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Den Krieg verlernen
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Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
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Heiner Dribbusch
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Arbeitskämpfe und Streikende in Deutschland seit 2000 – Daten, Ereignisse, Analysen
376 Seiten | Hardcover | EUR 29.80
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24. November 2014 Otto König / Richard Detje: Die Verschwundenen von Ayotzinapa/Mexiko

»Wir wollen sie lebend zurück«

Ein Aufschrei geht durch Mexiko: »Wir wollen sie lebend zurück«. Wut, Verzweiflung und Zorn treiben hunderttausende Menschen auf die Straße, zuletzt am 21. November auf den Zócalo vor dem Nationalpalast in Mexico-City. Die Proteste richten sich gegen lokale Autoritäten und die Partido de la Revolución Democrática (PRD) sowie gegen den Präsidenten Enrique Peña Nieto.

Angehörige, Kommilitonen und Lehrer von 43 vermissten StudentInnen informieren auf ihrer Sternfahrt durch zehn der 31 Bundesstaaten über das Massaker in Iguala. Sie fordern die restlose Aufklärung eines grauenhaften Verbrechens, an dem Mafia, lokale Sicherheitskräfte und ranghohe Politiker beteiligt waren. Die Kritik an der Regierung wird lauter und schärfer. Die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska ist überzeugt: »Das ist erst der Anfang. Mexiko erwacht jetzt«.

Andere wie Raúl Benítez, der an der Nationaluniversität lehrt, halten skeptisch dagegen: »Ich sehe nicht kommen, dass unsere Aktivisten wochenlang auf dem Zócalo campieren.« Für wahrscheinlicher hält er, dass sich eine neue Partei wie »Podemos« in Spanien aus der Kritik an staatlicher Korruption herausbildet.

Im Anschluss an eine Spendensammlungs-Aktion am 26. September in der 110.000 Einwohner zählenden Stadt Iguala im Nordwesten des Bundesstaates Guerrero wollten StudentInnen des Lehrerseminars »Raúl Isidro Burgos Rural« bei einer Rede der Bürgermeistergattin gegen die Günstlingswirtschaft bei der Einstellung von Lehrern demonstrieren. Die städtische Polizei stoppte auf Anordnung des Bürgermeisters Jose Luis Abarca mit Schüssen die Busse der StudentInnen. Sechs Menschen starben.

Die korrupten Beamten verhafteten 43 LehramtsstudentInnen und übergaben sie der lokalen Drogen-Mafia »Guerreros Unidos«.[1] Alles deutet darauf hin, dass sie bestialisch ermordet wurden. Die Suche nach ihnen geht schleppend voran und hat bisher keine eindeutigen Erkenntnisse gebracht. Doch seitdem wurde ein Massengrab nach dem anderen entdeckt.[2]

Iguala ist ein Symbol für die Komplizenschaft zwischen korrupten Politikern, lokalen Sicherheitskräften und organisiertem Verbrechen in Mexiko. Die Verstrickung staatlicher Akteure in die organisierte Kriminalität ist offenkundiger denn je. In weiten Bereichen hat das organisierte Verbrechen den Staat unterwandert: in Bundesstaaten wie auf der nationalen Ebene. Und umgekehrt agieren Kartelle oft als verlängerter Arm des Staates. So gesehen ist es nicht falsch, Mexico als »gescheiterten Staat« zu bezeichnen.

»Fue el estado!« (»Es war der Staat«), heißt es auf den Demonstrationen. Die jüngsten Ereignisse sind Ausdruck fortwährender politischer Repression. Seit Jahrzehnten beklagen MenschenrechtsaktivistInnen: Wer sich in Mexiko zur linken Opposition bekennt, wer Alternativen zu den neoliberalen Reformen der letzten 30 Jahre fordert oder sich einsetzt für die Interessen der indigenen Bevölkerung, riskiert sein Leben.


Wer sich für den politischen Wandel einsetzt, riskiert sein Leben

»Die Vorgänge sind empörend, schmerzhaft und inakzeptabel. Die Behörden sind angewiesen, den Fall aufzuklären. In einem Rechtsstaat gibt es nicht den geringsten Raum für Straflosigkeit«, ließ Staatspräsident Enrique Peña Nieto verlautbaren. Nicht nur für VertreterInnen von Amnesty International (AI) ein zynischer Kommentar, sondern auch für viele Kritiker, die befürchten, dass sich die Verantwortlichen nach dem Massaker wie in der Vergangenheit nicht für ihre Taten verantworten müssen.

