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Interview mit Eric Hobsbawm über das Zeitalter der Extreme

Zwischen Katastrophe und Erdrutsch

(erschienen in Heft 5-1996 von Sozialismus, S. 16-21; für Sozialismus diskutierten Joachim Bischoff und Richard Detje)

Das 20. Jahrhundert begann dort, wo es endete: in Sarajevo. Am 28. Juni 1914 begann mit dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Ungarn der Erste Weltkrieg und mit ihm das »Zeitalter der Katastrophe«. Es sollte bis 1945 andauern. Das Jahrhundert endete Anfang der neunziger Jahre mit dem definitiven Zusammenbruch der gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung Ost- und Mitteleuropas, einem »Erdrutsch«, der wiederum in den Trümmern Sarajevos sein Symbol fand.

Eric Hobsbawm stellt diese räumlichhistorische Parallele an den Anfang seiner »Weltgeschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts«, indem er vom Besuch des damaligen französischen Präsidenten Francais Mitterrand in der Hauptstadt Bosnien-Herzegowinas am besagten 28. Juni 1992 berichtet. »Jedem gebildeteten Europäer in Mitterrands Alter mußte der Zusammenhang zwischen Datum und Ort ins Auge fallen und dabei Erinnerungen an eine historische Katastrophe wecken, die durch politische Fehler und Fehlbeurteilungen heraufbeschworen war. Wie hätte man die potentiellen Auswirkungen der bosnischen Krise auch besser verdeutlichen können als durch die Wahl eines derart symbolischen Datums? Doch kaum jemand, abgesehen von ein paar Historikern und älteren Menschen, verstand diese Anspielung. Die historische Erinnerung war nicht mehr lebendig.«

***

Sozialismus: »Das Zeitalter der Extreme« ist ein Buch wider das Vergessen, ein Beleg dafür, »wie dringend eine Gesellschaft Historiker braucht, die professionell an das erinnern, was ihre Mitbürger zu vergessen wünschen.« (S. 137) In verschiedenen Entwicklungsphasen des 20. Jahrhunderts stoßen wir auf die charakteristische Dialektik von historischen Lektionen und kollektivem Vergessen. So in der Konfrontation der weltweiten Depression der dreißiger Jahre mit dem Siegeszug des Neokonservatismus fünfzig Jahre später. Sie schreiben darüber: »Denjenigen von uns, die die Jahre der Weltwirtschaftskrise miterlebt haben, fällt es noch immer ungeheuer schwer zu verstehen, wieso die Orthodoxien der reinen freien Marktwirtschaft, die doch damals so offenkundig in Mißkredit geraten waren, in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren wieder einmal über eine weltweite Periode der Depression herrschen konnten, obwohl sie auch diesmal nicht inder Lage waren, eine solche Depression zu verstehen oder in den Griffzu kriegen.« (S. 136f) Wie erklären Sie diesen Vorgang des Verblassens des kollektiven Gedächtnisses? Und wie ist es um die Erinnerungsleistung bestellt, die Sie als Aufgabe der Historiker ansehen.

Hobsbawm: Zum Vergessen kommt es auf verschiedene Arten, am simpelsten durch das Alter. Zweitens aber waren für eine große Zahl von Menschen im 20. Jahrhundert die Überlieferungen, Erfahrungen, Berichte zwischen den Generationen längere Zeit praktisch unterbrochen, z.B. in Deutschland, wo jahrzehntelang Eltern mit ihren Kindern nicht über die nationalsozialistische Vergangenheit sprachen. Hinzu kommt m.E., daß in der modernen Medienkultur die Dimension der chronologischen Kontinuität mehr und mehr verloren geht. Zeitungen und Fernsehen berichten in einem 24-Stunden-Zyklus, der zwischen Gestern und Heute keinerlei Zusammenhänge mehr verknüpft. Es ist wie mit den Aktienkursen, wo die kleinen kurzfristigen Schwankungen im Zentrum stehen und die längerfristigen Tendenzen eigentlich niemanden interessieren. So kommt es, daß viele Leute vieles vergessen.

