14. Mai 2011 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Die aktuellen Konjunkturprognosen

Aufschwung, mehr Steuern und der Mythos »Schuldenbremse«

Der Konjunkturaufschwung läuft weiter gut, wenngleich dies vor allem eine Sonderentwicklung in Deutschland markiert. Zu Recht wird davon gesprochen, dass sich für Europa eine allmähliche Verfestigung des Wirtschaftsaufschwungs abzeichnet und Deutschland dabei die Rolle eines Motors einnimmt, allerdings verweisen die politischen Umwälzungen in Nordafrika und im Nahen Osten sowie die Katastrophen in Japan auf deutliche Risiken.

Unbestreitbar ist zudem, dass weiterhin große Unterschiede zwischen den einzelnen EU-Staaten bestehen: Während das BIP in Deutschland um 1,5%, in Frankreich, Belgien und Österreich um 1,0% und in den Niederlanden um 0,9% zulegte, verzeichnete Italien lediglich eine Stagnation (plus 0,1%) und Spanien ein mageres Plus von 0,3%. Portugals Wirtschaft schrumpfte um 0,7%, während die Griechenlands zwar um 0,8% wuchs, dabei aber das Vorjahresniveau um 4,8% verfehlte.

Das starke Wirtschaftswachstum von 5,2% gegenüber dem ersten Vierteljahr 2010 in Deutschland ist ein Rekordwert. In einem atemberaubenden Tempo hat die deutsche Wirtschaft den tiefsten Einbruch in der Nachkriegsgeschichte hinter sich gelassen und ist nach einem Einbruch des (realen) Bruttoinlandsprodukts von 4,7% in 2009 im letzen Jahr wieder um 3,6% gewachsen. Diese Entwicklung hat sich nach einer Abkühlung im IV. Quartal 2010 im Frühjahr 2011 fortgesetzt. Das BIP ist nach einer Mitteilung des Statistischen Bundesamts im ersten Quartal dieses Jahres – preis-, saison- und kalenderbereinigt – um 1,5% gegenüber dem Vorquartal gewachsen. Damit wurde das Vorkrisenniveau von Anfang 2008 bereits jetzt wieder überschritten. Im Vorjahresvergleich legte die Wirtschaftsleistung sogar so stark zu wie seit Anfang der 1990er Jahre nicht mehr, nämlich um 5,2%.

Positive Impulse kamen im Vergleich mit dem IV. Quartal 2010 vor allem von der Binnenwirtschaft. Sowohl die Investitionen in Ausrüstungen und in Bauten als auch Konsumausgaben haben zum Teil deutlich zugenommen. Zwar nahmen auch die Im- und Exporte zu, hatten aber einen geringeren Anteil am BIP-Wachstum als die inländische Verwendung.

Diese Entwicklung hat selbstverständlich auch ihre positiven Wirkungen auf die Steuereinnahmen des Staates. Faktisch parallel zur frohen Botschaft aus Wiesbaden konnten denn auch die staatlichen Steuerschätzer eine deutliche Entspannung bei den öffentlichen Finanzen verkünden. Der wirtschaftliche Aufschwung, durch den Deutschland zur europäischen Konjunkturlokomotive geworden ist, hat auch die Steuern wieder deutlich kräftiger sprudeln lassen. Sie waren in der Wirtschaftkrise um 6,6% gesunken (absolut um 37,2 Mrd. Euro), also noch stärker als das BIP. Im Jahr 2010 sind sie wieder leicht gestiegen (1,3%). Und da die Konjunktur auch in diesem Jahr weiter Dampf hat, ist steuerpolitischer Optimismus angesagt.

Im Vergleich zum Mai 2010 kommen die Schätzer zu der Prognose, dass die Steuereinnahmen im Zeitraum 2011-2014 um beeindruckende 180,9 Mrd. Euro (bezieht man die schon optimistischere November-Schätzung mit ein, sind es immer noch 135,3 Mrd. Euro) höher liegen werden als damals vorhergesagt. Damit erreichen die Steuereinnahmen schon 2011 fast wieder das Niveau der Vorkrisenzeit. Zugrunde liegt dabei die Annahme, dass das reale BIP in diesem Jahr um 2,6%, im Jahr 2012 um 1,8% und in den Folgejahren um 1,6% wächst. Für 2012ff. ist eine leichte konjunkturelle Dämpfung also schon »eingepreist«.

