocher Joe Soptic zur Sprache, dessen Werk von GST Steel geschlossen wurde, einige Jahre nachdem es von einer Investorengruppe gekauft worden war, zu der auch Mitt Romneys Bostoner Investmentfonds Bain Capital gehört hatte. Allerdings stellte sich die propagandistisch relevante Behauptung der »negative ad«, Soptics Frau hätte aufgrund seiner Arbeitslosigkeit ihren Krankenversicherungsschutz verloren und sei damit ihrer Krebserkrankung ausgeliefert gewesen, als falsch heraus (vgl. Rüb 2012b).

Strukturwandel der US-amerikanischen Demokratie?

Warum ist damit zu rechnen, dass zunehmend mit solchen Mitteln gekämpft wird? Der Wahlkampf wird maßgeblich durch zwei strukturprägende Entscheidungen des Obersten Gerichtshof geprägt. Die erste betrifft das Urteil im Fall Citizens United vom Januar 2010. Darin entschied der Supreme Court mit der knappen 5 zu 4-Mehrheit von Richtern, die von republikanischen Präsidenten berufen wurden, dass Privatunternehmen und Gewerkschaften verfassungsgemäß das Recht zukomme, unbegrenzte Beträge für politische Werbespots im Vorfeld von Wahlen aufwenden zu können, die bestimmte KandidatInnen angreifen oder unterstützen. Das Ausgeben von Geld wird der freien Meinungsäußerung gleichgestellt.

Als Konsequenz des Urteils wurden alsdann insbesondere von den Unterstützern der GOP so genannte Super PACs gegründet, die mit massiven Mitteln ausgestattet den Wahlkampf republikanischer Kandidaten unterstützen. Der oberste Richter Kennedy äußerte, das Recht auf Rede (unter die Spenden an die Super PACs gefasst werden) dürfe nicht eingeschränkt werden, nur um eine gleichmäßigere finanzielle Ausstattung von KandidatInnen zu erreichen. Damit ignoriert Kennedy, dass es bei Deckelung von Kampagnenausgaben nicht alleine »angebotsseitig« um die Chancengleichheit der KandidatInnen geht (diesen Punkt betont Joshua Cohen, 2011). Es geht auch »nachfrageseitig« um die Voraussetzungen einer aufgeklärten Debatte.

Andere Länder beschränken Wahlkampfausgaben »nicht nur, um allen KandidatInnen gegenüber fair zu sein, wie beim Festlegen einer einzigen Startlinie bei einem Wettrennen. Es geht darum, die besten Voraussetzungen für die Öffentlichkeit zu schaffen, eine gut informierte Entscheidung zu treffen, wenn zur Wahl geschritten wird« (Dworkin 2011; alle englischsprachigen Zitate habe ich stillschweigend ins Deutsche übersetzt, A.W.). Weil Super PACs sich formal nicht mit den »offiziellen« Kampagnen der kandidierenden PolitikerInnen koordinieren dürfen, liegt es sofort nahe, sich auf sog. »negative campaigning« gegen die Konkurrenz zu konzentrieren – so auch geschehen im o.g. Fall von »Priorities USA Action«.

Die zweite wahlkampfprägende Entscheidung des Supreme Court bestand darin, den »Patient Protection and Affordable Care Act« von 2010, besser bekannt als »Obamacare«, nicht für verfassungswidrig zu erklären. Das ist dem eigentlich als Konservativen bekannten Richter John G. Roberts zu verdanken, da er – und nicht der häufiger als »swing vote« auftretende Anthony Kennedy – das Kernstück der Krankenversicherungspflicht als Steuer definierte. Tatsächlich werden nach dem Gesetz werden alle US-AmerikanerInnen, die trotz Gesetzesauflage keine Krankenversicherung abschließen, mit einer Strafzahlung belegt – dies gilt vielen anti-etatistisch denkenden US-WählerInnen als völlig unannehmbar.

Mitt Romney reagierte prompt mit dem Versprechen, »Obamacare« als eine seiner ersten Handlungen im Präsidentenamt zurückzuweisen. Das Thema der Gesundheitspolitik wird die Parteien begleiten, ganz gleich wie die Wahl ausgeht; denn zum einen hat die GOP keine plausible Alternative zu Obamas Reform, außer die Bevölkerung weiter dem teuersten privatkapitalistischen medizinisch-industriellen Komplex der Welt zu überlassen.