Das gilt vor allem in Disziplinen, die anti- oder ahistorisch sind, wie z.B. die Ökonomie. In den fünfziger und sechziger Jahren hörte die Volkswirtschaftslehre auf, sich mit Krisenphänomenen zu befassen, weil nach herrschender Auffassung die Wirtschaftskrisen nunmehr einer Vergangenheit anzugehören schienen, die endgültig abgeschlossen sei. Dabei war es erst 20 Jahre her, daß Ökonomen ihre Hauptaufgabe darin sahen, die Ursachen der Krisen zu ergründen und nach Alternativen zu suchen. Schumpeter veröffentlichte sein großes Buch über die Wirtschaftszyklen im Jahre 1933, Keynes seine ›General Theory‹ 1936.

In den neunziger Jahren erreicht die Massenarbeitslosigkeit in der Mehrzahl der kapitalistischen Hauptländer wieder Niveaus, die an die Zeit der Weltwirtschaftskrise erinnern. Ein Ansatzpunkt, historisches Wissen zurückzuholen?

Hobsbawm: Historiker als solche können das nicht. Sie können nur das Material aufbereiten, das die Leute dann lesen oder sich irgendwie aneignen müßten. Ob sie das tun, liegt nicht in unserer Hand. Ich denke z.B., daß alle Regierungen nach 1989 gut daran getan hätten, ein Seminar über die Friedensbeschlüsse nach dem Ersten Weltkrieg zu organisieren. Nahezu all die explosiven nationalen Konflikte, Bürgerkriege, Spannungen usw., mit denen wir uns heute in Europa herumschlagen, haben ihre Wurzeln im Beginn des Kurzen 20. Jahrhunderts, im Fall Bosnien-Herzegowina in den Balkankriegen der Jahre 1912/13.


Der Große Vorwärtssprung

»Lektionen« beschränken sich nicht auf literarische Darlegungen, sondern bezeichnen handgreifliche Veränderungen, die institutionell in der Gesellschaft verankert sind. Die Weltwirtschaftskrise war der Ausgangspunkt für eine gründliche Reform des Kapitalismus, die drei Eckpfeiler hat: erstens die Regulierung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen im Rahmen von Weltbank, Weltwährungsfonds und GATT, zweitens Vollbeschäftigungspolitik und drittens der Ausbau der sozialstaatlichen Institutionen. Sind dies die Eckpfeiler, die nach dem Ende des Katastrophenzeitalters die Blütezeit des Nachkriegskapitalismus – die »Goldenen Jahre« – im wesentlichen erklären?

Hobsbawm: Über die eigentlichen Wurzeln dieses außerordentlichen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umschwungs, dieses »Großen Vorwärtssprungs«, bin ich mir nicht ganz klar, habe dafür bislang keine letztlich zufriedenstellenden Erklärungen. Sicher ist, daß die Reform des Kapitalismus in den westlichen Ländern eine notwendige Grundlage für das »Goldene Zeitalter« bildete.

Sie schreiben: »Der Kapitalismus war erfolgreich gewesen, weil er nicht ausschließlich kapitalistisch war.« (S. 430)

Hobsbawm: Der Kapitalismus wurde in seiner Substanz reformiert und restrukturiert. Zu den »Lektionen« der Weltwirtschaftskrise gehörte das Versagen des freien Marktes und die Erkenntnis, daß man aus sozialen und auch aus politischen Gründen Massenarbeitslosigkeit bekämpfen muß, um nicht neue Katastrophen hervorzurufen. Deshalb zielten die Reformen auf so etwas wie eine »gemischte Wirtschaft«, in der der Staat die wirtschaftlichen Aktivitäten mit plante, überwachte, lenkte und steuerte. Zu den Faktoren, die den Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg ermöglichten, gehört auch die internationale Lage. Die USA übernahmen endgültig die Hegemonie auf dem Weltmarkt, bauten ihren Protektionismus ab und brachten Japan und Deutschland ökonomisch und politisch wieder auf die Beine als notwendige Bündnispartner gegen den Kommunismus und die Sowjetunion. Aber das alles sind noch keine genügenden Gründe, den sehr weitgehenden historischen Umschwung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erklären. Im Buch verweise ich zusätzlich noch auf Kondratjews Theorie der ›langen Wellen‹, aber auch in ihr liegt die Natur der Schwankungen im Dunkeln. Deshalb habe ich es vermieden, eine definitive Erklärung geben zu wollen.

