29. März 2010 Richard Detje

Arbeitsmarkt 2010

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat seine Frühjahrsprognose zur Arbeitsmarktentwicklung 2010 mit einer entwarnenden und einer warnenden Botschaft zugleich versehen. Die Entwarnung: "Derzeit gibt es keine Anzeichen für eine verzögerte abrupte Reaktion des Arbeitsmarktes auf die Wirtschaftskrise."

 

Der Arbeitsmarkt werde "in absehbarer Zeit stabil" bleiben.[1] Für ihre Prognose unterstellen die Forscher der Bundesagentur für Arbeit nach einem Rückgang des BIP um -5% für das laufende Jahr einen schwachen Aufschwung um 1,75%, der zur Folge hat, dass die Beschäftigung im Jahresdurchschnitt um 230.000 (-0,6%) sinkt. Die Warnung: Bei 3,5 Mio. registrierten Arbeitslosen steigt die "Unterbeschäftigung"[2] um 170.000 auf 4,6 Mio., wobei sich der Zuwachs zu zwei Dritteln auf die Langzeitarbeitslosigkeit (SGB II) konzentriert. Anders formuliert: Der Aufschwung entwickelt sich in diesem und im kommenden Jahr zu einem "jobless growth" und führt zu einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit auf erhöhtem Niveau.

Abbildung 1

Einige Wirtschaftsforschungsinstitute haben ihre Wachstumsprognosen für 2010 nach einer Stagnation im 4. Quartal 2009 und voraussichtlich 0,2% im 1. Quartal 2010 mittlerweile korrigiert – so das Essener RWI auf 1,2%.[3] Realistischer ist demnach die untere Prognosevariante des IAB (+1% BIP). Dabei sinkt die Erwerbstätigkeit um 330.000 und die Arbeitslosigkeit steigt im Jahresdurchschnitt auf 3,64 Mio. (8,7%). Im Jahresverlauf würde das einen saisonalen Anstieg auf 4 Mio. einschließen.

Abbildung 2

Aber selbst bei diesem Szenario bleibt die Zahl der registrierten Arbeitslosen noch unter der des Vorkrisenjahres 2007 (3,78 Mio.) und weit unter dem Höchststand von 2005 (4,86 Mio.). Das nicht nur in den USA gepriesene "deutsche Beschäftigungswunder" in einer historischen Krisesituation setzt sich also fort. Zeigt sich hier ein Beleg für den Erfolg einer Arbeitsmarktpolitik, die konsequent auf Flexibilisierung und Deregulierung setzt? Liefert die Weltwirtschaftskrise 2010 letztlich doch Argumente für die Agenda 2010?

Die OECD sieht das so.[4] Da ihrer Prognose zufolge die Arbeitslosigkeit in Deutschland im laufenden Jahr sogar um rund eine halbe Million steigt (BIP +1,3%), mahnt sie, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes konsequent und beschleunigt fortzusetzen. Dabei verweist sie – wie das IAB – auf die Gefahr einer "Zweiteilung des Arbeitsmarktes" mit steigender Langzeitarbeitslosigkeit und verfestigter Prekarisierung auáerhalb der Stammbelegschaften. Um das Ungleichgewicht "von regulären und nichtregulären Beschäftigungsverhältnissen" abzubauen, empfiehlt die OECD "eine Lockerung des strengen Beschäftigungsschutzes für fest angestellte Arbeitskräfte" durch:

  "Verkürzung des Zeitraums, bis eine Kündigung ausgesprochen werden kann, z.B. durch eine Reform der Zustimmungspflicht des Betriebsrats bei Kündigungen...

  Reduzierung der Frist zwischen der Mitteilung der Kündigung und der Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses für Arbeitnehmer mit langer Betriebszugehörigkeit.

  Im Fall betriebsbedingter Kündigungen Schaffung einer Wahlmöglichkeit für die Arbeitgeber zwischen der Zahlung einer Abfindung ... und der Zahlung einer höheren Entschädigungszahlung wegen ungerechtfertigter Entlassung, die den Rechtsweg ersetzen würde."[5]

 

Im Klartext: Abbau der Mitbestimmung bei Entlassungen, Verkürzung des Kündigungsschutzes, Suspendierung sozialer Rechte durch geldliche Zahlung.

Das ist nicht neu, sondern altes neoliberales Programm. Erschreckend ist, dass die Weltwirtschaftskrise zu Beginn des 21. Jahrhunderts offenkundig keine Lehren in den betreffenden OECD-Kreisen angeschoben hat. Zu einer der Lehren hätte gehört, zwischen externer Flexibilität, wie sie die OECD fordert, und interner Flexibilität, die den Beschäftigungserfolgen auf dem deutschen Arbeitsmarkt zugrunde liegt, zu unterscheiden. Ersteres erlaubt eine rasche Anpassung der Personalkapazitäten an die Auftragslage, d.h. zügige und umfängliche Entlassungen wie in den angelsächsischen Ländern mit "liberalisiertem" Kündigungsschutz, oder auch in Spanien, dort aufgrund des großen Anteils befristeter Beschäftigungsverhältnisse.

