17. Juli 2011 Joachim Bischoff: Die Gefahr eines ökonomisch-finanziellen Supergaus

Auf des Messers Schneide

Das Wirtschafts- und Währungssystem der Nachkriegsordnung steht nach etlichen Umbauten auf des Messers Schneide. Bislang hat die kapitalistische Ökonomie aus schneidenden Widersprüchen immer wieder in ruhigeres Fahrwasser zurückgefunden. In den nächsten Tagen müssen aber in zwei lang verschleppten Problemfeldern folgenreiche politische Entscheidungen fallen:

Die Schuldenkrise in Europa und in den USA kann nur mit höherem politischen Einsatz in eine entwickeltere Bewegungsform gehoben werden. Selbst das bisher übliche Verfahren, durch Teillösungen neue Zeit für weitergehende Lösungen zu finden, gerät an die Systemschranke. Im Mittelpunkt stehen zum einen Griechenland und andere europäische Peripherie-Staaten sowie die möglichen Folgen eines Staatsbankrotts.

Was sind die Auswirkungen auf das europäische und globale Bankensystem? Was bedeutet ein Zahlungsfall für die Versicherungsgesellschaften und Pensionskassen? Darüber, wie eine Umschuldung, also eine partielle Zahlungsunfähigkeit Griechenlands auf die Finanzmärkte wirken würde, wird seit Monaten strittig debattiert. Unbestritten ist, dass die beständige Verschieberei der Probleme, die zeitweiligen Lösungen und die Unsicherheit über die politischen und finanziellen Folgen nur noch größere Schäden anrichten. Mit dem ständigen Aufschieben harter Entscheidungen verursachen die wirtschaftlichen und politischen Eliten in Europa zusätzliche Unsicherheiten.

Zum andern bringt die politische Auseinandersetzung um die Erhöhung der Schuldengrenze die USA an den Rand der Insolvenz. Die meisten Ökonomen stimmen darin überein, dass der Staat seine Schulden kurzfristig nicht allein durch eine Kürzung der Ausgaben in den Griff bekommt. Manche Haushaltsposten sind in der Krise automatisch gestiegen. So haben sich beispielsweise die Kosten für die Arbeitslosenhilfe zwischen 2007 und 2010 mehr als verdoppelt.

Die europäische Schuldenkrise und der Streit in den USA um die Erhöhung der Verschuldungsgrenze sorgen dafür, dass das Gold, die metallische Grundlage des Währungssystems, zu unvorstellbaren Ehren kommt. Der Preis für eine Feinunze der Krisenwährung (etwa 30 Gramm) notierte in der Spitze mit fast 1.600 US-Dollar auf einem neuen Höchststand. Die verunsicherten Anleger und Sparer suchen angesichts der möglichen Konsequenz eines allgemeinen Euro und Dollar-Wertverfalls nach einer sicheren Alternative. Dabei kommt das Edelmetall Gold mit seinem historisch gewachsenen Ruf als stabile Krisenwährung wieder zu Ehren.

Europa und Griechenland

Die Zeit der kosmetischen Maßnahmen zur Eindämmung der Schuldenkrise ist vorbei. Der Euro-Schutzschirm wird nicht weiterhelfen. Nach der für diesen Herbst geplanten Aufstockung wird er nur über 440 Mrd. Euro verfügen. Diese Obergrenze wurde für ein Hilfspaket berechnet, das Spanien einschließt. Kommt Italien hinzu, wäre der Schirm zu klein. Es geht also um eine großflächigere Sanierungsoperation.

Die Staats- und Regierungschefs der 17 Euro-Länder wollen auf einem Sondertreffen über einen Durchbruch in Sachen Schuldenkrise beraten. »Unsere Agenda wird die Finanzstabilität im Euro-Raum als Ganzes sowie die zukünftige Finanzierung des griechischen Hilfsprogramms sein, daher sind die Finanzminister gefordert, Lösungen auf den Tisch zulegen.« (EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy :)

Nach Einschätzung der Mehrzahl der Finanzexperten hat Griechenland keine Chance mehr, um eine Insolvenz und damit eine Umschuldung herumzukommen. Aber auch jede finanzpolitische Umschuldung bliebe eine Trockenübung, wenn die reale Wirtschaft – damit die Einkommen für Unternehmen, Lohnabhängige und Bezieher von sonstigen sekundären Einkommen – sich in einer Abwärtsspirale befindet. Die griechische Ökonomie ist im 2010 um 4,4% (BIP) geschrumpft und nach den aktuellen Prognosen der EU-Kommission vo0 Juli 2011 zeichnet sich für das laufende Jahr eine weitere Kontraktion von 3,8% des BIP ab.