Die Epoche nach dem Zweiten Weltkrieg war nicht nur ein grandioser ökonomischer Transformationsprozeß, sondern es entwickelte sich auch eine neue Qualität im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, damit auch eine Veränderung von Klassenbeziehungen und von sozialen Milieus, die traditionelle Bastionen der Arbeiterklasse waren.

Hobsbawm: Wobei das eigenartige ist, daß sich gerade in diesen ungeheueren wirtschaftlich-technischen und daher sozialen Veränderungen die Voraussagen von Marx aus dem Jahre 1848 stärker bewahrheiteten, als jemals zuvor, nämlich daß der Kapitalismus ein derart dynamisches System ist, das die ganze Welt so gründlich verändert, daß alle älteren menschlichen Beziehungen gleichsam verdampfen. Die Tatsache, daß dies innerhalb einer Generation vor sich ging, hat sich in grundlegenden sozialen und geistigen Veränderungen niedergeschlagen, ganz besonders in den neuen Generationen. Die Jugend der sechziger Jahre war die erste, die so gehandelt hat, als ob es keine Vergangenheit mehr gäbe. Auch das gehört zum Vergessen.

Der Verlust kollektiven Gedächtnisses ist also auch Folge der Individualisierungsprozesse in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern. Folge davon, daß Großorganisationen, die akkumuliertes historisches Wissen konservieren, weiterreichen, verallgemeinern, an Bedeutung und Einfluß im Alltag verloren haben?

Hobsbawm: Das ist nicht nur ein Problem von Großorganisationen. In Bauerngesellschaften gab es noch eine Familientradition, in der das Gedächtnis – wie der große Historiker Marc Bloch einmal sagte – von den Großeltern an die Enkel weitergereicht wurde, während die Eltern auf dem Feld arbeiteten. In der Arbeiterbewegung spielten die Parteien und Vereine gerade auch als Bildungsorgane im Sinne der Aufklärung eine maßgebliche Rolle. Deren Niedergang ist nicht nur ein Problem für das historische Gedächtnis, sondern für die Demokratie überhaupt. Demokratie ist nicht voraussetzungslos, sondern basiert auf Massenorganisationen.

Die »Goldenen Jahres brachten einen enormen Strukturwandel: dramatischer Rückgang der Agrarbevölkerung, Transformation der industriellen Arbeiterklasse, höhere Bildung für breite soziale Schichten, schließlich Schritte in Richtung der Emanzipation der Frauen – das sind die hauptsächlichen Entwicklungsprozesse, die Sie beschreiben...

Hobsbawm: In dieser Zeit waren die Ideologen des freien Marktes krasse Außenseiter. Keynes, der den Nachweis erbracht hatte, daß der Markt von sich aus Unterbeschäftigung produziert, weshalb der Staat intervenieren muß, war nach der Großen Depression nahezu vierzig Jahre lang der einflußreichste Ökonom der westlichen Welt. Liberale Wirtschaftstheologen standen eindeutig im Abseits. Friedrich von Hayek war ein einsamer Rufer in der Wüste, als er sich 1944 gegen die Nackkriegsentwicklung des Weltkapitalismus mit der Klage stemmte, sie sei ein »Weg zur Knechtschaft«. Niemand hörte auf ihn in der Zeit, in der das »Wirtschaftswunder« gefeiert wurde. Erst eine Generation später, als die Politik der »Goldenen Jahre nicht mehr funktionierte, kamen sie aus dieser Außenseiterrolle raus. Hayek erhielt 1974 den Wirtschaftsnobelpreis; zwei Jahre später war der nicht weniger militante Milton Friedman an der Reihe.


