3. Oktober 2017 Redaktion Sozialismus

Das Ende der 2. Republik in Österreich?

Für die Parlamentswahlen am 15. Oktober in Österreich zeichnet sich ein klarer Sieg der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) ab, sie fiel seit Mai 2017 nie unter 33%. Bis zum Mai 2017 waren die rechtspopulistischen »Freiheitlichen« (FPÖ) länger führende Partei. Mit der Durchsetzung des »System Kurz« in der ÖVP verlor sie Platz 1, aktuell sehen sie Umfragen bei 26%.

Für die weitere politische Entwicklung dürfte entscheidend sein, ob Österreich am 15. Oktober die SPÖ oder die FPÖ auf den zweiten Platz wählt, und welche der kleineren Parteien – Grüne und NEOS, sowie die Liste PILZ – den Sprung in den österreichischen Nationalrat schaffen (Sperrklausel 4%). Diese gewaltigen Veränderungen im politischen System der Alpenrepublik sind folgenreich.

Ein Wahlsieg der FPÖ bei der nächsten Nationalratswahl galt lange als ausgemacht. Allerdings hat die ÖVP im Mai 2017 nach langwierigen Turbulenzen in der Partei und damit auch in der Koalitionsregierung mit den österreichischen Sozialdemokraten (SPÖ) den Außenminister Sebastian Kurz mit Sondervollmachten ausgestattet und damit die politische Stagnation infolge der langjährigen Herrschaft der großen Koalition beendet.

In den vorgezogenen Wahlen kann die FPÖ nicht mehr in gleicher Weise bei der Wahlbevölkerung punkten. Seit vier Jahren führte sie in den Umfragen, zeitweise sogar mit bemerkenswertem Vorsprung. In den Umfragen seit Mai zeigt sich ein deutlicher Rückgang und Stagnation. Seit Außenminister Kurz die Führung der ÖVP übernommen hat, hat die konservative Partei in den Umfragen um zehn Prozentpunkte zugelegt, und überflügelt derzeit die Kanzlerpartei SPÖ ebenso wie die FPÖ.


Das System Kurz

Sebastian Kurz hat der politischen Architektur des österreichischen Konservatismus nach längerem Niedergang eine rechtspopulistische Fassade verpasst: Die altehrwürdige Volkspartei hat die programmatischen und organisatorischen Forderungen des 30-jährigen Jungstars geschluckt und ihn zum neuen Parteichef gewählt. Kurz will eine neue Partei oder besser Bewegung, die völlig auf ihn zugeschnitten ist – genau das Gegenteil dessen, was die ÖVP früher ausmachte.

Die ÖVP war zuletzt ein erstarrter, abgehobener politischer Überbau aus diversen Teilorganisationen, die im politischen Alltagsgeschäft immer weniger bewegte. Der Wirtschaftsbund, der Bauernbund, der Arbeitnehmerbund und der Seniorenbund galten in der ÖVP als besonders einflussreich. Der Wirtschaftsbund kontrolliert faktisch die finanzstarke Wirtschaftskammer mit ihrem Jahresbudget von über 800 Mio. Euro. Er stellte immer wieder ÖVP-Spitzenpolitiker.

Kurz hat einen radikalen Umbau dieser traditionsreichen ÖVP durchgesetzt. Der Einfluss der Landesfürsten und der sechs Interessenvertretungen (»Bünde«) auf die nationale Politik wird zurückgestuft. So will Kurz etwa künftig frei entscheiden können, wer Posten in der Bundesregierung erhält. Rücksicht auf die traditionellen Ansprüche der Länder und der Bünde soll es nicht mehr geben.

Mit der Veränderung einer der tragenden Säulen – der ÖVP – des politischen Systems rüttelt Kurz auch an den Grundfesten des »Systems Österreich«. In der anderen, »roten« Reichshälfte herrschen nämlich ähnliche verkrustete Strukturen.


Konkordanzdemokratie[1]

Die Zweite Republik galt lange Zeit als ein Musterbeispiel für die politische Kultur der »Konkordanzdemokratie«. Die politischen Eliten des sozialistischen und des katholisch-konservativen Lagers entwickelten ein System wechselseitiger Machtbeteiligungsgarantien, die – nach dem Prinzip »The winner does not take all« – den politischen Entscheidungsprozess gegenüber Wahlergebnissen und Mehrheitsbildungen möglichst immunisieren sollten.

Politische Entscheidungen wurden ausschließlich und in grundsätzlicher Übereinstimmung von den politischen Eliten der beiden traditionellen Lager kontrolliert – ihren Parteien, und der mit diesen verflochtenen Wirtschaftsverbänden. Das bedeutete ein grundsätzliches Defizit an Opposition und den Ausschluss aller dritten Kräfte vom eigentlichen Entscheidungsprozess. Mehr als 20 Jahre regierten die beiden größten Parteien miteinander.