Andererseits hat Richter Roberts womöglich in seiner Urteilsbegründung einen kaum bemerkten Paradigmenwechsel eingeleitet. Er wies als Grundlage die weite Auslegung der »commerce clause« zurück, die es der Bundesebene erlaubt, den Handel zwischen den Bundesstaaten zu regulieren. Diese Interpretation hatte sich im Zuge des »New Deal« von Präsident Roosevelt durchgesetzt und eine frühere, gegen jegliche wirtschaftspolitische Eingriffe gerichtete Rechtsprechung abgelöst. Setzte sich Roberts Begründung als neue Doktrin durch, könnte jegliche Reform gefährdet sein, die das Verhalten der WirtschaftsteilnehmerInnen steuern will, wenn sie dazu mehr einsetzt als eine schwache Steuer (vgl. Stuart 2012).

Obamas Defizite und sein neuer Gegenspieler

Prägend für den Wahlkampf wird nicht zuletzt die wirtschaftliche Lage sein. Die Arbeitslosigkeit liegt im August bei 8,3 %, und seit Franklin D. Roosevelt (FDR) ist kein US-Präsident wiedergewählt worden, wenn die Arbeitslosigkeit über 7,2 % lag. Wichtiger allerdings als die nackte Zahl dürfte sein, wie die Situation gedeutet und im politischen Konflikt verhandelt wird. Dass Obama für die wirtschaftliche Situation mitverantwortlich ist, wird außer aus seinem engeren eigenen Kreis auch von ZentristInnen und Linken nicht geleugnet. Es stimmt: Im Vergleich zur Präsidentschaft von FDR stieß Obama schon zu Beginn seiner Amtszeit 2009 beim Versuch, die Wirtschaft durch ein Konjunkturpaket wieder anzuschieben, auf den erbitterten Widerstand der Republikaner und konservativer Demokraten. War die GOP gegenüber FDR sogar bereit, noch nicht fertig gestellte Beschlussvorlagen mitzuverabschieden, schaltete die Republikanische Partei gegenüber Obama auf eine Totalblockade um (vgl. Skocpol/ Jacobs 2012, 8).

Dennoch ist Obama nicht von Fehlern freizusprechen. Er verkannte die Situation völlig, als er getreu seiner Wahlkampfbotschaft der überparteilichen Verständigung den »Zentristen« der eigenen Partei und der GOP bei seinen Plänen entgegenkam. Paul Krugman bemerkte schon 2009, dass das Volumen des Konjunkturpaket von 800 Mrd. US-Dollar zu klein war angesichts eines geschätzten Output-Rückgangs von zwei Bio. US-Dollar oder 14 % des damaligen BIP. Von der ohnehin schon zu geringen Größe des Pakets wurden auf Druck der »Zentristen« weitere 86 Mrd. Dollar an Ausgaben gestrichen – darunter Hilfszahlungen an die Bundesstaaten, die dringend benötigt worden wären. So wurde die – wenn auch geringe – Ausgabensteigerung der Bundesebene durch gleichzeitige Austerität auf Ebene der Bundesstaaten und Gemeinden konterkariert (vgl. Krugman 2009; vgl. auch schon Solty 2008). Und Mittelknappheit bedeutet auf der Ebene der Einzelstaaten regelmäßig, dass sie wegen Obergrenzen ihrer Kreditaufnahme Personal aus dem Landesdienst entlassen müssen.

Obama hat mit seiner Zurückhaltung bei wirtschaftsstabilisierenden Ausgaben daher selbst zum Eindruck beigetragen, dass mit seiner Unterstützung zwar erfolgreich Banken gerettet wurden, er ansonsten aber das Geld der steuerzahlenden US-AmerikanerInnen nur wirkungslos ausgegeben habe. Mit ursächlich dafür war wohl sicherlich seine Überzeugung, dass er Wall Street-erfahrene Ökonomen wie Timothy Geithner und Lawrence Summers als Finanzminister bzw. Wirtschaftsberater hinzuziehen müsse. Fortschrittlichere Ökonomen wie Joseph Stiglitz oder Paul Krugman konnten seine Politik kaum beeinflussen (vgl. Skocpol/ Jacobs 2012, 9f).