Eine Linke ohne Programm

Die Politik der »Goldenen Jahre« hat den Konjunkturzyklus geglättet, Nachfrage stimuliert, temporäre Probleme auf dem Arbeitsmarkt gelöst. Aber die Reform des Kapitalismus ging nicht so weit, den Konjunktur- und Krisenzyklus zu beseitigen, tatsächlich Verteilungsgerechtigkeit zu schaffen und die Arbeitslosigkeit auf Dauer zu bannen. Der wirtschaftspolitische Keynesianismus der Nachkriegszeit – in Westdeutschland sprach man von »Globalsteuerung« – reichte selbst in der Blütezeit der Sozialdemokratie noch nicht einmal ansatzweise an das heran, was Keynes selbst an Steuerungs- und Vergesellschaftungsnotwendigkeiten erkannt hatte. Was brachte die Wende?

Hobsbawm: Der Aufstieg des Neoliberalismus setzte ein, als nach der Krise der frühen siebziger Jahre die sozialdemokratische Vollbeschäftigungspolitik nicht mehr funktionierte und in der Folge der Sozialstaat unter Druck kam. Auch hinsichtlich des Ziels der Preisstabilität scheiterten die Anhänger eines moderaten Keynesianismus. Sie gerieten in dem Maße unter Druck, wie das Wachstum nicht mehr ausreichte, sowohl hohe Profite wie steigende Masseneinkommen zu garantieren. Zunächst vermied man noch das Wort Krise, sprach lieber von Rezession, in der Hoffnung, es vielleicht mit einer vorübergehenden Funktionsstörung zu tun zu haben. Tatsächlich war 1973 ein Zeitalter zu Ende gegangen.

Dahrendorf bezeichnet dieses als das »sozialdemokratische Zeitalter«. Im Gegensatz dazu schreiben Sie, daß der Beitrag der sozialistischen, sozialdemokratischen Parteien zur Reform des Kapitalismus eigentlich marginal war. »Die sozialistischen Parteien und Arbeiterbewegungen, die nach dem Krieg so populär in Europa waren, konnten bestens in den neuen, reformierten Kapitalismus eingebunden werden. Denn in der Praxis hatten sie keine eigene Wirtschaftspolitik vorzuweisen... Im Grunde konzentrierte sich die Linke nur darauf, die Lage der Arbeiterklasse, also ihrer Wählerschaft, zu verbessern und zu diesem Zweck soziale Reformen durchzusetzen.« (S. 344 )

Hobsbawm: Der Beitrag der Linken zur Reform des Kapitalismus war tatsächlich verhältnismäßig gering. Natürlich gibt es Ausnahmen, allen voran Schweden. Auch Roosevelts ›New Deal‹ und die Politik der Labour-Regierung in England nach dem Zweiten Weltkrieg gehören noch zu den Ausnahmen, aber auch sie experimentierten mehr, als daß sie eine systematische Politik betrieben. Zum Teil kann man sagen, daß sie das Glück hatten, zum richtigen Zeitpunkt an der Regierung zu sein.

Man muß wissen, daß der Wohlfahrtsstaat in den fünfziger Jahren überwiegend von konservativen Regierungen in Westeuropa und Nordamerika aufgebaut wurde. An der allgemeinen Tendenz der historischen Entwicklung lassen sich nur recht blasse politische Färbungen erkennen. Erst in den siebziger Jahren setzte sich die Sozialdemokratie als Mehrheitspartei auf breiter Front in Westeuropa durch. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen den sozialdemokratischen Parteien und den gemäßigten Konservativen in dieser Zeit nicht sehr groß. Ob nun unter einer konservativen oder einer sozialdemokratischen Regierungsmannschaft, Konsens war, daß man mit der gemäßigten Arbeiterbewegung zusammenarbeitete.