Mit der in den 1980er Jahren einsetzende Privatisierung der verstaatlichten Industrie und des öffentlichen Sektors, dem Rückgang politischer Gestaltungsmacht und dem neoliberalen Umbau des sozial gebändigten Kapitalismus wurde das Ende des alten, elitengesteuerten Politikmusters immer aktueller. Die traditionellen Eliten haben an Politikfähigkeit verloren – mit der Konsequenz, dass die Gefolgschaft das Vertrauen in die Eliten verloren hat.

Nach einer langen Phase der wirtschaftlichen und politischen Stagnation konnte der Hoffnungsträger Sebastian Kurz ohne größeren Widerstand die ÖVP übernehmen und die dahinterliegenden wirtschaftlichen Strukturen beiseiteschieben. Damit brachte Kurz auch die Grundfesten des »Systems Österreich« zum Einsturz. In der anderen, »roten« Reichshälfte herrschen nämlich ähnliche Strukturen wie auch auf Seiten der mittelständisch-bäuerlichen Ökonomie. Die SPÖ hingt am Gängelband der verstaatlichten Industrie, dem sozialpartnerschaftlichen Regime der Arbeiterkammer und den Machtressourcen der Gewerkschaften.

Die Kanzlerpartei SPÖ griff angesichts der unterminierten SPÖ-Strukturen auch auf die Managementfähigkeiten von Christian Kern zurück und inthronisierte den Manager des Staatsbetriebes Österreichische Bundesbahn (ÖBB) zum Parteichef der Sozialdemokraten. Dieser späte Rettungsversuch der SPÖ für das »Unternehmen Österreich« ging jedoch schief. Kern hatte die ÖBB zwar insgesamt erfolgreich geführt und das Staatsunternehmen in die Gewinnzone gebracht, wobei er die Interessen der Politik und der Sozialpartner geschickt austarierte. Weil jedoch die Modernisierung des »Unternehmen Österreich« nicht in ähnlicher Weise gelang, das bis zur Finanzkrise florierte, seither aber mit einem schleichenden Niedergang kämpft, funktionierte der angestrebte Neustart der SPÖ nicht.

Der rasante Aufstieg des Jungpolitikers Kurz hat viel mit der Massenmobilisierung der modernen Rechten zu tun, und geht damit zulasten der FPÖ.[2] Auch die SPÖ versuchte mit Übernahme von rechtspopulistischen Argumentationsmustern den Anschluss an die Ressentiments zu halten, scheiterte aber wegen geringer Überzeugungskraft. Außenminister Kurz steht hingegen für eine skrupellose Linie in der Asyl- und Migrationspolitik und verfolgte zuletzt einen zunehmend EU-kritischen Kurs. Das ist populär und ein Grund für seine hohen Beliebtheitswerte. Kurz vertritt zudem einen unternehmerfreundlicheren und neoliberaleren Wirtschaftskurs.

Das Kernthema des Außen- und Integrationsministers ist bis heute die Flüchtlings- und Einwanderungsfrage. Die Route über das Mittelmeer sei zu schließen, die Rettung dürfe nicht mit dem Ticket nach Europa verbunden sein, die Zuwanderung nach Österreich müsse radikal gesenkt werden. Es habe auf der Balkanroute funktioniert und ja, auch in Australien, betont Kurz in Anspielung auf seine erstmalige Propagierung dieses umstrittenen Vorbilds vor einem Jahr, was damals für helle Aufregung nicht nur in Österreich sorgte.

Bei der Bewegung, als die Kurz die »Neue Volkspartei« sieht, ist jeder willkommen. Zum neuen Stil, den er propagiert, gehören eigene Kommunikationskanäle, showartige Wahlkampfauftritte und eine starke Präsenz im Social Media. Auf Facebook hat der Außenminister 550.000 Fans, annähernd so viele wie der FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, der seit Jahren auf dieses Medium setzt.

Sebastian Kurz lässt als Spitzenkandidat keinen Zweifel daran, dass er nach der ÖVP auch die Republik auf seine Person ausrichten will. Er beansprucht die Richtlinienkompetenz für den Bundeskanzler, um sich den Zugriff auf Ressorts über Parteigrenzen hinweg zu sichern. Verbunden damit ist die offene Tendenz, Österreich von einer repräsentativen Demokratie in ein plebiszitäres Regime umzuwandeln, in dem von einem Kanzler mit Richtlinienkompetenz jährlich ein bis zwei Termine angesetzt werden, an denen das Volk per Befragung oder Abstimmung entscheiden darf.