Diese Konstellation ist der Hintergrund für die harte Haltung von Bundesbank-Chef Jens Weidmann, der vor einer Umschuldung Griechenlands warnt: »Griechenland konsumiert deutlich mehr als es erwirtschaftet, der Staatshaushalt weist hohe Defizite auf… So lange sich daran nichts ändert, schafft selbst ein Schuldenschnitt keine wirkliche Besserung.«

Einmal unterstellt, die Euro-Staaten akzeptieren endlich diese Grundlage und statten die griechische Politik mit zusätzlichen Ressourcen und Vorschlägen für einen wirtschaftlichen Erholungsprozess aus, was folgt daraus für die Höhe der Schulden und für die griechische Konjunktur? Die gesamte Staatsschuld beträgt rund 360 Mrd. Euro und ein Grossteil der Bonds (Schuldpapiere) ist im Besitz der griechischen Banken und Versicherungen sowie den entsprechenden Finanzmarktakteuren in anderen europäischen Ländern, namentlich Deutschland und Frankreich. Angesichts der Tatsache, dass die Obligationen bereits stark an Wert verloren haben, sollte ein formaler Bankrott eigentlich keine großen Folgen mehr haben für die Banken. Die Wirtschaft in Griechenland würde allerdings ähnlich wie zuvor in anderen insolventen Ländern für eine bestimmte Zeit lahm gelegt.

»Die griechische Schuldenlast ist tragbar, aber es steht, wie wir sagen, auf Messers Schneide«, sagte der Leiter der IWF-Mission in Griechenland, der stellvertretende IWF-Europachef Poul Thomsen, in einem Interview mit der Zeitung »Ethnos«. Die beschlossenen Maßnahmen müssten »wie geplant angewendet werden, oder die Tragbarkeit der Schulden wird in Frage gestellt werden«.

Der IWF hatte bereits Mitte 2010 mit den Euro-Ländern und der EU-Kommission ein Hilfspaket für das vom Bankrott bedrohte Griechenland mit einem Umfang von 110 Milliarden Euro zusammengestellt. Damit war das Land zunächst von der Notwendigkeit enthoben, sich auf den internationalen Finanzmärkten neue Kredite besorgen zu müssen. Solch neue Kredite wären nur zu Zinssätzen von deutlich über 10% zu haben gewesen, was einen programmierten Konkurs nach sich gezogen hätte. Heute erklärt der IWF, Athen benötige weitere 100 Milliarden Euro, um einen Zahlungsausfall zu verhindern. Das Geld müsse von der EU und privaten Gläubigern kommen.

Ein Zinssatz für die Hilfskredite von ca. 5% unterstellt, könnte – unter der Voraussetzung der Stabilisierung der nationalen Ökonomie – eine Sanierung gelingen. Griechenlands Schuldenstand wird seinen Höhepunkt in ein bis zwei Jahren erreichen und dann stetig sinken, das meint der IMF mit seiner These von des »Messers Schneide«. Ohne eine Rekonstruktion der Volkswirtschaft wird das aber nicht gelingen.

Die Akteure auf den Finanzmärkten hegen allerdings starke Zweifel daran, dass den Regierungen, dem IMF und der EU eine Erweiterung der Rettungsoperation durch ein zusätzliches Finanzpaket und Mittel für die Konsolidierung der Ökonomie noch gelingen werde. »Diese von Griechenland ausgelöste Vertrauenskrise gefährdet inzwischen den Euro als Ganzes. Deshalb müssen wir dieses Problem überzeugend angehen«, schlussfolgert der bundesdeutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble.

Was heißt dies konkret? Die Euro-Länder müssten einen Aufkauf der Schuldpapiere zu deutlich berichtigten Preisen – sagen wir ca. 50-60% beschließen, was ein Gesamtvolumen von ca. 180 bis 200 Milliarden Euro an Abschreibungen bedeutete. Die Sekundäreffekte könnten nur eingegrenzt werden, wenn Banken, Versicherungen bei dem auf sie entfallenden Teil der Wertberichtigungen auf staatliche Unterstützung zählen könnten.

Es wird nicht bei einer Umschuldung Griechenlands bleiben können. Durch eine Umschuldung müsste der Nominalwert der ausstehenden Anleihen markant gesenkt werden – bei Griechenland beispielsweise um 50%, bei Irland und Portugal etwas weniger. Gleichzeitig müssten die Laufzeiten verlängert und die Zinsen auf ein vernünftiges Niveau festgesetzt werden (z.B. 4 bis maximal 5% auf 30-jährige Bonds).