Aber auch als die Schranken der Nachkriegsprosperität deutlich wurden und Arbeitslosigkeit wieder auf die Tagesordnung kam, bot die Linke keine Politik, die Reform des Kapitalismus weiterzutreiben.

Hobsbawm: Die Linke hatte kein derartiges Programm. Und wo sie eins hatte, war es wenig überzeugend. In Chile verfolgte die Unidad Popular unter Allende zu Anfang der siebziger Jahre eine sogenannte alternative Wirtschaftspolitik und scheiterte. Die sozialistisch-kommunistische Regierung in Frankreich unternahm Anfang der achtziger Jahre noch einmal den Versuch, die Wirtschaft auf keynesianische Art anzukurbeln und scheiterte ebenso. Denn mittlerweile hatten sich die Voraussetzungen verändert. Die Internationalisierung der Wirtschaft macht rein nationale Ankurbelungsprogramme unmöglich. Nur zwei Jahre nach seinem triumphalen Wahlsieg verkündete Mitterrand unter dem Diktat einer negativen Zahlungsbilanz das Ende keynesianischer Nachfragepolitik und vollzog den Übergang zu seiner sogenannten »Sparpolitik mit menschlichem Antlitz«.

Die Gewerkschaften konzentrierten sich in dieser Zeit weitgehend darauf, möglichst hohe Lohnsteigerungen für ihre Mitglieder zu erkämpfen und isolierten sich damit, in Großbritannien am offenkundigsten.

Beides, das Scheitern der Linken und die Lohnpolitik der Gewerkschaften in einer Zeit hoher Preissteigerungen und stagnierenden Wachstums, machte es leichter für die Ultrarechte, in den siebziger Jahren Schritt für Schritt zunächst die Führung in den konservativen Parteien zu übernehmen, und davon ausgehend an die Macht zu kommen.


Ende des Status quo

Dem Schlußkapitel ihres Buches – »Ein Jahrhundert geht zur Neige« – stellen Sie ein Zitat von Michael Stürmer voran...

Hobsbawm: ... ein mir politisch fern stehender Zeitgenosse, der aber über einen gewissen Realismus verfügt...

Stürmer sagt: »Wir befinden uns am Beginn eines neuen Zeitalters, das durch große Unsicherheiten, permanente Krise und das Fehlen jeglichen Status quo charakterisiert ist« – ökonomisch wie politisch. Sehen Sie das auch so?

Hobsbawm: Wir wollen nicht spekulieren. Es hat in diesem Jahrhundert im größten Teil Europas drei große Zusammenbrüche gegeben: nach dem Ersten Weltkrieg, nach dem Zweiten und nach 1989. Von diesen dreien ist der letzte bei weitem der tiefste. Warum? Schauen wir uns die Situation sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg an: Mitte der zwanziger Jahre schien fast alles wieder in Ordnung zu sein; in Sowjet-Rußland hatte die Wirtschaft 1926/27 wieder den Stand von 1913 erreicht.

Und wie sah es sieben Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg aus? Die Welt war wieder im Aufschwung, sogar in der Sowjetunion, die die Hauptlast des Krieges zu tragen hatte. M.E. war es eine der bedeutendsten Errungenschaften der Sowjetunion und der neuen östlichen Regimes, daß sie binnen weniger Jahre die ungeheuerlichen Verwüstungen des Krieges behoben haben.

Im Gegensatz dazu die Lage heute: Von der Ostgrenze Deutschlands bis Wladiwostok kann von wirtschaftlicher Erholung und sozialer Stabilisierung keine Rede sein. Selbst eine Wiederherstellung des Vorkrisenniveaus von 1988 – bei weitem kein gutes Jahr – zeichnet sich nicht ab, es geht weiter bergab. Insofern ist der aktuelle Zusammenbruch tiefer. Das gilt auch in politischer Hinsicht, mit nur wenigen Ausnahmen, darunter Tschechien.

