15. April 2016 Joachim Bischoff / Björn Radke

»Brexit« oder EU-Reform?

In Großbritannien beginnt die offizielle Kampagne für das EU-Referendum, über das am 23. Juni abgestimmt wird. Es sieht nach einem knappen Abstimmungsergebnis aus. Die Befürworter einer EU-Mitgliedschaft Großbritanniens haben in den letzten Wochen aufgeholt.

Zu Beginn der Kampagne zeigt die Umfrage ein Kopf-an-Kopf-Rennen. 38% der Befragten in Großbritannien sprechen sich für einen Brexit aus, 39% wollen in der EU bleiben. 17% erklären sich noch als unentschlossen. So die neueste Umfrage des britischen Meinungsforschungsinstitutes YouGov.

Der Zuwachs an Zustimmung für die Pro-Europäer hat auch mit einem signifikanten Einbruch des Vertrauens der Wähler in Premierminister Cameron zu tun. Erstmals genießt laut diesen Umfragen der Labour-Chef Jeremy Corbyn mehr Vertrauen (28% der Befragten) als Cameron (21%). Die Affäre um die Panama Papers und das zögerliche Eingeständnis Camerons, selber Anteile an einer dortigen Briefkastenfirma besessen zu haben, haben den Konservativen offenkundig geschadet.

Die Referendumsfrage spaltet sowohl die Labour-Opposition als auch die konservative Regierungspartei. Camerons Partei und das Kabinett sind tief gespalten, Londons populistischer Bürgermeister Boris Johnson hat sich den Unterstützern eines britischen Austritts angeschlossen.

Bemerkenswert ist der Positionswechsel von Labour-Chef Corbyn: Ein Ja zum Verbleib in der EU wäre »im besten Interesse des Volkes dieses Landes«. Er korrigiert damit seine Position, was auch bemerkenswert ist. Corbyn hatte 1975 bei einem Referendum über den Beitritt Großbritanniens zur damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mit Nein gestimmt. Er habe seitdem seine Meinung zu Europa geändert. Die EU habe Jobs geschaffen und biete heute Schutz für »Arbeiter, Konsumenten und die Umwelt«.

Zwar gehe er wegen anhaltender Defizite nach wie vor kritisch mit der EU um, aber daher werbe er für ein »bleiben und reformieren«. Nach wie vor benennt er die Schwächen der EU. »Europa muss sich verändern, aber der Wandel kann nur gelingen, wenn wir mit unseren Verbündeten in der Europäischen Union zusammenarbeiten.« Nötig sei ein gerechteres Europa.

In Großbritannien deutet sich also eine Verschiebung in den politischen Kräfteverhältnissen an. Labour führt aktuell mit drei Prozentpunkten Vorsprung vor den Konservativen mit 34% Zustimmung. Noch im Dezember 2015 verfügten die Torys über einen Vorsprung auf die wichtigste Oppositionspartei von nicht weniger als zehn Prozentpunkten.

Großbritannien war und ist seit langem ein unbequemes Mitglied der europäischen Staatenunion. Kein anderes Mitgliedsland hat sich so viele Ausnahme- und Sonderregelungen von den vereinbarten Regeln der Wirtschaftsunion ausbedungen. Gleichwohl hat die EU in den Augen vieler britischer BürgerInnen ein miserables Image. Es geht um undemokratische Strukturen, Unfähigkeit und Unwilligkeit zur Veränderung. Für viele AustrittsbefürworterInnen ist das Argument wichtig, die EU sei im 20.Jahrhundert stehen geblieben. Angesichts der Blockkonfrontation wollten auch die Europäer einen eigenen Block bilden. Heute werden die Weichen aber auf globaler Ebene gestellt, und da sei die Mitgliedschaft in der EU oft ein Hindernis oder eine Bremse für die Durchsetzung nationaler Interessen.

