3. November 2015 Murat Çakır: Die Parlamentswahlen in der Türkei

Angst hat gesiegt – die AKP festigt ihre Macht

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in der Türkei haben alle Beobachter*innen überrascht. Erdoğans Angst- und Eskalationsstrategie ging auf: Die Wahlergebnisse vom 7. Juni 2015 wurden zugunsten der AKP »korrigiert«. Am 1. November 2015 holte die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Hoffnung) ihre Parlamentsmehrheit zurück.

Die CHP (Republikanische Volkspartei) konnte ihre Position nicht ausbauen und bleibt die größte Oppositionspartei. Die HDP (Demokratische Partei der Völker) wurde trotz Verluste die drittstärkste Kraft im Parlament und konnte die hohe Wahlhürde wieder überwinden. Die neofaschistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ist schwer angeschlagen und bleibt die größte Wahlverliererin.

* Die Ergebnisse basieren auf den Zahlen von Cihan Haber Ajansi. In der Wahlnachtberichterstattung gab es große Unterschiede zwischen den Aussagen der Cihan Haber Ajansi und der amtlichen Anadolu Ajansi. Die Hohe Wahlkommission wird in ca. 10-11 Tagen das endgültige Wahlergebnis veröffentlichen, wobei sich durchaus geringfügige Unterschiede zwischen den Zahlen in diesem Beitrag und dem endgültigen Ergebnis ergeben können.

Von den 56.949.042 Wähler*innen gingen 47.944.013, also rund 84%, an die Urnen. Von den abgegebenen Stimmen wurden 856.659 als ungültig bewertet. Europäische Wahlbeobachter*innen meldeten aus den kurdischen Gebieten massive Militär- und Polizeipräsenz. Schwer bewaffnete Sicherheitskräfte in den Wahllokalen wurden als Bedrohungspotenzial und Einschüchterungsversuche bewertet. In den sozialen Medien wurden von zahlreichen Wahlfälschungen und Manipulationen berichtet. Da auch die öffentliche Internetseite der Hohen Wahlkommission (YSK) abgeschaltet wurde, erhoben oppositionelle Medien bereits in der Nacht Wahlfälschungsvorwürfe.

Ohne Frage, die Parlamentswahlen fanden unter äußerst widrigen Umständen statt. Aufgrund der Repressionen, der gleichgeschalteten Medien und fehlender Gewaltenteilung ist es sehr schwer, von demokratischen, gleichen und freien Wahlen zu sprechen. Und es ist auch davon auszugehen, dass Wahlfälschungsversuche stattgefunden haben, wie bei jeder Wahl. Aber diese reichen bei weitem nicht aus, um den Wahlerfolg der AKP zu erklären.

Eine Atmosphäre der Gewalt, Angst und Bedrohungen sowie die Diskreditierung von Regierungskoalitionen als Faktor der Instabilität scheinen dazu geführt zu haben, dass die sunnitisch-konservative Mehrheitsbevölkerung sich der stärksten politischen Kraft, also der AKP zugewandt hat. In der Türkei fanden konservative Parteien immer die größte Unterstützung. Die Stimmen, die die AKP am 7. Juni an andere konservative Parteien wie MHP, SP-Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) oder BBP-Büyük Birlik Partisi (Große Einheitspartei) verloren hatte, konnte sie jetzt wieder zurückholen. Wenn wir die Stimmen der AKP (49,17%), der MHP (12,05%), SP (0,68%) und der BBP (0,54%) zusammenzählen, kommen wir auf 62,44%. Am 7. Juni 2015 waren es 59,2%, das ist also keine außergewöhnliche Entwicklung.