Die Folge ist, dass auf dem Arbeitsmarkt kaum noch "automatische Stabilisatoren" wirken. Schnelle Entlassungen ziehen entsprechende Einkommensverluste nach sich und verstärken so die Krise (Hystereseeffekte). Die Hartz-Gesetze (I + II) folgten in weiten Teilen dem Pfad externer Flexibilität durch Ausweitung von Leiharbeit und befristeten Beschäftigungsverhältnissen sowie geringfügiger Beschäftigung (von Mini- und Midi- bis zu Ein-Euro-Jobs) und (Schein-)Selbständigkeit. Da dies zugleich zu einer Ausweitung der Niedriglohnsektoren geführt hat, liegen die negativen Effekte für die Konjunkturentwicklung auf der Hand.

Inwieweit es per Saldo durch vermehrte Leiharbeit, Befristungen und Mini-Jobs auch zu positiven Beschäftigungseffekten gekommen ist (was die OECD unterstellt), oder ob dies weitgehend zu einer Substitution regulärer Vollzeitbeschäftigung geführt hat, ist strittig. Auch für Deutschland ist immer mehr jener Bonmot zutreffend, als im Rahmen einer Pressekonferenz des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton über die beschäftigungspolitischen Erfolge seiner Administration jemand aufstand und sagte, von den neuen Jobs habe er allein drei.

Anders liegt der Fall bei interner Flexibilität: Durch Arbeitszeitverkürzung wird die Beschäftigung auf höherem Niveau gehalten und Einkommensverluste durch Teillohnausgleiche gemildert. So ging die Jahresarbeitszeit aller abhängig Beschäftigten 2009 um 3,2% zurück, was rechnerisch einem Äquivalent von 1,2 Mio. Beschäftigungsverhältnissen entspricht, die auf diesem Weg gesichert wurden.

Die Beiträge der verschiedenen Formen der Arbeitszeitverkürzung lassen sich für 2009 folgendermaßen quantifizieren:

  Kurzarbeit: Kürzung von 15,2 Arbeitsstunden umgerechnet auf alle abhängig Beschäftigten,

  Wegfall bezahlter Mehrarbeit: 10 Stunden,

  Abbau von Guthaben auf Arbeitszeitkonten, teilweise Minus"guthaben": 8,9 Stunden,


macht zusammen eine knappe 35-Stunden-Arbeitswoche.

Hinzu kommt die Ausweitung der Teilzeitarbeit. So stand im letzten Jahr dem Abbau von 270.000 Vollzeitjobs vor allem in den stark krisenbetroffenen Industriebranchen eine Zunahme von Teilzeitjobs (inklusive geringfügiger Beschäftigung) ebenfalls um 270.000 vor allem in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Sozialwesen, Gastgewerbe, Freizeit und Wasserwirtschaft gegenüber. Dass dieser Strukturwandel in erheblichem Umfang in prekären Strukturen (geringfügige Teilzeit, Niedriglohn) verläuft, ist nicht der Sache, sondern politischen Entscheidungen geschuldet.

Das Problem für den weiteren Krisenverlauf: Zwar konnte in der Metallindustrie ein neuer Pfad tariflicher Kurzarbeit eröffnet werden, die anderen bisher praktizierten Pfade der Arbeitszeitverkürzung sind jedoch ausgereizt. Deshalb bleibt eine Debatte über neue Formen der Arbeitszeitverkürzung auf der Tagesordnung - zumal dann, wenn sich alle heute vorliegenden Konjunkturprognosen erneut als zu optimistisch erweisen sollten.

Mit der Unterstützung der OECD ist zu befürchten, dass im Herbst der Druck weiterer externer Flexibilisierung hierzulande zunimmt. Dass dies dann möglicherweise noch gekoppelt wird mit der Auseinandersetzung um die finanziellen Defizite der Bundesagentur für Arbeit, die ab 2011 von der BA selbst geschultert werden müssen und nicht mehr über den Bundeshaushalt ausgeglichen werden, ist eine besondere Absurdität. Denn Sicherung der Beschäftigung entlastet die Arbeitslosenversicherung.

Die Bundesregierung hat jedoch klar gemacht, dass auch ihre Lehren aus der großen Krise bescheiden sind. Stoisch hält sie an der Strategie exportorientierten Wachstums fest – und daran, die durch Beschäftigungssicherung bedingten Produktivitätseinbußen und Lohnstückkostenanstiege zügig wieder wettzumachen, in der irrigen Annahme, damit den Wachstumspfad aus der Krise heraus zu verbreitern. Das Gegenteil ist der Fall, wie nicht nur die Kontroverse zwischen der französischen und der deutschen Regierung, sondern auch die Empirie der beiden Staaten zeigt.[6]

Es spricht also einiges dafür, dass im Herbst zusammen mit der Rente mit 67 – ebenfalls ein Fall demontierter interner Flexibilität – eine neue arbeitsmarktpolitische Debatte ins Haus steht, auf die es sich vorzubereiten gilt.

[1] IAB-Kurzbericht 3/2010: Entwicklung des Arbeitsmarktes 2010: Die Spuren der Krise sind noch länger sichtbar, S. 4.
[2] Registrierte Arbeitslosigkeit plus Arbeitslose in Maßnahmen in Vermittlung außerhalb der BA plus Arbeitslose, die sich nicht mehr gemeldet haben, aber weiterhin nach einem Job suchen.
[3] Das ist auch die Prognose des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel.
[4] OECD: Wirtschaftsbericht Deutschland 2010. Policy Brief März 2010, Paris.
[5] Ebd., S. 5.
[6] Siehe Gustav Horn/Simon Sturn/Till van Treeck: Die Debatte um die deutsche Exportorientierung. Analysen und Berichte des IMK, Wirtschaftsdienst 2010, S. 22-28.

 

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