28. November 2011 Joachim Bischoff /Richard Detje: Das deutsch-französische Vorhaben

Auf dem Weg zum Kerneuropa

In den Entwicklungsformen der Weltwirtschaftskrise seit 2007 wurde schonungslos der zentrale Konstruktionsfehler der EU aufgedeckt. Denn seit geraumer Zeit zeigt sich, dass Europa seit den Auseinandersetzungen um den Lissabonner Verfassungsvertrag unter Stressbedingungen faktisch nicht handlungsfähig ist. Das ist der Hintergrund der Überlegungen auf dem jüngsten deutsch-französischen Gipfel.

Aber zuvor ein Blick zurück: In Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden war der Lissabon-Vertrag gescheitert, ebenso wie der nachfolgende »Reformvertrag« durch das Nein der Iren im Juni 2008. Unterschiedliche Interessenlagen unter den Euro-Staaten verhindern die Beseitigung der ökonomischen und währungspolitischen Defizite.

Zwei Jahre nach dem offiziellen Ausbruch der Verschuldungskrise in Griechenland wurde auf dem EU-Gipfel im Oktober erneut ein »Befreiungsschlag« verkündet. Dabei geht es längst nicht mehr in erster Linie um den griechischen Haushalt, sondern um die Zukunft der großen Kreditinstitute Europas, die Bonität Frankreichs und Deutschland. Mehr noch: Durch das beständige Klein-Klein steht die Zukunft der Euro-Länder selbst auf dem Spiel.

Angesichts der konjunkturellen Entwicklung steigt der Druck auf die überschuldeten Staaten. Weltweit zeigen die Frühindikatoren nach unten. Die OECD sieht in ihrem aktuellen Wirtschaftsausblick als Basisszenario von einer »milden Rezession« in der Euro-Zone im 4. Quartal 2011 und im 1. Queartal 2012. Sie will aber ein weit drastischeres »Abwärtsszenario« nicht ausschließen. Auch in den USA schwächt sich das Wachstum ab, die Gefahr einer Rezession ist gewachsen. Als größtes Risiko sehen die Ökonomen eine Verschärfung der Euro-Schuldenkrise.

Deshalb richten sich im Konjunkturabschwung auf dem Weltmarkt die Blicke auf die Euro-Zone: Kann eine leidlich sanfte Landung des ökonomischen Niedergangs noch gelingen oder wird die europäische Schuldenkrise zum Brandbeschleuniger der Großen Krise. Die vor dem Konkurs von Lehman Brothers zu niedrigen Risikoprämien auf Staatsanleihen sind für Krisenstaaten nahezu prohibitiv angestiegen. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Anstieg der Schuldenquoten der OECD-Länder um über 20 Prozentpunkte im Zeitraum 2007-2011 als Folge der transatlantischen Bankenkrise.

Vor allem in Irland und Spanien – aber auch in Großbritannien und Frankreich hat das Platzen der Immobilienspekulation zu massiver Kapitalvernichtung geführt. Während dies in Spanien aufgrund der in den zurückliegenden Jahren enorm ausgeweiteten Bautätigkeit zu einer beispiellosen Explosion der Arbeitslosigkeit führt, ist es in den beiden angelsächsischen Ländern zu einem Quasi-Kollaps des privaten Bankensystems gekommen, der nur durch umfängliche Teilverstaatlichungen abgebogen werden konnte.

Mehr als zehn Jahre nach Einführung der Gemeinschaftswährung zeigt sich, dass die Erwartungen an den Euro als Katalysator des ökonomischen Integrationsprozesses getrogen haben. Die Volkswirtschaften entwickelten sich auseinander. Dies wird beim Blick auf die Entwicklung der Leistungsbilanzen deutlich. Die bisherigen Regelungen der finanzpolitischen Auffangnetze beseitigen weder die strukturelle Schwäche der Akkumulation noch die geringere Wettbewerbsfähigkeit der Länder der europäischen Peripherie und die daraus sich ergebenden negativen Leistungsbilanzsalden. Gescheitert ist der Weg des Herauskürzens aus der Verschuldung, da dies die Krise noch vertieft. Stattdessen müsste der umgekehrte Weg gegangen werden: Stärkung der Wachstumskräfte des Binnenmarktes.