Als Obama dann endlich im Herbst 2011 mit einem wiederum unzureichenden Vorschlag für ein zweites Konjunkturpaket an die Öffentlichkeit trat, war es schon zu spät: Bei den Kongresswahlen Ende 2010 hatten die Republikaner die Mehrheit im Abgeordnetenhaus errungen und die Mehrheit der Demokraten im Senat reduziert. Die vor allem dank der »Tea Party« noch weiter nach rechts gerückte Fraktion der Republikaner hat die USA dann in einem beispiellosen politischen Gefecht im Sommer 2011 an den Rand einer Staatspleite gebracht, weil die Fraktion der GOP sich weigerte, die Schuldengrenze anzuheben (die Schuldengrenze deckelt die Bedienung bereits aufgenommener Kredite). Erwartungsgemäß musste also selbst Obamas verhaltene und verspätete Initiative verpuffen – und das tat sie dann auch (vgl. Landler 2011).

Paul Ryan und der neuerliche Rechtsruck der Republikaner

Im aktuellen innerparteilichen und gesellschaftlichen Umfeld ist es kein Wunder, dass Romney ausgerechnet Paul Ryan als seinen Kandidaten für die Vizepräsidentschaft auserwählt hat. Ryan, Jahrgang 1970 und gebürtiger Katholik aus Wisconsin, gelang schon mit 28 Jahren die Wahl ins Repräsentantenhaus. Seine Wiederwahl in dem Wahlkreis im Südosten Wisconsins gewann er stets mit beachtlichen Mehrheiten, obwohl dieser Bundesstaat bei Präsidentschaftswahlen eher zu den Demokraten tendiert (Rüb 2012a).

Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde er erst nach der Kongresswahl Ende 2010. In der dank »Tea Party« noch weiter nach rechts gerückten Gruppe republikanischer Abgeordneter stieg Ryan zum Jungstar und Haushaltsexperten auf. Als haushaltspolitischen Entwurf vertrat die GOP im Repräsentantenhaus im Krisenjahr 2011 ein Konzept namens »The Path to Prosperity: Restoring America's Promise«, nach seinem Urheber bekannt und berüchtigt als »The Ryan Budget« oder »The Ryan Plan«. Zwar wurde der Ryan-Plan im Reräsentantenhaus am 15. April mit 235 gegen 193 Stimmen verabschiedet, allerdings von der demokratischen Mehrheit im Senat und Präsident Obama gestoppt.

Der Plan sieht vor, die Staatsverschuldung von 62% des BIP (2010) auf 10% des BIP im Jahr 2050 abzusenken. Es sind keinerlei zusätzliche Einnahmen durch Steuererhöhungen vorgesehen – allenfalls durch Schließung von »Schlupflöchern«, die Ryan aber nicht konkret benennt. Die Staatseinnahmen sollen praktisch bei 19% des BIP eingefroren werden, während öffentliche Ausgaben von ca. 24% (2010) auf max. 15% (2050) begrenzt werden sollen. Von den Ausgabenkürzungen soll der Verteidigungsetat, der 2010 immerhin 20% der Staatsausgaben oder 689 Mrd. US-Dollar ausmachte, grundsätzlich ausgenommen bleiben. Stattdessen nimmt Ryans Plan andere Ausgaben ins Visier. Die Bundesstaaten verlören zwischen 2013-2021 247 Mrd. US-Dollar an Bundesmitteln für öffentliche Dienste im Rechts- und Erziehungswesen, im Katastrophenschutz oder für die Wasserversorgung. Weitere 194 Mrd. Dollar US-Dollar würden den Staaten und lokalen Körperschaften im Bereich Transport und Infrastrukturprojekte bis 2021 gestrichen, obwohl schon heute öffentliche Verkehrsmittel und Straßen in den USA in bisweilen desaströsen Zustand sind.

Einnahmeseitig sieht der Plan eine massive Änderung der Einkommenssteuer vor – statt sechs soll es nur noch zwei Progressionsstufen geben, der Spitzensteuersatz fiele von 35% auf nur noch 25%. Zusammen mit den o.g. Kürzungen der Bundesmittel entstünde auf einzelstaatlicher und lokaler Ebene ein massiver Druck, entweder den weiteren Verfall öffentlicher Güter und Dienstleistungen zuzulassen, oder aber Steuern zu erhöhen. Oder aber es käme – und dies wäre zumal in republikanisch regierten Einzelstaaten die wahrscheinlichste Variante – zu einer beispiellosen, wenn auch sich anfangs langsam vollziehende Welle der Privatisierungen.

