28. April 2012 Richard Detje: Gewerkschaften sollen Armutslöhne abnicken

CDU: Mindestlohn-Farce

Im November letzten Jahres hatte die CDU auf ihrem Parteitag in Leipzig die Eckpunkte ihres Vorschlags für einen Mindestlohn beschlossen. Dass sich eine Arbeitsgruppe der CDU/CSU-Fraktion nun auf ein Modell verständigte, hat nichts mit weiteren Erkenntnisfortschritten zu tun, sondern mit den Wahlen in Schleswig-Holstein am 6. und in Nordrhein-Westfalen am 13. Mai.

Kaum eine Landtagswahl hat die Merkel-CDU seit den letzten Bundestagswahlen gewonnen. Im nördlichsten Bundesland droht sie den Posten des Ministerpräsidenten zu verlieren und in NRW weiter hinter Rot-Grün zurück zu fallen. Da ist es höchste Zeit, das Image einer sozial verpflichteten Volkspartei wieder aufzupolieren.

Der entscheidende Punkt bei einem Mindestlohn ist, wo die Lohnuntergrenze gezogen wird. Orientiert an der international anerkannten Niedriglohnschwelle,[1] dürfte der untere Stundenlohn bundeseinheitlich zurzeit 9,15 Euro brutto nicht unterschreiten.[2] Damit würden 23,1% oder knapp acht Mio. abhängig Beschäftigten in den Genuss teilweise massiver Einkommensverbesserungen kommen. Denn der Niedriglohnsektor weist eine erhebliche Einkommensspreizung nach unten auf – die durchschnittlichen Stundenlöhne in diesem Sektor liegen mit 6,68 Euro West und 6,52 Euro Ost weit unterhalb der Schwelle. 10% der Beschäftigten in Westdeutschland verdienen weniger als 7 Euro, in Ostdeutschland sind es deutlich mehr als ein Fünftel (22,5%) – zusammen über vier Mio. Lohnabhängige.

Orientiert man sich an der Mindestlohnschwelle des Deutschen Gewerkschaftsbundes von 8,50 Euro in der Stunde, würde das eine Verbesserung der Einkommensverhältnisse von knapp sieben Mio. Beschäftigten bedeuten. Davon würden 2,5 Mio. Minijobber und 1,723 Mio. sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigte profitieren – aber auch knapp 2,6 Mio. Lohnabhängige, die trotz Vollzeitarbeit teilweise unter Armutsbedingungen leben. Dabei spielt geschlechtliche Lohndiskriminierung eine bedeutende Rolle: Für 25% der Frauen – 15% der Männer – liegt der Stundenlohn unter 8,50 Euro.

Zurück zur CDU/CSU. Die Benennung einer Einkommensschwelle unterhalb von 8,50 Euro hätte das politische Kalkül der sozialen Profilierung sogleich zunichte gemacht. Selbst von einem Mindestlohn von 7 Euro, also nahe dem Durchschnitt des Niedriglohnsektors würden immer noch vier Mio. Beschäftigte profitieren, was wohl erheblich oberhalb christdemokratischer Konsensmöglichkeiten läge. Deshalb die Retourkutsche – man wolle nicht in die Tarifautonomie eingreifen. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften sollen sich in einer Kommission über eine Lohnuntergrenze verständigen. Da ein Konsens bundesweit[3] kaum absehbar ist, ist ein Schlichtungsverfahren vorgesehen, bei dem der letztlich ausschlaggebende Schlichter – sollten sich die Tarifvertragsparteien auch hier nicht einigen – per Los zu entscheiden ist. Das Ergebnis wäre absehbar: Gewerkschaften, die sich auf ein solches Verfahren einlassen würden, hätten zu Recht erhebliche Kritik und Rechtfertigungsdruck zu gegenwärtigen, würden sie – per Verfahren – doch letztlich der Festschreibung von Armutslöhnen zustimmen.

Die CDU/CSU-Farce geht noch weiter. Die Mindestlohn-Kommission soll überhaupt nur in den Fällen tätig sein, in denen tariflose Zustände herrschen. Für rund 13% aller abhängig Beschäftigten, die mit Tariflöhnen unter 8,50 Euro arbeiten, wäre sie gar nicht zuständig. Beispiel Friseurhandwerk in Schleswig-Holstein: 7 Euro mit Gesellenbrief. Beispiel Bäcker- und Konditorgesellen in Mecklenburg-Vorpommern: 7,97 Euro. Sicher: eine Blamage für Gewerkschaften, die derartige Tarifverträge abschließen. Zum Teil deshalb, weil sie noch Schlimmeres verhindern wollen und der Organisationsgrad so hundsmiserabel ist, dass an Kampfkraft für höhere Löhne nicht zu denken ist. Gerade weil die Tarifautonomie in vielen Bereichen nicht funktioniert, fordern die DGB-Gewerkschaften ja einen gesetzlichen Mindestlohn. Das Unions-Konzept bedeutet, Gewerkschaften für Armutslöhne in die Pflicht zu nehmen.

Es ist ein politischer Erfolg der Gewerkschaften, Armutslöhne skandalisiert und die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn popularisiert, ja sogar mehrheitsfähig gemacht zu haben. Daran gilt es weiter zu arbeiten. Auch mit der Mobilisierung gegen die institutionalisierte Armutslöhne: gegen Leiharbeit, gegen Befristungen, gegen Werkverträge, gegen Armutslöhne wegen Minijobs – also all jene Maßnahmen der Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, die unter der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer erst das Treibhausklima für die Expansion des Niedriglohn- und Armutssektors ermöglicht haben.

Der christdemokratische Mindestlohn-Vorschlag ist allerdings eine Farce. Und seine Ablehnung durch den Koalitionspartner FDP und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände zeigt, wie weit sozialer Zynismus in diesem Land gehen kann.

[1] Die liegt bei zwei Dritteln des mittleren Stundenlohns (Median).
[2] Nach West und Ost differenziert wären das 9,54 Euro in Westdeutschland und 7,04 Euro in Ostdeutschland; vgl. hierzu und anderen Daten T. Kalina/C. Weinkopf: Niedriglohnbeschäftigung 2010: Fast jede/r Vierte arbeitet für Niedriglohn, IAQ-Report 1/2012.
[3] Im Unterschied zur Situation in Branchen, in denen sich Unternehmen gegen Lohndumping erwehren müssen, wie beispielsweise in der Baubranche; deshalb gab es bislang Branchenvereinbarungen über Mindestlöhne. Insgesamt gibt es mittlerweile zehn Branchen mit Mindestlöhnen.

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