Um das »alte politische System« abzuschaffen, bedarf es nach Kurz des Führerprinzips. »Ein Bundeskanzler muss führen können«, ist plötzlich die Parole. In der Sache geniert er sich nicht, einen Wahlkampf hauptsächlich auf Kosten von Flüchtlingen zu führen. Diese Mobilisierung mittels eines völkisch eingefärbten Patriotismus war bislang das ausschließliche Terrain der FPÖ. Kurz’ Ansage ist eindeutig: »Der Kanzler muss die Möglichkeit haben, zu führen und zu entscheiden«, dazu brauche er die »Letztverantwortung und die Richtlinienkompetenz«.

Der revolutionäre Umbau des konservativen Kosmos unter Führung der ÖVP und der geplante Umbau der Republik erfolgen – dies ist eine Ironie der Geschichte – auf dem Höhepunkt der Konjunkturbewegung. Die österreichische Wirtschaft wächst derzeit so kräftig wie seit 2011 nicht mehr. In diesem Jahr dürfte die Wirtschaftsleistung real um 2,8% ansteigen. Die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute, Wifo und IHS, haben ihre Prognosen entsprechend nach oben korrigiert. Für 2018 erwarten sie eine Expansion um 2,8% (Wifo) bzw. 2,1% (IHS).

Damit lässt Österreich die Stagnation der vergangenen Jahre endgültig hinter sich. Die Institute ermahnten mit ihrer neoliberalen Botschaft die Politik, die Phase der Hochkonjunktur für nötige Strukturreformen und für eine Konsolidierung des Staatshaushaltes zu nutzen.

Die Republik Österreich soll für die Zukunft fit gemacht werden, daher – so die vorherrschende Meinung – könne sich das Land viele Ineffizienzen nicht mehr leisten. Österreich habe über die Zeit staatliche Strukturen aufgebaut, die ein Eigenleben führten und in denen viel Geld versickere. Außerdem: Die Globalisierung bedrohe die Wettbewerbsfähigkeit Österreichs, die Alterung der Gesellschaft werde die Staatsfinanzen stark belasten, der technische Fortschritt erfordere eine innovative Bildungspolitik. Zusammengenommen ergebe das eine explosive Mischung: »Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist der österreichische Staat den Herausforderungen nicht gewachsen.«

Der ehemalige Präsident des österreichischen Rechnungshofs Josef Moser einen »Reform«-Leitfaden von über 1.000 Empfehlungen hinterlassen, an denen sich die Modernisierung orientieren soll. Der rote Faden dieser Hinterlassenschaft: Die staatlichen Strukturen in Österreich sind zersplittert, die Verantwortung für öffentliche Aufgaben ist häufig auf Bund, Länder und Gemeinden verteilt. »Es ist ein System, in dem sich viele beschweren, aber niemand die Verantwortung trägt. Bei Problemen schiebt es jeder auf den anderen, und niemand hat Schuld.«

Auch die SPÖ hatte mit dem ÖBB-Chefmanager Kern versucht, für ein entsprechendes Modernisierungsangebot ein politisches Mandat zu erhalten. Dabei schließt sie eine Koalition mit der offen rechtspopulistischen FPÖ nicht grundsätzlich aus. Gleichwohl schwächelt die SPÖ in den Umfragen. Den Sozialdemokraten droht der Gang in die Opposition. Nach Enthüllungen über eine geheime Schmutzkampagne gegen den Außenminister und konservativen Spitzenkandidaten Kurz hat sich der Niedergang verstärkt. Der SPÖ-Wahlkampfleiter musste zurücktreten.

Die rechtspopulistische FPÖ konkurriert in den Umfragen um den zweiten Platz und hat Chancen auf eine Regierungsbeteiligung. Die FPÖ fordert weitere Konsequenzen und den Rücktritt von Kanzler Kern.

Der Jungpolitiker Kurz hat also gute Chancen, den Modernisierungswettlauf für die ÖVP als Sieger zu beenden. In seinen Wahlkampfauftritten skizziert der Kanzlerkandidat sieben »klare Ideen«, »wie es uns gelingen kann, Österreich zurück an die Spitze zu führen« – »Österreich first!« sozusagen. Eine Schuldenbremse ist darunter, Steuersenkungen, und ein »klares Bekenntnis zum Schutz unseres Sozialsystems« – Zuwanderer sollen weniger Sozialleistungen bekommen. Die illegale Migration soll gestoppt werden und die Zuwanderungspolitik an dem Grundsatz ausgerichtet werden: »Wir können nur so viele aufnehmen, wie wir integrieren können.«

[1] Zur folgenden Argumentation siehe Anton Pelinka, Die FPÖ im internationalen Vergleich. Zwischen Rechtspopulismus, Deutschnationalismus und Österreich-Patriotismus, conflict & communication online, Vol. 1, No. 1, 2002.
[2] Zur Renaissance des »Bonapartismus« im modernen Kapitalismus siehe auch: Joachim Bischoff, Kapitalismus ohne Systemopposition?, in: Michael Brie/Joachim Bischoff, Ist der Kapitalismus am Ende?, Supplement der Zeitschrift Sozialismus Heft 10/2017.

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