Der »Ryan Plan« ist gewissermaßen die konsequente Fortsetzung der »konservativen Transformation« des Wohlfahrtsstaates ab den 1980er Jahren, wie er in den USA durch Ronald Reagan, in Großbritannien durch Margaret Thatcher durchgesetzt wurde. Die konservativen Regierungen wagten dabei keinen Frontalangriff gegen die Klientel des Wohlfahrtsstaates insgesamt, sondern schwächten durch Steuersenkungen und Brechung von Gewerkschaftsmacht gleichsam das materielle Rückgrat solidarischer Wohlfahrtsstaatlichkeit (vgl. die brillanten Analysen bei Borchert 1995, Pierson 1994).

Das Gesicht von Ryans Radikal-Reform

Spektakulär und unmittelbar wahlpolitisch relevant ist an dem Plan das Vorhaben, Medicare (die Krankenversorgung für Senioren) und Medicaid (Krankenversorgung für Einkommensschwache) massiv zu reduzieren und letztlich beide Programme z.T. zu privatisieren. Der Entwurf würde die Ausgaben der Bundesebene für Medicaid um 34% reduzieren. Der Bundesanteil für alle Medicaid-Programme würde ab 2013 pauschaliert an die Einzelstaaten vergeben.

Medicare wiederum würde ab 2022 in ein Gutschein-System umgewandelt, mit dem die SeniorInnen private Gesundheitsdienstleistungen kaufen können. Dabei soll die Altersgrenze, ab der man Zugang erhält, von 2022 bis 2030 schrittweise auf 67 Jahre erhöht werden. Da nach Ryans Entwurf sowohl die Gutschein-Ansprüche für Medicare als auch die pauschalierten Zahlungen an die Einzelstaaten bei Medicaid nur noch an die Preissteigerungsrate und den Bevölkerungszuwachs angeglichen werden, bedeutete dies eine schrittweise Privatisierung der Gesundheitsversorgung für Arme und Ältere, da in den vergangenen Jahrzehnten die Kosten im Gesundheitsbereich immer schneller gestiegen sind als die Inflation.

Diesen Plan als politische Plattform zu wählen ist – je nach Standpunkt – mutig oder eine politische Selbstmorderklärung. Denn »Medicaid ist heute die mit Abstand wichtigste Quelle für die langfristige Pflege von SeniorInnen und Menschen mit Behinderungen. (…) Der Großteil der älteren Bevölkerung hat schlicht nicht die Mittel, um selbst höhere Kosten der Gesundheitsversorgung zu tragen. Fast die Hälfte der über 65-Jährigen sind für 80% ihres Einkommens von [der staatlichen Garantierente] Social Security abhängig. Und Anfang 2012 lag das durchschnittliche jährliche Einkommen aus Social Security bei 14.760 Dollars« (vgl. Edsall 2012). Angesichts dieser Zahlen kann sich jede und jeder ein Bild davon machen, wenn Ryan und Romney sich bei der Vorstellung des »running mate« in Norfolk zu einem offensiven Regierungsstil bekannten: »Wir werden den harten Entscheidungen nicht ausweichen – wir werden führen! Wir werden die Schuld nicht bei anderen suchen – wir werden Verantwortung übernehmen! Wir werden unsere Gründungsideen nicht ersetzen – wir werden sie wieder anwenden!« (zitiert nach Rüb 2012a).

Geldsegen für die 1%

Die fiskalischen Auswirkungen des Ryan-Plans haben entsprechend eine eindeutige Richtung. So urteilt das liberale »Center on Budget and Policy Priorities«: »Der neue Haushaltsentwurf von [Paul] Ryan ist ein bemerkenswertes Dokument – die meiste Zeit während der vergangenen fünfzig Jahre als außerhalb jeder Mainstream-Debatte verortet, weil es so extrem ausfällt. Im Kern folgt es einem umgedrehten Robin Hood-Prinzip – auf Droge. Es würde absehbar die größte Einkommensumverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Vereinigten Staaten bedeuten und würde Armut und soziale Ungleichheit mehr verstärken, als es je irgendein anderer Haushalt der vergangenen Jahre (oder in der gesamten Geschichte der Nation) getan hat« (zitiert nach Edsall 2012).