Euro-Bonds werden aus durchaus unterschiedlichen politischen Lagern als notwendiges Mittel zur Überwindung der Schuldenkrise in der Euro-Zone gehandelt. Es handelt sich dabei um Anleihen, die von den Euro-Staaten gemeinsam ausgegeben werden, um hohe Zinsen zu senken. Mit diesem Instrument wären – so die Befürworter – Staaten wie Italien oder Griechenland in der Lage, ihre Schulden zu refinanzieren und ihr Staatsdefizit – das bei hohen Zinslasten weiter verschlechtert wird – in Ordnung zu bringen.

Die Vorstellungen der EU-Kommission zielen darauf ab, dass Staaten, die sich über Euroanleihen finanzieren, weite Teile ihrer nationalen Kompetenzen abgegeben müssen. Sie müssten dann vor allem ihre Sozialausgaben senken, Massensteuern erhöhen, Privatisieren und so genannte Strukturreformen – wozu vor allem die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes zählt – angehen. All diese Maßnahmen würden von der EU überwacht und ggf. durchgesetzt.

Bundeskanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy beschreiten einen anderen Weg. Sollten sich EU-Vertragsänderungen als konfliktuell und zu zeitaufwändig erweisen, planen sie die Verabredung eines Euro-Stabilitätsvertrages auf zwischenstaatlicher Ebene. Damit wird die Strategie der intergouvernementalen Politik an den EU-Gremien – Kommission wie Parlament – vorbei entschieden vorangetrieben. Deutschland und Frankreich bereiten den vertraglichen Boden für die Entstehung einer Fiskalunion, der sich andere Euro-Staaten anschließen können.

Gedacht ist dabei in erster Linie an die so genannten Triple-A-Staaten mit bester Bonität: Neben Deutschland und Frankreich sind das die Niederlande, Luxemburg, Österreich und Finnland. Die Mitglieder dieses Kerneuropa müssten sich im Rahmen der Schuldenbremse zu harten Kontroll- und Sanktionsregeln zur Einhaltung von Stabilitätskriterien verpflichten. Diese Verpflichtung schließt Durchgriffsrechte auf die nationalen Haushalte ein und bedeutet insofern einen massiven Eingriff in die nationale Souveränität. Dieser Souveränitätsverlust erfolgt nicht mehr im Rahmen einer Stärkung Gesamteuropas und auch nicht durch den Ausbau entsprechender demokratischer Rechte des Europäischen Parlaments.

Wenn dieser Weg einer zwischenstaatlichen Fiskalunion beschritten wird, liegt es in der Logik der Sache, auch die Kreditaufnahme zu koordinieren, also gemeinsame Anleihen – Bonds – aufzulegen, die aber nicht wie von der EU-Kommission vorgeschlagen von allen Euro-Staaten, sondern nur von den Stabilitäts-Vertragsstaaten gezeichnet werden. Mit diesen Bonds könnten wiederum Kredite an jene Krisenstaaten vergeben werden, die bei Zinsen von über 7% de facto vom Kapitalmarkt ausgeschlossen werden. Neben der ESFS, die mit der Hebelung ihrer Kredite offenkundig Probleme hat, stünde mit derartigen Bonds ein weiteres Instrument im Kampf gegen die Verschuldungs- und Finanzmarktkrise zur Verfügung.

Angesichts der konjunkturellen Entwicklung nimmt der Druck auf die überschuldeten Staaten weiter zu. Das Problem in der Euro-Zone zeigt sich darin, dass die massiven Kürzungsprogramme die wirtschaftliche Talfahrt der Länder an der südlichen Peripherie beschleunigen, was wiederum im Fall der hochverschuldeten Staaten zur Erhöhung der Defizite und der Schuldenlast führt. Der IWF schätzt aktuell, dass die griechische Schuldenquote wegen der Rezession schon in diesem Jahr auf 166% des BIP und 2012 auf 189% klettern werde.