Brexit-BefürworterInnen schimpfen laut auf EU-Verordnungen, mit denen Brüssel die Briten plage. Boris Johnson, ein Wortführer des Brexit-Lagers, reißt gerne Possen über absurde EU-Vorschriften. So gibt er etwa zum Besten, die EU verbiete es, Teebeutel zu recyceln, und untersage Kindern unter acht Jahren, Luftballons aufzublasen. Fakt ist: Es gibt kein Verbot, Luftballone aufzublasen, aber die EU schreibt Luftballonproduzenten vor, gewisse Warnungen auf die Packungen zu schreiben. Das »Teebeutelverbot« gab es, aber es stammte nicht aus Brüssel, sondern von der Lokalbehörde im walisischen Cardiff und hatte mit der Maul- und Klauenseuche von 2001 zu tun. Offenkundig werden die Debatten um das Referendum mehr von Stimmungen und Ressentiments dominiert, den von um sozial-ökonomischen Fakten.

Für viele KommentatorInnen und PolitikerInnen ist ein Austritt eine denkbare Option. Auch nach den Ergebnissen der Bleibeverhandlungen mit Brüssel wird dem »Brexit« eine Wahrscheinlichkeit von wenigstens rund 30% vorausgesagt. Was aber wären die ökonomischen Konsequenzen eines Alleinganges der Insel? Hier kann es keine eindeutigen Antworten geben. Die entscheidenden Dimensionen: Wie lange wird die Unsicherheit über den zukünftigen Weg des Vereinigten Königreichs anhalten? Wie wird die Handelsbeziehung mit der EU ausfallen? Und welche Auswirkungen hat ein »Brexit« auf die langfristigen Wachstumsmöglichkeiten?

Die britische Notenbank hat das Referendum Ende Juni als größtes heimisches Risiko für die Finanzstabilität in der kurzen Frist bezeichnet. Im Fall der Zustimmung zu einem »Brexit« kann es laut dem finanzpolitischen Ausschuss der Bank of England zu einer Phase der Unsicherheit und damit zu erhöhten Gefahren kommen. Das Magazin Economist verweist darauf, dass rund 45% der britischen Exporte in andere EU-Länder gehen, und dass die Atmosphäre zur Aushandlung eines Handelsabkommens im Gefolge eines »Brexit« vermutlich frostig sein dürfte. Zudem hat die EU Nichtmitgliedern wie Norwegen und der Schweiz gegenüber deutlich gemacht, dass sie nur dann einen uneingeschränkten Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkt haben können, wenn sie die meisten ihrer Regeln akzeptieren – darunter die Freizügigkeit – und zum EU-Haushalt beitragen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) sieht in dem möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU eine erhebliche Bedrohung für die globale wirtschaftliche Stabilität. Schon jetzt habe das geplante Referendum »Unsicherheit für Investoren geschaffen«, heißt es in dem neuen Weltwirtschaftsausblick. Ein »Brexit« könnte »schwerwiegenden regionalen und globalen Schaden anrichten«, indem er bestehende Handelsbeziehungen und Finanzströme abbreche. Auf einen EU-Austritt würden wahrscheinlich langwierige Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU über eine Neuordnung der Beziehungen folgen, »die eine ausgedehnte Periode der Unsicherheit« mit entsprechenden Auswirkungen auf die Märkte zur Folge hätten.

Der Hinweis auf die ökonomischen Folgen der Unsicherheit ist kein Hirngespinst. Die britische Währung befindet sich wegen unsicheren Verbleibs in der EU im Abwärtstrend. Seit November des vergangenen Jahres hat das Pfund bis zu 14% zu Euro und Franken verloren und gut 10% zum Dollar.

Der britische Industrieverband CBI rechnet laut internen Studien bei einem Austritt aus der EU mit massiven finanziellen Schäden und Arbeitsplatzverlusten. Bis zum Jahr 2020 könnten sich die Kosten auf 100 Mrd. Pfund (140 Mrd. Fr.) summieren, auf dem Arbeitsmarkt 950.000 Jobs verloren gehen. Auch die für Großbritannien wichtige Finanzbranche ist kritisch. Im Falle eines »Brexit« würden viele Akteure des Finanzplatzes London ihre über EU-Gesetze geregelten Geschäftsmöglichkeiten in anderen europäischen Ländern verlieren. Die Frage ist, wie schnell sich dieses Problem durch neue Handelsvereinbarungen Großbritanniens beheben lässt.