Von den Billionen Ausgabenkürzungen würden nach Berechnungen verschiedener Denkfabriken 62% Haushalte mit geringen Einkommen betreffen, während Bessergestellte dank der massiven Steuersenkungen profitieren. Einkommensmillionäre behielten mindestens 265.000 Dollar zusätzlich pro Jahr, zusätzlich zu den mindestens 129.000 Dollars, die sie dank der noch immer wirksamen Steuererleichterungen von George W. Bush einbehalten. Während die Mittelklasse nur 1,8% zusätzliches Einkommen nach Steuern im Vergleich zum Status Quo erzielte, wären es bei Einkommensmillionen 12,5 % (vgl. ebd.). Die Vereinigten Staaten würden aufgrund dieser Steuergeschenke auch in den nächsten drei Jahrzehnten noch nicht schuldenfrei – was zeigt, dass es der GOP nur vordergründig um die Sanierung der Staatsfinanzen geht (vgl. Calmes 2012). Die Vorwürfe, der Plan bedeute »Sozialdarwinismus« (Obama) oder »rechtes Social Engineering« (Newt Gingrich) sind daher mehr als nur berechtigt (vgl. Keller 2012).

Vorwärts oder nach rechts?

Für Obama und seine Wahlkampagne könnte die Nominierung Ryans einen Befreiungsschlag bedeuten. Da Obamas UnterstützerInnen demobilisiert sind und der Negativ-Wahlkampf gegen Romney seine eigene Klientel eher gestört hat (s.o.), werden offizielle und inoffizielle Kampagnenführer des Präsidenten die Gelegenheit nutzen, um das Ticket Romney-Ryan als Gefahr für die Wohlstand und Planungssicherheit der wahlpolitisch wichtigen SeniorInnen und Medicaid-BezieherInnen darzustellen.

Und tatsächlich kann der Ryan-Plan auch die Strategie der GOP unterminieren, die Mehrheit bei den weißen WählerInnen zu verteidigen und sie verstärkt zur Wahl zu mobilisieren. Denn Weiße stellen die deutliche Mehrheit der anspruchsberechtigten NutzerInnen von Medicare (78 %) und Medicaid (immerhin 43 %, vgl. Edsall 2012). Was Obama bei JungwählerInnen an offensiver Mobilisierungsfähigkeit aufgrund seines eingebüßten Visionär und Reformer-Images verloren hat, könnte er bei älteren WählerInnen an defensivem Mobilisierungspotenzial gewinnen.

Dafür spricht immerhin auch die Erfahrung von Kathy Hochschul. Die Demokratin hatte 2011 bei einer Nachwahl in einem der konservativsten Kongresswahlkreise gegen die Republikanerin Jane Corwin gewonnen. Zu ihrem Wahlsieg hatte auch beigetragen, dass sie Ryans Reformplan für Medicare offensiv zum Thema gemacht hat (vgl. Hernandez 2011). Ebenfalls segenreich für Obama ist einer der Hauptprofiteure bei der Umsetzung des Ryan-Plans – nämlich Mitt Romney selbst. Romney hätte danach weniger als 1% Steuern zu bezahlen. Da der ehemalige Fonds-Manager den Hauptteil seines Einkommens aus Kapitalerträgen, Zinsen und Dividenden bezieht, beliefe sich seine Steuerschuld für 2010 (das einzige Jahr, für das Romney seine Steuererklärung veröffentlicht hat) nach dem Ryan-bedingten Wegfall entsprechender Steuerarten auf nur noch 177.650 Dollars bei insgesamt 21.661.344 US-Dollar Einkommen, d.h. auf einen effektiven Satz von nur 0,82% (vgl. O’Brien 2012).

Dass Obama die Wahl gegen Romney gewinnen wird, ist nach der Nominierung Paul D. Ryans als »running mate« Mitt Romneys eher wahrscheinlicher geworden. Die Re-Polarisierung der Debatte unter den o.g. Vorzeichen wird eher Obama nützen, da die älteren US-AmerikanerInnen sich kaum auf die Möglichkeit einer Radikalreform werden einlassen wollen, die ihre wichtigste Versorgungsquelle im Alter gefährdet. Und stärker politisch Interessierten unter Ihnen, die nicht grundsätzlich öffentliche Güter für Teufelswerkzeug halten, werden an Ryans geplanter plutokratischer Umverteilung nach oben gepaart mit absehbarem Kahlschlag bei nahezu allen öffentlichen Dienstleistungen wenig Gefallen finden.