Im Fall einer sich verschärfenden Rezession – darauf hat die Ratingagentur S&P hingeweisen – würden die jetzt mühselig ausverhandelten Lösungen von EU und IMF nicht ausreichen. Zumindest nicht, um bis 2014 den gesamten, in einer Rezession wachsenden Kapitalbedarf von Griechenland, Portugal und Irland sowie 30% der spanischen und italienischen Kreditnachfrage zu decken. Bei einem abgeschwächten Wirtschaftswachstum zwischen 1,0% und 1,5% könnte der Rettungsfonds bis 2014 den Kreditbedarf Griechenlands, Portugals und Irlands sowie 10% der Erfordernisse Spaniens und Italiens decken. Daher sind konkrete Zusagen zur Haushaltskonsolidierung von weiteren gefährdeten Ländern wie Italien und Spanien gleichfalls Teil des Gesamtpakets.

Mittlerweile hängen ganze nationale Bankensysteme am Tropf der EZB. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist schleichend mehr und mehr zum wichtigsten Geschäftspartner europäischer Banken mutiert. Die Staatsschuldenkrise schürt das Misstrauen unter den Geldhäusern derart, dass sie untereinander kaum noch Liquidität handeln. Entsprechend weichen sie sowohl mit ihrer Liquiditätsnachfrage als auch mit ihrem -angebot auf die Notenbank aus. Der Druck auf die EZB wird immer größer, als Kreditgeber letzter Instanz für Regierungen mit Finanzierungsschwierigkeiten zu fungieren: Die EZB solle jetzt die »Bazooka« – den uneingeschränkten Kauf von Staatsanleihen – auspacken. Und sollte eines der Mitgliedsländer in massive Zahlungsbilanzprobleme geraten, wäre es nur ein weiterer Schritt zur Beschädigung der Währungsunion.

Erstmals ist die gemeinsame Währung gefährdet. »Selbst besonnene Leute denken darüber nach, ob ein Euro-Mitglied wie Griechenland zahlungsunfähig wird«, sagt der renommierte US-Ökonom Barry Eichengreen. Von der Insolvenz eines Mitgliedsstaates ist es nur ein kleiner Schritt zum Austritt aus dem Euro-Gefüge und zum Zusammenbruch der Währungsunion.

Technisch ist ein Euro-Austritt relativ einfach. Alle Verträge und Konten werden auf eine neue nationale Währung umgestellt. Noten und Münzen, die das nationale Zeichen tragen, werden sukzessive umgetauscht. Um spekulative Kapitalflüsse zu vermeiden und gleichzeitig eine demokratische Diskussion zu ermöglichen, ist eine provisorische Umstellung die eleganteste Lösung. Nach einem Referendum kann die provisorische Umstellung dauerhaft gemacht werden. Obzwar technisch einfach, würde es bei einem Euro-Austritt zu erheblichen Verwerfungen an den Finanzmärkten kommen. Das morsche Finanzsystem könnte zusammenbrechen. Viele Banken sind heute insolvent. Und für den oder die Austrittsstaaten würde die – weiterhin in Euro berechnete – Verschuldung aufgrund der massiven Abwertung der nationalen Währung auf astronomische Größenordnungen steigen.

Die Deutsche Bundesbank sieht den Kern der Euro-Zone aktuell nicht in Gefahr. Weder wackelten Frankreich, die Niederlande, Deutschland noch Österreich. Allerdings: Die ungelösten Schuldenprobleme und ihre Risiken belasteten auch weiterhin die Märkte. Anleihen aus Portugal kamen nach ihrer Abwertung auf Ramschniveau erneut unter Druck. Kreditausfallversicherungen (CDS) auf belgische und deutsche Staatsanleihen kletterten auf Höchststände. Weiter im Fokus steht die drittgrößte Euro-Volkswirtschaft Italien mit ihrem Schuldenberg von 120% der nationalen Wirtschaftsleistung.

Griechenland verschafft die Auszahlung der jüngsten Kredittranche in Höhe von 8 Mrd. Euro nur kurzfristig Luft. Angesichts der Krisenentwicklung und der damit absehbaren Nichtrealisierung der nächsten Vorgaben zur Verschuldungsreduktion wird auch der neue Überwachungsreport der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission zunächst wieder negativ ausfallen und dann wahrscheinlich mit noch schärferen Sparauflagen nachgebessert werden müssen.

All dies zeigt: Ohne eine umfassende wirtschaftliche Erneuerung wird die Krise nicht überwunden werden können. Diese Erneuerung ist nur mit der demokratischen Beteiligung der Bevölkerungen zu haben und nicht durch autoritäre Regime.

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