Überraschend ist, dass die AKP innerhalb von fünf Monaten über 8,5% der Stimmen zurückholen und quasi ihr Ergebnis von 2011 wiederholen konnte. In diesem Zusammenhang sollte darauf hingewiesen werden, dass nahezu alle Umfrageinstitute der Türkei falsch lagen. Kein Institut hat ein solches Ergebnis voraussagen können. Auch ich habe mich in früheren Analysen zum größten Teil an diesen Umfragen orientiert und hinsichtlich des Wahlergebnisses falsche Schlüsse gezogen. Mit meiner These im jüngsten Beitrag zum türkischen Nationalismus, dass die Auswirkungen der ökonomischen Realität dazu führen würden, »dass der türkische Nationalismus wenig geeignet ist, bei den bevorstehenden Wahlen als Rettungsanker für den politischen Islam zu fungieren«, habe ich mich geirrt. Das entfachte nationalistische Fanal hat der AKP den Stimmenzuwachs garantiert.

Die AKP setzte von Anfang an auf eine »Stabilitätskampagne«, die darauf zielte, dass die Stabilität nur unter einer AKP-Alleinregierung gewährleistet werden könne. Regierungsnahe Medien propagierten, dass das Wahlergebnis vom 7. Juni die »Chaos-Gefahr« erhöht habe und Regierungskoalitionen die Instabilitäten fördern würden. Es war offensichtlich, dass die AKP im Westen MHP-Wähler*innen gewinnen und in den kurdischen Gebieten die Wahlbeteiligung bzw. die HDP-Unterstützung möglichst niedrig halten wollte. Im Nachhinein kann diese Strategie als erfolgreich bezeichnet werden.

Erdoğan und seine AKP drehten an der Eskalationsschraube und entfachten ein nationalistisches Fanal, das die AKP-Wähler*innen mobilisierte. Gesteuerte Pogrome, Bombenanschläge, rund 700 Tote in knapp fünf Monaten, Brandanschläge auf HDP-Büros und auf linke Einrichtungen, Ausgangssperren in den kurdischen Gebieten, Horrorszenarien in den regierungsnahen Medien, de facto Kriegszustand in Kurdistan und damit verbunden zahlreiche tote Soldaten und Polizeibeamte – all dies und vieles andere mehr führten dazu, dass die Propaganda, »ohne AKP-Alleinregierung wird das Chaos herrschen« in der Mehrheitsgesellschaft große Wirkung zeigte. In Verbindung damit erhöhte die Verschlechterung der ökonomischen Situation breiter Kreise, der Wertverlust der Türkischen Lira und Stagnation in der Wirtschaft zusätzlich die Ängste.

Die AKP konnte die Vielfachkrise, in der die Türkei steckt, diesmal für ihr »Stabilitätsversprechen« erfolgreich nutzen und mit ihrem nationalistischen Gebaren konservative Stimmen auf sich vereinen. Auch der schmutzige Krieg gegen die kurdische Bevölkerung erfüllte seinen Zweck: Insbesondere kurdische Mittelschichten und Kleinbürger sowie konservative Kurden, die am 7. Juni der HDP ihre Stimmen gegeben hatten, aber in den letzten Monaten aufgrund der Repressionsmaßnahmen in den kurdischen Gebieten massive wirtschaftliche Verluste hinnehmen mussten, wandten sich wieder der AKP zu. Die Verluste der HDP von rund 185 in den kurdischen Gebieten, besonders in den Städten, können vor allem damit erklärt werden.

Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit der Wähler*innen in der Türkei konservativ und nationalistisch orientiert ist, wurde bei den Wahlen erneut bestätigt. Eine fehlende regierungsfähige konservative Alternative und die weitgehende Kontrolle der bürgerlichen Medien, die offene Unterstützung durch die EU sowie die Erwartung, mit einer starken Regierung wieder auf einen Wachstumspfad zu kommen, hat die Mehrheit der Wähler*innen zur Stimmabgabe zugunsten der stärksten politischen Formation des türkischen Konservatismus bewogen.

Die Wahlergebnisse für die CHP und HDP sollten aber bei aller Enttäuschung nicht allein als Niederlage bewertet werden. Während bei den Wahlen am 7. Juni ökonomische Gründe eine wichtige Rolle gespielt haben, waren bei den jetzigen Wahlen Terror und Gewalt die ausschlaggebenden Faktoren. In einem Land wie der Türkei haben sozialdemokratische oder linke Parteien kaum Chancen an die Macht zu kommen, wenn Nationalismus und Gewalt die Tagesordnung beherrschen.