Vom Steuerplus sollen alle staatlichen Ebenen profitieren: der Bund mit zusätzlichen Einnahmen von 83,3 Mrd. Euro (+9,0%), die Länder mit einem Plus von 66,6 Mrd. Euro (+7,7%) und die Gemeinden, die auf 29,8 Mrd. Euro (+10,1%) bisher nicht eingeplante Steuereinnahmen hoffen dürfen. Relativ am stärksten ist der Zuwachs bei den Gemeinden, die allerdings auch in der Wirtschaftskrise am meisten gebeutelt wurden. Zudem erreichen sie nach der Prognose ihr Einnahmeniveau von vor der Wirtschaftskrise erst wieder 2012.

Gleichwohl ist der überschäumende Optimismus nicht berechtigt. Es ist naiv, die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die nächsten Jahre einfach fortzuschreiben. Im grellen Kontrast zur wirtschaftlichen Lage hierzulande stellt sich die Situation in vielen europäischen Ländern, in den USA und auch Japan dar. Der Aufschwung in Deutschland basiert zum Teil darauf, dass durch die im Eiltempo im letzten Jahrzehnte durchgedrückte Prekarisierung der Lohnarbeit und den daraus resultierenden Druck auf die Löhne die Konkurrenzfähigkeit dieses Landes enorm gesteigert, damit aber auch seine Exportabhängigkeit deutlich verstärkt wurde. Eine Abschwächung oder gar Einbruch der Weltkonjunktur würde die Sonderkonjunktur deshalb abrupt beenden.

Hinzu kommt die anhaltende Krise der Europäischen Union. Der IWF warnt zu Recht vor dem Risiko eines wirtschaftlichen Rückschlags. Die wirtschaftliche Strangulierung der Krisenländer (Griechenland, Portugal, Irland und Spanien) ist perspektivlos und droht die europäische Konstruktion zum Einsturz zu bringen. Statt allfälliger Unterstützungsmaßnahmen zur Stabilisierung der Wertschöpfung dieser Länder, dominiert ein hartes europäisches Austeritätsregiment, das den betroffenen Bevölkerungen faktisch die demokratische Kontrolle über ihre Länder entzieht und ihre Lebensverhältnisse durch jede neue Anpassungsmaßnahme rapide verschlechtert. Eine Lösung der Schuldenkrise wird auf diese Weise nicht erreicht. So droht das Szenario einer naturwüchsigen Entwertung der überbordenden Schuldtitel und des Endes des europäischen Traums – mit dem entsprechenden realwirtschaftlichen Folgen.

Diese realen Bedrohungen finden in den Steuerprognosen der amtlichen Schätzer keine Berücksichtigung. Insofern stehen die Vorhersagen mindestens für die Jahre 2013ff. auf tönernen Füßen. Tatsache aber bleibt, dass sich die finanzpolitischen Spielräume aktuell deutlich vergrößert haben, die man nutzen könnte, um den Krisenszenarios vorzubeugen. So ließe sich etwa die Binnenkonjunktur durch eine Verbesserung der sozialen Leistungen (Hartz IV etc.), die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und massive Investitionen in die darniederliegende öffentliche Infrastruktur stärken und damit zugleich die Exportabhängigkeit mildern. Man könnte auf europäischer Ebene auf eine geordnete Abwertung der Schuldtitel und ein europäisches Investitionsprogramm hinwirken, die gerade den Krisenländer wieder eine Perspektive gäbe.