Hintergrund dieser skeptischen Bewertungen eines »Brexits«: Europa repräsentiert noch die größte Volkswirtschaft der Welt, und seine Bevölkerung ist mit nahezu 500 Millionen deutlich größer als die der USA (325 Millionen). Es hat den weltgrößten Markt, repräsentiert 17% des Welthandels und erbringt die Hälfte der weltweiten Entwicklungshilfe. Das Pro-Kopf-Einkommen in den USA ist höher, doch was Humankapital, Technologie und Exporte angeht, steht Europa wirtschaftlich ohne Weiteres auf derselben Stufe.

Nicht zu unterschätzen ist die Sprengkraft eines »Brexits« für die innere Verfassung des Königsreiches. 2014 stimmte Schottland in einem eigenen Referendum für den Verbleib im Vereinigten Königreich, aber bei den britischen Parlamentswahlen acht Monate später gewannen die Nationalisten fast alle schottischen Sitze. Angesichts der europafreundlicheren Stimmung in Schottland glauben viele, dass ein »Brexit« zu einem weiteren Referendum über die Unabhängigkeit führen könnte. Cameron könnte als der Premierminister in die Geschichte eingehen, der half, ein Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreiches (und möglicherweise Europas) herbeizuführen.

Für die EU bedeutete der Austritt eine massive Verschärfung der ökonomischen und politischen Krise. Im Jahr 1973 trat Großbritannien der späteren Europäischen Union bei. Großbritannien ist die fünftgrößte Wirtschaftsmacht und hat einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Verließe Großbritannien die EU, wäre Amerikas engster Verbündeter marginalisiert und das ganze europäische Konstrukt liefe Gefahr, zu genau dem Zeitpunkt auseinanderzufallen, an dem die Globalökonomie vor neuen Wirtschafts- und Sicherheitsbedrohungen steht.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) warnt daher zu Recht vor einem Verlust des Vertrauens in die EU und der Gefahr einer »Implosion«. Das Vertrauen vieler Menschen in »Institutionen insgesamt, egal ob national oder europäisch«, sei verloren gegangen. Er sehe wegen europafeindlicher Bewegungen in den Mitgliedsländern die Gefahr einer »Implosion der EU«. »Wenn die Briten die EU verlassen, wird es Forderungen nach weiteren Austrittsreferenden geben.« Zwar seien die Europafeinde in Europa noch in der Minderheit. Allerdings sitze die schweigende Mehrheit dem Trugschluss auf, dass am Ende alles gut gehen werde. Das »Nein« der Niederländer beim Referendum über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine zeige, dass darauf kein Verlass sei.

In der Tat ist der Ausgang des Referendums über den Ukraine-Vertrag eher ein negatives Votum über die EU. Schon 1992 sagten die DänInnen »Nein« zum Maastrichter Vertrag. In Irland bedurfte die Ratifizierung von EU-Verträgen mehrfacher Anläufe. Im Jahr 2005 lehnten die NiederländerInnen im Gleichschritt mit den FranzösInnen mehrheitlich den EU-Verfassungsvertrag ab. Nachverhandlungen – mit wenig eleganten Kompromissen – ermöglichten Auswege.

Das Votum der NiederländerInnen gibt den »Brexit«- BefürworterInnen und den rechtspopulistischen EU-Kritikern Auftrieb. Der niederländische Abgeordnete Geert Wilders begrüßte das Ergebnis. Die NiederländerInnen hätten sich gegen die »europäische Elite« gewandt. »Das ist der Anfang vom Ende der EU.« Der Rechtspopulist twitterte: »Große Mehrheit der Wähler ist dagegen, das ist fantastisch.«

In vielen Ländern drängen rechtspopulistische bis rechtsextreme Kräfte nach vorn. Die Entwicklung in Europa geht nach rechts. Die Ursachen liegen in den großen Herausforderungen: Drohung einer neuen Wirtschaftskrise, Abstiegsängste in den ausgebauten Sozialstaaten, Angst vor Überfremdung, besonders durch die Muslime. Die politische Kampagne um einen möglichen Austritt Großbritanniens wird in den nächsten Monaten ganz Europa in Atem halten.

Das nüchterne Ergebnis einer Betrachtung der Folgen eines »Brexits«: Ein Austritt schwächt sowohl Europa als auch Großbritannien und ist wenig förderlich für die Überwindung des kritischen Zustandes der Globalökonomie. Die gegenwärtige Weltunordnung wird durch die weitere Erosion des internationalen Systems wahrscheinlich wenig Fortschritte machen.

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