Es handelt sich um eine neue Situation. Ein Fotograf, der im Kaukasus war, erzählte mir jüngst, daß sein prägendster Eindruck die Armut war, die eine ganz andere Armut ist als beispielsweise die, die er in Lateinamerika gesehen hat, Dort gibt es traditionelle Armut, die Armen waren immer arm gewesen. Aber in Georgien und im Nordkaukasus haben die Menschen den Eindruck, daß es ihnen früher besser ging. Vergleichbares hätte man 1925 weder für Deutschland noch für Österreich behaupten können.

Der Schlußsatz im Buch – »der Preis für das Scheitern, die Alternative zu einer umgewandelten Gesellschaft, ist Finsternis« – erinnert an Walter Benjamins Beschreibung des hinfortgerissenen Engels der Geschichte. Wir lesen das nicht als pessimistischen Ausblick, sondern als Mahnung, daß die Politik international zur Steuerung des Kapitalismus zurückkommen muß.

Hobsbawm: Der Kapitalismus des freien Marktes bietet für gesellschaftliche Probleme keine Lösungen. Dem Weltkapitalismus ist es egal, wo der Standort für Produktion und Dienstleistungen ist, Hauptsache, er »rentiert« sich. Vom Markt her betrachtet wäre es eine sehr rationale Entscheidung, wenn Frankreich seine Landwirtschaft komplett aufgeben und alles importieren würde. Für größere Teile der französischen Gesellschaft wäre das ein Desaster. Deshalb glaube ich, daß öffentliche Steuerung und staatliche Autorität unverzichtbar sind. Auch aus ökologischen Gründen.

Ich mache keine Lösungsvorschläge. Ich versuche am Ende des Buches die Probleme darzustellen, die gelöst werden müssen, und argumentiere, daß sie von der Ultrarechten nicht gelöst werden können. Im Gegenteil: Nach 1989 wurde der Großversuch gestartet, die reine Freimarktpolitik sozusagen revolutionär in einem Teil der Welt umzusetzen. Das Resultat ist derart katastrophal, daß bereits fünf Jahre später die alten kommunistischen Parteien ihren Wählerstamm zurückerhalten haben und in vielen Ländern Osteuropas zur stärksten politischen Kraft geworden sind.


Der Erdrutsch

Wer sich heute für eine Umgestaltung des Kapitalismus im Sinne von Regulierung und Steuerung der Märkte einsetzt, betritt in gewissen Hinsicht Neuland. Das autoritär staatssozialistische Vergesellschaftungsprojekt ist definitiv gescheitert. Aber ebenso wenig ist es möglich, sozusagen nach der neokonservativen Gegenrevolution zur Nachkriegsordnung zurückzukehren. Wenn wir aus historischen Fehlern lernen können: Was wäre Marschgepäck für das Beschreiten des Neulands?

Hobsbawm: Die Auffassung, daß wir es mit zwei dichotomischen Systemen – Kapitalismus einerseits, Sozialismus andererseits – zu tun hatten und haben, muß neu überdacht werden. Es ist vielleicht besser, die Entwicklung als eine Art historisches Kontinuum zu sehen, das sehr vielfältige und verschiedenartige Zwischenstufen aufweist. Als Marxist halte ich selbstverständlich daran fest, in diesem Kontinuum zwischen den Polen kapitalistischer und sozialistischer Gesellschaftsformation zu unterscheiden, aber das macht eigentlich auch erst Sinn, wenn wir uns auf die Zwischenstufen herunterbegeben, statt sie zu mißachten. Vergleichen wir die Verhältnisse in Österreich und in Ungarn in den 50er und 60er Jahren: Ungarn, offiziell sozialistisch, war ein stark marktliberalisiertes Land, Österreich, offiziell kapitalistisch, hatte weite Bereiche seiner Wirtschaft unter staatlicher Kontrolle. Beide Länder passen nicht das einfache Bild einer vollkommen zweigeteilten Welt.