All das aber hat die schwarz-gelbe deutsche Bundesregierung selbstverständlich nicht im Sinn. Deren Finanzminister hat schon im Vorfeld der Bekanntgabe der Steuerschätzung deutlich gemacht, dass sich die BürgerInnen von Steuermehreinnahmen nichts erwarten dürfen. Das Geld werde erstens zum Löcherstopfen gebraucht, um die Vorgaben der in einer Allparteienkoalition (mit Ausnahme der LINKEN) beschlossenen Schuldenbremse einhalten zu können. Die Bundesregierung werde deshalb auch an ihrem strikten Sparkurs festhalten. So soll es z.B. auch bei den im Jahr 2010 beschlossen Kürzungen für die aktive Arbeitsmarktpolitik in Höhe von 16 Mrd. Euro bis 2014 bleiben, deren Folgewirkungen schon bei Ländern und Kommunen angekommen sind (z.B. ersatzlose Streichung der Ein-Euro-Jobs)

Zweitens verweist Schäuble auf eine »Fülle von Risiken« für die Finanzplanung der nächsten Jahre. Eigentlich war für das nächste Jahr mit Einnahmen aus einer Finanzmarktsteuer kalkuliert worden. Es gibt dazu auf europäischer Ebene keinen Beschluss und der dürfte auch nicht zu erreichen sein. Die geplante Energiewende wird zudem für die Republik eine große Belastung, denn die geplanten Einkünfte aus der Brennelementesteuer dürften deutlich geringer ausfallen. Schließlich kann eine Tendenz zur Erhöhung der Zinsen nicht ausgeschlossen werden. Ein Anstieg der Zinsen um einen halben Prozentpunkt würde den Bundesetat jährlich mit 1,5 Mrd. Euro belasten. Das größte Risiko ergibt sich sicherlich durch die Schuldenkrise auf europäischer Ebene. Deutschland muss ab 2013 fünf Raten in den neuen Euro-Stabilitätsmechanismus (ESM) einzahlen – insgesamt knapp 22 Mrd. Euro. Schwieriger zu kalkulieren sind die Verpflichtungen aus den Rettungsoperationen für die europäischen Banken, die hinter den Notkrediten für Griechenland, für Irland und Portugal stehen.

Drittens wehrt Schäuble sowohl Ausgaben für eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Beschäftigung ab, wie für Maßnahmen zur Bekämpfung der sozialen Spaltung mit dem Argument ab: Trotz aller Mehreinnahmen erhöht der Bund Jahr für Jahr seinen Schuldenberg. Für 2011 rechnet der Finanzminister mit einer Neuverschuldung von unter 40 Mrd. Euro. Nach Vorgabe der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse muss der Bund sein Defizit bis 2016 auf rund zehn Mrd. Euro reduzieren. Schuldenabbau habe deshalb Priorität. Kurs halten und den eingeschlagenen Konsolidierungsweg fortsetzen, sei oberste PolitikerInnenpflicht.

So bleibt es denn beim Elend schwarz-gelber Politik, die die soziale Spaltung vertieft, die Vermögensbesitzer schont, die öffentliche Infrastruktur weiter verkommen lässt und Europa den Rechtspopulisten in die Arme treibt. Aber auch die Mehrheit der Bevölkerung in der »europäischen Konjunkturlokomotive« hat vom XXL-Aufschwung bezogen auf ihre Lohneinkommen wenig und vom Staat nichts zu erwarten.

Trotz des medial bestärkten Wachstumsoptimismus wird sich ihnen mehr und mehr die Einsicht aufdrängen, dass die Vertreter der geringen Steuerlast und des »schlanken Staates« ihren Lebensverhältnissen nicht gut tun. Kann DIE LINKE ihre Alternativen zu dieser Art von »PolitikerInnenpflicht« nicht deutlicher machen und besser vermitteln, droht auch bei uns ein Heraufwachsen des Rechtspopulismus, wie wir ihn zuletzt bei den »wahren Finnen« gesehen haben. Dann dürfte auch dieses Land von jener Gattung rechtspopulistischer Politiker nicht verschont werden, die darauf spezialisiert ist, Sündenböcke für die Fehlentwicklungen in den Verteilungsverhältnissen vor allem bei gesellschaftlichen Minderheiten und Randgruppen zu suchen. Keine schönen Aussichten.

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