Der für den Herbst neu konzipierte europäische Rettungsschirm EMS könnte nach einer deutlichen Aufstockung und nach Ratifizierung durch die Länderparlamente zu einem solchen Schritt befähigt werden. Die EZB könnte als Alternative mit dem Hinweis auf Marktversagen zwischenzeitlich direkt eingreifen. Längerfristig kommen dann die Euro-Länder allerdings nicht um Formen des Finanzausgleichs und der gemeinsamen Regulierung der Ökonomien herum. Zum einen müssen die Haushalte über Sparmaßnahmen, Steuererhöhungen und strukturpolitische Konjunkturmaßnahmen ins Lot gebracht werden, zum andern müssen sich die Kontrollen der Mitgliedstaaten und die Transparenz der Staatshaushalte erhöhen.

Der US-Schuldenstreit

Auch die USA riskieren eine neue Finanzkrise. Bis Anfang August 2011 muss die Schuldenobergrenze in den USA angehoben sein, wenn eine Zahlungsunfähigkeit der USA vermieden werden soll. US-Präsident Barack Obama und dem politischen Establishment bleiben nur noch wenige Tage, um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden.

Nie standen sich Demokraten und Republikaner unversöhnlicher gegenüber: 2.000 Milliarden US-Dollar Einsparungen fordert das republikanische Lager über zehn Jahre, um teure Sozialprogramme wie Medicare zu schleifen und die US-Wirtschaft bis zu den Präsidentschaftswahlen zurück in die Rezession zu schicken.

Die Demokraten indes wollen Unternehmen und Reiche höher besteuern. Überwiegend sollen die unter Präsident George Bush jr. beschlossenen Steuersenkungen für Reiche nicht verlängert werden. Die Auseinandersetzung um die Schuldengrenze darf allerdings nicht davon ablenken, dass die US-Ökonomie massiv schwächelt und eine Sanierung der öffentlichen Finanzen allein durch Kürzungen die Strukturprobleme der Ökonomie verschärfen würde. Gleichwohl ist das politische Geschehen auf die kurzfristige Problemkonstellation fixiert: Die Republikaner kritisieren die vom Weißen Haus geplanten Steuererhöhungen zur Reduzierung des Haushaltsdefizits, die Demokraten im Kongress stellen sich gegen Obamas Pläne, Regierungshilfen für Senioren und Arme zu kürzen.

Selbst bei einer Verständigung über die Erhöhung der Schuldengrenze ist keineswegs geklärt, wie der weitere Weg der USA in die Schuldenfalle vermieden werden kann. Tatsächlich zeigen die Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF), dass mit der gegenwärtigen Fiskalpolitik der USA die Schulden bis im Jahr 2016 über 21 Billionen US-Dollar liegen werden und der Schuldenstand fortwährend von heute 101% auf fast 112% vom Bruttoinlandsprodukt zunehmen werde.


Der Grund dafür ist, dass die USA eines der wenigen kapitalistischen Hauptländer sind, deren geplante fiskalpolitische Anpassung zwischen 2009 und 2016 geringer ausfällt als zur Stabilisierung der Staatsschulden notwendig. Gemäß Schätzungen müssten die USA sofort das Budgetdefizit um 1,6% vom BIP jährlich reduzieren, um auf einen nachhaltigen Schuldenpfad zu gelangen. Obama hat daher ein Sparziel von 4 Billionen Dollar für den Zeitraum von zehn Jahren vorgestellt. Dies entspricht 240 Mrd. Dollar pro Jahr. Ein Kompromiss, der die Erreichung des nachhaltigen Pfades sicherstellt, sollte also von Ausgabensenkungen und/oder Einnahmenerhöhungen von mindestens 2.400 Mrd. Dollar ausgehen.


Schon im Juni hatten beide Parteien unter Führung von Vizepräsident Biden an einem deutlich weniger ambitionierten Paket über 2.000 Mrd. Dollar gearbeitet. Eine Einigung kam damals nicht zustande. Obama drängt die Republikaner weiterhin zu einem Kompromiss. Aber auch bei einem 2.400-Milliarden-Dollar-Sparpaket müsste der Kongress die Schuldenobergrenze auf 19.800 Milliarden Dollar anheben, um die Diskussion bis 2016 ad acta legen zu können.

Für die USA wie für die Euro-Ländern gilt gleichermaßen: Die Zeit der einfachen Lösungen und der zeitlichen Streckungen ist abgelaufen. Wenn die politischen Eliten nicht die Konzentration und Entschiedenheit für weitergehende Lösungen aufbringen, wird sich der Würgegriff der Finanzmärkte verstärken. Eine neue noch schwieriger zu handhabende Etappe Große Krise wäre die Folge – mit weit reichenden Konsequenzen vor allem für die weniger Betuchten dieser Erde.

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