Seit 2006 gab es keine einzige Verurteilung wegen des Verschwindens von Menschen. »Wir haben in Mexiko 30.000 verschwundene und 160.000 ermordete Menschen zu beklagen«, so der Dichter Javier Sicilia, dessen Sohn 2011 von Drogengangstern getötet wurde. Er sieht Mexiko in eine Art Diktatur schlittern, »einen Totalitarismus des Geschäfts, in dem Gangster straflos davonkommen und der Präsident nur versucht, das Image des Landes aufzupäppeln«.

Die Diskriminierung aufgrund der Klassen-, ethnischen und Geschlechter-Zugehörigkeit spielt in Mexiko eine große Rolle. So gehören zu den Opfern von Gewaltverbrechen immer wieder Frauen. Die Millionenstadt Cidudad Juarez an der Grenze zu den USA wurde geradezu ein Sinnbild für Hunderte unaufgeklärte und ungesühnte Frauenmorde.[3] 17 Fälle von gravierenden Menschenrechtsverletzungen – Fälle von gewaltsamem Verschwindenlassen, illegale Verhaftungen, Vertreibung und Mord – u.a. gegen die indigene Bevölkerung erörterten Ende September MenschenrechtsaktivistInnen auf dem Tribunal »Permanente de Los Pueblos« (Ständiges Völkertribunal).[4]

Zum Abschluss des Tribunals in der indigenen Gemeinde Santa Fe de la Laguna im mexikanischen Bundesstaat Michoacán verurteilten 200 Vertreter von NGO-Gruppen und sozialen Organisationen »den mexikanischen Staat aufgrund der durch Funktionäre und andere Akteure des Staates indirekt oder direkt begangenen Menschenrechtsverbrechen, repressives Handeln gegenüber sozialen Bewegungen unter Außerachtlassung der Rechte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit.«[5]

Die 43 verschwundenen Lehramtsstudenten studierten am linksgerichteten, basisdemokratischen Lehrerkolleg »Normal Rural de Ayotzinapa«, das Kindern aus mittellosen und indigenen Familien den Zugang zu Bildung ermöglicht. Das Lehrerseminar wurde in den 1930er Jahren vom sozialistisch orientierten Präsidenten Lázaro Cárdenas gegründet. Fast zeitgleich begannen die StudentInnen, sich in der »Federación de Estudiantes Campesinos Socialistas de México« (Bäuerlich-Sozialistischer Studentenbund Mexikos) für bessere Studienbedingungen und die Rechte der Studierenden einzusetzen.[6]

Damit gerieten sie in das Fadenkreuz der Drogenmafia und der staatlichen Behörden. Denn wer sich wie sie und die linke Opposition für einen politischen Wandel einsetzt, wird schnell zum Opfer von Repressionen. Dies gilt auch für kritische Journalisten, die über die Machenschaften der Drogen-Kartelle und deren Partner in Politik, Wirtschaft, Polizei und Militär berichten. Nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission kamen in den letzten zwölf Jahren 87 JournalistInnen in Mexico gewaltsam ums Leben.

Auf die Verstrickung der mexikanischen Politiker und der Mafia-Kartelle und die Folgen für die mexikanische Bevölkerung wiesen Anfang November VertreterInnen der Linken und der Grünen im deutschen Bundestag hin. Sie übten harsche Kritik am geplanten »Abkommen über die Sicherheitszusammenarbeit« zwischen Deutschland und Mexiko.[7] Auch die deutsche Menschenrechtskoordination Mexiko, ein Netzwerk von Hilfswerken und Initiativen, die in Deutschland zur Menschenrechtssituation in Mexiko arbeiten, forderte die Abgeordneten auf, gegen den deutsch-mexikanischen Sicherheitsvertrag zu stimmen, da Deutschland sich damit zum Komplizen von Gewalt und Unterdrückung macht.

Neoliberales »Reform«-Paket

Bei den Demonstrationen werden die Rufe nach dem Rücktritt des Präsidenten Enrique Peña Nieto immer lauter. Statt vor Ort – in Iguala – mit den Betroffenen zu reden, reiste er während der Demonstrationen zum Apec-Gipfel nach China und zum G-20-Treffen nach Australien, um Mexiko als Musterland des ökonomischen Liberalismus anzupreisen. Sein »Reform«-Paket liest sich wie ein neoliberales Lehrbuch, in dessen Mittelpunkt die Privatisierung von Staatsbetrieben und die Beseitigung so genannter Investitionshemmnisse stehen, um das Land für Auslandsinvestitionen attraktiv zu machen.