Hätten marktsozialistische Reformen Chancen geboten, eine Erneuerung des Sozialismus einzuleiten und unter Umständen den Zusammenbruch dieser Staaten zu verhindern?

Hobsbawm: Ich kann das nicht hinreichend beurteilen. Auf der einen Seite ist es so, daß die Politik der zweigeteilten Welt, der Kalte Krieg, den Staatssozialismus in gewisser Hinsicht gerettet hat, weil er ihn vor zu starker Infizierung durch die Weltwirtschaft bewahrt hat. Das staatssozialistische Modell sowjetischen Typs hatte Vorteile in kriegswirtschaftlichen Zeiten. Wo es um die Verfolgung punktueller Ziele ging, klappte die Planung. Deshalb ist der Wiederaufbau nach dem Krieg eine der bleibenden Leistungen dieser Regimes. Aber dieses System entwickelte keine eigenständige Dynamik und war daher der kapitalistischen Akkumulation heillos unterlegen. Es war ein eher stationäres System, das auf Veränderungen nur schwerfällig reagieren konnte, was ich im Buch am Beispiel der Ölkrise der frühen 70er Jahre illustriere. Konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt war dieses System nicht. Als die Sowjetunion 1972 die Reform ihrer Landwirtschaft mehr oder weniger aufgab und dazu überging, Getreide auf dem Weltmarkt zu kaufen, machte sie sich von diesem abhängig und leitete eine fatale Entwicklung ein, in der sie nur verlieren konnte.

Auf der anderen Seite wäre gerade in der Sowjetunion eine wirkliche Systemreform ausgesprochen schwierig gewesen. Nachdem man so lange auf dem einen Gleis der totalen Verstaatlichung und der Kommandowirtschaft gefahren war, war es kaum noch möglich, umzuschwenken. Ob es in anderen staatssozialistischen Wirtschaften möglich gewesen wäre, ist schwer zu sagen. Die Ungarn sind sehr weit gegangen, aber auch dort hat es schließlich nicht geklappt. Ob eine sozialistische Systernreform in der Tschechoslowakei, wo sie 1968 erdrosselt wurde, bessere Realisierungschancen gehabt hätte? Ich weiß es nicht.

Angesichts der offenkundigen Systemdefekte war für Sie das Jahr 1989 keine Zäsur, die überraschend kam?

Hobsbawm: Ja und Nein. Überraschend war der Zeitpunkt des Zusammenbruchs. Wäre Andropow gesünder gewesen und nicht so früh gestorben, hätte es die Sowjetunion vielleicht noch einige Jahre länger gegeben. Die Geschichte ist voll von Zufallen. Aber daß es mehr und mehr bergab und zuende ging, das war klar. Die Linke im Westen war sich schon lange der Krise bewußt. Die Besetzung der Tschechoslowakei war für sie die entscheidende Zäsur. Bis weit in die Reihen der Kommunistischen Parteien des Westens gab es große Sympathien für den Prager Frühling. Bis 1968 hatten viele die Hoffnung, daß diese Regimes aus sich heraus reformfähig sind. Damals schien es auch in Ungarn gut zu gehen, als man dort die Reisefreiheit zuließ. Der Einmarsch war ein umso schwererer Schlag. Nach der Niederwalzung des Prager Reformversuches gab es innerhalb der westlichen Linken keinen Grund mehr für Hoffnungen auf eine eigenständige sozialistische Erneuerung im Osten. Es ging bergab, und das spürte in den 70er Jahren immer stärker auch die Bevölkerung dieser Länder. Ende '68 konnte man sagen, daß die Reformchancen vertan waren.

Und wenn wir weiter zurückgehen: War der Mix zwischen Steuerung/Planung und Markt im Rahmen der NÖP in der Sowjetunion in den zwanziger Jahren eine Alternative, ein Ansatz gewesen, an dem die Geschichte einen anderen Verlauf hätte nehmen können?