Allerdings ist Obama zuzutrauen, dass er den trügerisch attraktiven Standpunkt einer imaginären »Mitte« zwischen der radikalisierten GOP und den visions- und kraftlosen Demokraten bezieht. Er wird sagen, dass Reformen an Medicare und Medicaid sicherlich nötig sind – aber bitte nicht so heftig wie von Romney/Ryan vorgesehen. Er wird sagen, dass die Sanierung des Haushaltes auch für ihn Priorität hat – und wird dafür womöglich sogar die Steuern für Wohlhabende erhöhen wollen. Die Aussagen sind so enttäuschend, wie sie insgesamt unplausibel sind.

Obamas grundlegende Schwäche besteht darin, dass er nach seiner Wahl nicht mehr die Kraft oder den Willen gefunden hat, den Narrativ der Veränderung – »change« – mit Leben zu füllen. Der anfangs überraschenden, dann aber verstetigten Mobilisierung durch die »Tea Party« hatte er auf ideologischem Terrain nichts entgegenzusetzen (vgl. Rich 2010). Mit seinen aktuellen ökonomischen Beratern mit enger Verbindung zur Clinton-Zeit (vgl. Solty 2008) lässt sich ein Programm auch kaum entwickeln, das mehr wäre als nur eine bessere Verwaltung des Status Quo. Mitt Romney mag in der Zwangsjacke einer bis zum puren Irrationalismus radikalisierten GOP stecken (vgl. Keller 2012), aber ausgerechnet der als Visionär angetretene Obama hat nur noch die Verteidigung des Bestehenden zu bieten.

Literatur
Borchert, Jens: Die konservative Transformation des Wohlfahrtsstaates. Großbritannien, Kanada, die USA und Deutschland im Vergleich, Frankfurt am Main/ New York 1995.
Calmes, Jackie: Elevating Ryan, and His Budget Details, in: New York Times, 12.8.2012.
Cohen, Joshua: 2011 Dewey Lecture in Law and Philosophy: »Democracy v. Citizens United« online unter: http://www.youtube.com/watch?v=fiWJAdFTIxQ.
Dworkin, Ronald: The Decision that treatens Democracy, in: The New York Review of Books, May 2010.
Edsall, Thomas B.: Paul Ryan’s Liberal Fan Club, 12.8.2012, online unter http://campaignstops.blogs.nytimes.com/2012/08/12/paul-ryans-liberal-fan-club/.
Hernandez, Raymond: Democrat Wins G.O.P. Seat; Rebuke Seen to Medicare Plan, in: New York Times, 25.5.2011.
Keller, Bill: The Romney Package, in: The New York Times, 13.8.2012.
Krugman, Paul: What the centrists have wrought, 7.2.2009, online unter http://krugman.blogs.nytimes.com/2009/02/07/what-the-centrists-have-wrought/.
Landler, Marc: Obama Challenges Congress on Job Plan, in: New York Times, 9.9.2011.
O’Brien, Matthew: Mitt Romney Would Pay 0.82 Percent in Taxes Under Paul Ryan's Plan, in: The Atlantic, online unter http://www.theatlantic.com/business/archive/2012/08/mitt-romney-would-pay-082-percent-in-taxes-under-paul-ryans-plan/261027/.
Pierson, Paul: Dismantling the welfare state? Reagan, Thatcher, and the politics of retrenchment, Cambridge 1994.
Rich, Frank: The Up-or-Down Vote on Obama’s Presidency, in: The New York Times, 7.3.2010.
Rüb, Matthias: Einer von Obamas Lieblingsfeinden, in: FAZ, 13.8.2012, S. 3.
Rüb, Matthias: Mörderheuschrecken und andere Totschlagargumente. Knapp drei Monate vor der Präsidentenwahl ist die politische Auseinandersetzung giftig geworden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.8.2012, S. 3).
Skocpol, Theda/ Jacobs, Lawrence R.: Accomplished and Embattled: Understanding Obama’s Presidency, in: Political Science Quarterly, 127 Jg., Nr. 1/2012, S. 1-24.
Solty, Ingar: Eine Rückkehr zu der Politik Bill Clintons droht, in: Neues Deutschland, 21. November 2008.
Stewart, James: In Obama’s Victory, a Loss for Congress, in: The New York Times, 30.6.2012.

Alban Werner ist Doktorand der Politikwissenschaft an der RWTH Aachen und Redakteur der Zeitschrift »Das Argument«.

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