Weder die CHP, noch weniger die HDP konnten der Propagandamaschinerie der Staatspartei viel entgegensetzen. Die sozialpolitischen Aussagen (z.B. Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes u.ä.) erreichten aufgrund fehlender Zugangsmöglichkeiten zu den bürgerlichen Medien kaum die Öffentlichkeit. Zudem haben CHP und HDP viel weniger Wahlkampfkundgebungen durchgeführt, da sie Bombenanschläge befürchteten. Insofern kann die CHP ihr Wahlergebnis unter diesen Umständen durchaus als zufriedenstellend ansehen.

Für die HDP muss das Wahlergebnis als ein Erfolg gewertet werden, da sie trotz aller Versuche, sie unter der Wahlhürde zu halten, trotz der Angriffe und Repressionen wieder in das Parlament einziehen konnte – als drittstärkste Fraktion. Ein großer Teil der kurdischen Wähler*innen hat erneut die HDP gewählt. Die Stimmen der konservativen Kurd*innen für die HDP am 7. Juni waren aufgrund der Entwicklung in Syrien und Rojava der Partei nur »geliehen«.

Mit der Wahl vom 1. November hat sich die Klassengrundlage der HDP konsolidiert: Sie hat bei den armen kurdischen Bevölkerungsteilen die meisten Stimmen holen können. Gerade die ärmsten kurdischen Regionen haben sich als Hochburgen der HDP erwiesen. Daher wird sich die HDP fragen müssen, ob die Öffnung der Partei für Konservative eine richtige und nachhaltige Strategie war. Die Tatsache, dass zahlreiche linke und sozialistische Parteien die HDP unterstützten, und dass ernsthafte Bemühungen zur Überwindung der linken Zersplitterung unternommen wurden und dadurch die HDP sich als eine wählbare Alternative für arbeitende Klassen darstellte, macht deutlich, dass die HDP ihr schwammige Programmatik überarbeiten und sich eindeutig links positionieren muss. Darin wird die HDP ihre eigentliche Stärke finden können.

Der linksaffine Block der Wähler*innen in der Türkei ist – historisch gesehen – größer geworden. Die Stimmen für die CHP und HDP sowie für einige kleinere linke Parteien ergeben zusammen immerhin 36,98% und das sind 3% mehr als der historische Durchschnitt für linke Parteien. Dennoch, der türkische Konservatismus kann allein an der Urne nicht besiegt werden. Ohne die außerparlamentarischen Kämpfe wäre das HDP-Ergebnis wahrscheinlich niedriger ausgefallen. Aus diesem Grund wird es in den nächsten Monaten noch wichtiger werden, den außerparlamentarischen Kampf breiter aufzustellen und die vorhandenen, aber fragmentierten Widerstandsherde miteinander zu verbinden.

Diese Kämpfe werden auch notwendig sein, denn die AKP-Regierung wird, ausgestattet mit der absoluten Mehrheit im Parlament, ihre neoliberale Agenda und Kriegsrhetorik verschärfen. Die Gefahr einer militärischen Beteiligung im syrischen Bürgerkrieg hat sich jetzt potenziert. Auch wenn Erdoğan für die Einführung seines Präsidialsystems die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreicht hat, ist davon auszugehen, dass das autoritäre Regierungshandeln sich verfestigen, möglicherweise ein autoritäres Sicherheitsregime installiert wird.

Die Fortführung von militärischen Angriffen gegen die kurdische Bewegung und der Repressionen, aber auch eine Erhöhung des Drucks auf die bürgerliche Opposition sind zu erwarten. Schwierige Zeiten und neue Konflikte warten auf die Türkei. Ob die AKP-Regierung ihre Politiken nachhaltig fortführen kann, steht trotz des eindeutigen Wahlergebnisses nicht fest. Fest steht allerdings, dass die kurdische Bewegung, die Linke und die demokratischen Kräfte der Türkei mehr denn je unsere Solidarität benötigen.

Murat Çakır, geb. 1960 in Istanbul, leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.

Zurück