Hobsbawm: Ich bin kein Experte für Sowjetgeschichte. Ich glaube, daß das System gut funktionierte als es darum ging, die ungeheuren Schäden der Revolution und der Bürgerkriegsjahre zu beseitigen. Die Probleme begannen erst, als diese Aufgabe von der NÖP gemeistert worden war. Ansonsten kann ich nur das zitieren, was uns der große sozialistische Ökonom der dreißiger Jahre, Oskar Lange, an seinem Sterbebett in London sagte: »Wäre ich in den zwanziger Jahren in Rußland gewesen, dann hätte ich Bucharins Politik der graduellen Entwicklung unterstützt. Wäre ich Berater für die sowjetische Industrialisierung gewesen, dann hätte ich flexiblere und begrenztere Ziele empfohlen. Aber wenn ich so zurückdenke, frage ich mich immer wieder: Hat es eine Alternative zu dem wahllosen, brutalen und im
Grunde völlig planlosen Vorwärtssturm des ersten Fünfjahresplanes gegeben? Ich weiß einfach keine Antwort.«

Eine andere Politik wäre mit Sicherheit möglich gewesen, die hätte aber bei weitem nicht diese große sozialistische Wirtschaft geschaffen; das wäre eine Politik der sehr viel langsameren, graduellen, gemischten Entwicklung gewesen.

Andererseits muß man betonen, daß die Wirkung von Steuerung und Planung für kapitalistische Ländern oft unterschätzt wird. Südkorea ist ein Schulbeispiel für eine streng geplante Industrialisierung; das Land fing 1962 mit seinen ersten Fünfjahrplan an. M.E. läßt sich Planung in kapitalistischen Ländern besser ausführen, nicht nur, weil sie technologisch besser ausgestattet sind mit Datenverarbeitung usw., sondern weil man die Vorzüge einer eher indirekten Steuerung der Wirtschaft, zumal wenn private und öffentliche Eigentumsformen gemischt sind, nutzen kann.

Das kurze 20. Jahrhundert ging 1989 zu Ende. Einige Bilanzen mit geradezu entgegengesetzten Wertungen liegen bereits vor: Noltes Interpretation des europäischen Bürgerkrieges und Francois Furets »Ende der Illusion« ...

Hobsbawm: Nolte geht ja bis auf Marx zurück und macht ihn verantwortlich für alle späteren Entwicklungen. Die Tatsache eines Bürgerkrieges ist unbestreitbar, aber die Wertung, daß der Faschismus nur eine Reaktion auf die Oktoberrevolution und den Marxismus war, ist absurd. Nolte spricht pro domo suo, er will die Ultrarechte in Deutschland wieder legitim machen. Furet setzt die Propaganda des Kalten Krieges fort, der verarbeitet garnichts. Er läuft gegen intellektuelle Sympathien für den Sozialismus Sturm. Da ist nicht viel dran.

Bis zum chronologischen Ende des Jahrhunderts sind es noch vier Jahre. Das läßt noch eine ganze Reihe von Bilanzen erwarten. Was würden Sie diesen nach der bisherigen Diskussion über ihr Buch an kritischen Gedanken mit auf den Weg geben?

Hobsbawm: Ich denke, daß mein Buch zwei große Lücken hat, die man in einer Geschichte des 20. Jahrhunderts füllen muß. Das eine sind die USA...

... die doch als das Jahrhundert prägende Hegemonialmacht immer präsent sind...

Hobsbawm: ... deren innergesellschaftlichen Verhältnisse und Entwicklungen wirklich unzureichend behandelt sind. Und die zweite Lücke ist China, auch ein Riesenreich, das noch stärker zu kurz kommt. Mein Vorteil gegenüber allem Nachfolgenden ist: Ich war zuerst da, alle anderen müssen sich an mir reiben, ich nicht mehr an ihnen.

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