Der aktuelle Maßnahmenkatalog der Regierung umfasst weitreichende Umstrukturierungen in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft, Energie, Bildung, Arbeitsrecht, Telekommunikation und Sicherheit. Die so genannte Energiereform öffnet beispielsweise den parastaatlichen Ölkonzern PEMEX nach 76 Jahren staatlicher Kontrolle für das Privatkapital. PEMEX erwirtschaftet rund ein Drittel der Staatseinnahmen.

In Verbindung mit der Privatisierung weiterer Energiebetriebe wie dem Stromproduzenten CFE bedeutet dies nicht nur gravierende Einnahmerückgänge etwa für das Sozialbudget des Staates, sondern auch den Verlust demokratischer und ökologischer Kontrollmöglichkeiten der Unternehmen, was zu einer massiven Bedrohung der ländlich-indigenen Territorien durch Großprojekte wie Staudämme, Gas- und Ölförderung, Fracking oder Windparks führen wird. Für Luis Hernández Navarro, Redakteur der linksliberalen Tageszeitung »La Jornada« werden die Reformen im Ausland verkauft, »als würden sie Mexiko in die Welt der Modernität tragen, dabei bringen sie Mexiko in die Welt der Verwüstung und der Plünderung. Sie sind ein sehr schwerer Schlag für die Bevölkerung.« (Hintergrund, 13.11.2014)

 

»Wir sind die Angst leid«

»Ya me cansé!«, sagte der mexikanische Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam auf der Pressekonferenz, auf der er die angeblichen Geständnisse von drei Mitgliedern der »Guerreros Unidos« präsentierte. Ganz Mexiko wurde Zeuge, wie er an die Journalisten gewandt, genervt seufzte: »Ich bin eure Fragen leid.« Die Antwort ist zum Slogan einer Bewegung geworden, die mittlerweile das ganze Land erfasst hat: »Ya me cansé del miedo«, rufen die Demonstranten – »wir sind die Angst leid«.

Voller Zorn sagen die Angehörigen der Verschwundenen: »Wir haben die Lügen satt. Unsere Kinder sind nicht tot«. Um die Wahrheit herauszubekommen, »brauchen (wir) eine unabhängige und umfassende Untersuchung«, forderte die guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin Rigoberta Menchú Tum im mexikanischen Fernsehsender Televisa. Nur so besteht die Hoffnung, dass die Morde von Iguala einen Wendepunkt markieren, sich die Erkenntnis durchsetzt, dass eine Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit nicht funktionieren kann.

[1] Die »Guerreros Unidos« (Vereinigte Krieger) sind eine von mehr als hundert Splittergruppen, die nach der Zerschlagung der großen Drogen-Kartelle in Mexiko entstanden sind. Die »Guerreros Unidos« gingen aus einer Abspaltung des mächtigen Kartells Beltrán Leyya hervor.
[2] Laut Generalstaatsanwalt Murillo Karam, der sich auf das Geständnis dreier verhafteter Killer der »Guerreros Unidos« stützt, erzählten die mutmaßlichen Täter, wie sie in der Nacht des 26. September 43 junge Leute auf einer Müllkippe töteten, verbrannten und die Reste in Plastiktüten verpackt in einen Fluss warfen (Spiegel Online, 8.11.2014). Zwei am Tatort gefundene Knochen seien in einem Zustand, der eine DNA-Probe zulasse, sie werden in der Forensik an der Universität Innsbruck untersucht.
[3] 1,2 Millionen-Stadt Ciudad Juárez im Bundesstaat Chihuahua hat sich zu einer Hochburg der Frauenmorde und Gewalt gegen Frauen entwickelt. Die Morde von Juárez begannen im Jahr 1993. Bis zum Jahr 2008 verschwanden über 500 junge Frauen. Allein von 2009 mit 117 Todesfällen verdoppelten sich diese auf 306 in 2010. Der »Feminizid« ist eine ständige Bedrohung. Viele der Opfer arbeiteten in den Maquiladoras, ausländische Fabriken, die sich in der Nähe der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze angesiedelt haben, um unter Ausnutzung der Armut billige Arbeitskräfte zu bekommen.
[4] Vgl. Martin Mrochen: Massaker in Mexiko, Standpunkte 21/2014, Rosa Luxemburg Stiftung.
[5] Amerika 21.de, 1.10.2014.
[6] Das Permanente Völkertribunal ist eine von staatlichen Instanzen unabhängige, international tätige Institution, die Menschenrechtsverletzungen untersucht. Es wurde 1979 in Anlehnung an die Russell-Tribunale gegründet, die sich Ende der 1960er Jahre als zivilgesellschaftlicher Protest gegen die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam konstituierten.
[7] Debatte im Bundestag über Mexiko, Sicherheitsabkommen und EU-Freihandel, Plenarprotokoll v. 5.11.2014.

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