25. September 2010 Redaktion Sozialismus

Ökonomie und Politik – verkehrte Welt?

Von den Börsen, Devisenmärkten oder auch dem Kursbarometer der Edelmetalle Gold und Silber sind wir im bisherigen Krisenverlauf erhebliche Auf- und Abwärtsbewegungen gewöhnt. Während die herrschende Meinung darüber jubiliert, dass man die Verluste seit dem Konkurs der Lehman-Bank im September 2008 wieder aufgeholt habe, stellt sich die Realität in den einschlägigen Publikationsorganen ganz anders dar: Dort zirkulieren Horrorszenarien.

So meldet das Handelsblatt am 21. September 2010 mit Verweis auf den Anlagestrategen der Société Générale, Albert Edwards: "Ja, es kommt wie in Japan, Deflation ist das Thema. Ich sage: Es kommt in den USA noch schlimmer. Andere Länder werden sich vom wirtschaftlichen Sturzflug nicht abkoppeln können ... US-Aktien fallen um 60%, ein S&P 500 auf 450 Punkte – derzeit liegt er bei 1.100. Einem Dax beispielsweise blüht das Gleiche … Bis jetzt ist Berufsoptimismus angesagt. Aber die Stunde der Wahrheit kommt bald… Und dann stürzen die Märkte. Das wird psychologisch verheerend wirken. Uns steht die dritte große Baisse in einem Jahrzehnt ins Haus."

Im Alltagsbewusstsein spiegeln sich diese erratischen Bewegungen auf den Finanzmärkten selten wider. Der Kapitalismus hat Jahrmarktcharakter angenommen: alles verrückt, keine verlässlichen Trends mehr. Die BILD-Zeitung bildet tapfer Meinung gegen die These vom Doppel-Dip: "US-Medien feiern die deutsche Wirtschaft bereits als 'Germany’s Superstar Economy' und neues 'Powerhouse' (dt. Kraftpaket). Das angesehene 'Wall Street Journal' urteilt: 'Merkel 1, Obama 0' und lobt: 'Die Kanzlerin befolgte eine simple Regel: Schade der Wirtschaft nicht.'" Metro-Chef Cordes, dessen Handelskonzern in 34 Ländern vertreten ist, zu BILD: "Ein entscheidender Grund, warum Deutschland die Krise so gut überstanden hat, ist die Verantwortungspartnerschaft zwischen Politik, Unternehmen und Gewerkschaften im Krisenjahr 2009. Hier sind alle Seiten bereit gewesen, über ihren Schatten zu springen und unkonventionelle, neue Wege der Zusammenarbeit zu gehen." (17.9.2010)

Da darf die Stimme der Bundeskanzlerin im Aufschwung-Chor nicht fehlen: "Die deutsche Wirtschaft hat sich beeindruckend zurückgemeldet. Dem bislang stärksten Rückgang des bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukts folgt nur ein Jahr später eine außergewöhnliche Erholung... Viele Beobachter im Ausland zeigen sich angesichts dieses deutschen 'Wirtschaftswunders' überrascht, galt doch die deutsche Wirtschaft in den vergangenen Jahren als der 'kranke Mann' in Europa. Doch ein 'Wunder' ist das derzeit starke Wachstum in meinen Augen nicht. Es ist vielmehr das Ergebnis besonnener Entscheidungen während der Krise." (Die Welt, 19.9.2010)

Vor diesem Hintergrund werden die von den Meinungsforschungsinstituten übermittelten Ergebnisse der Parteipräferenzen offenkundig gelassen interpretiert. Im weiteren wirtschaftlichen Erholungsprozess werde der Wähler schon in den Schoß seiner Partei zurückkehren. Wenn das mal nicht täuscht. Nicht nur wegen der großen ökonomischen Unsicherheiten. Auch, weil die Volatilität der Wählerwanderungen immer weniger Stabilität erkennen lässt. Nehmen wir das eine Extrem – die FDP. Bei der Bundestagswahl hatten die Liberalen ein Rekordergebnis von 14,6% erreicht; wenige Monate später wird die Partei mit weniger als 5% gehandelt – Stimmung auf dem Tiefpunkt. Das andere Extrem: die Grünen. Bei der Bundestagswahl schon bei stolzen 10,7%, liegen sie nun einer aktuellen Forsa-Umfrage zufolge gleichauf mit der SPD bei 24%.

Unterm Strich: Schwarz-Gelb holpert allen Aufschwungprognosen zum Trotz weiter, Rot-Grün ist zumindest im Umfrage-Aufschwung. Und DIE LINKE? Sie vermeldet ein Ende der Debatten um die Bezahlung des Führungspersonals – mehr allerdings auch nicht; in der Wählergunst verliert sie.
Während sich die deutsche Wirtschaft in einem unerwartet schnellen wirtschaftlichen Aufschwung erholt, die Arbeitslosigkeit leicht rückläufig ist und die Steuereinnahmen etwas kräftiger sprudeln als bis vor kurzem noch prognostiziert, sehen sich Christdemokraten und Liberale mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert: Einerseits wandert ein größerer Teil des bürgerlichen Wählerklientels von 2009 enttäuscht in die Wahlenthaltung und gesellt sich zu der großen Heerschar der BürgerInnen, die vom politischen Betrieb nicht mehr viel erwarten. Wenn die Enttäuschung über die Unfähigkeit der politischen Klasse sich vor dem Hintergrund ungelöster und sich zuspitzender Verteilungsauseinandersetzungen mit Abstiegsängsten paart, entsteht andererseits das Potenzial für eine ressentimentgeladene Politik. Diese sucht die Lösung der Probleme vor allem in Ausgrenzungsstrategien gegenüber MigrantInnen und SozialleistungsempfängerInnen. Der Sarrazin-Hype ist ein deutlicher Indikator für die weite Verbreitung solcher rechtspopulistischer Stimmungen in der Bevölkerung. Der rechtspopulistisch inspirierte Angriff von Sarrazin erweist sich insofern als möglicher Vorbote einer Bewusstseinsveränderung, die weit in das bürgerliche Lager und den Bereich der Sozialdemokratie ausstrahlt (vgl. die Beiträge in diesem Heft).

Während die Christdemokraten leichte Verluste aufweisen, hat sich die SPD in einigen Umfragen leicht verbessert – allerdings ohne aus dem Keller einer unter-30%-Partei herausgekommen zu sein. Unbestreitbar: Die Sozialdemokratie hat sich seit der Wahlschlappe im vergangenen Jahr politisch-programmatisch in Teilen bewegt. Ein gesetzlicher Mindestlohn, die Begrenzung der Leiharbeit, die Verschiebung der Rente mit 67, die Erhöhung der Einkommensteuerspitzensätze und die Wiedereinführung der Vermögenssteuer markieren – wenn oft auch halbherzig und innerparteilich umstritten – Korrekturen an der unseligen Agenda 2010. Doch eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Irrweg im Grundsätzlichen ist bis heute unterblieben.

Der Übergang der Sozialdemokratie von einer Sozialstaatspartei hin zu einer modernisierten Formation der "Neuen Mitte", die letztlich auf eine verdeckte oder offene Absage an die Interessenvertretung der unteren sozialen Schichten und damit an eine soziale Inklusionspolitik hinausläuft, bestimmte die politische Agenda zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Der "Dritte Weg" war der Versuch, Sozialdemokratie und Marktliberalismus miteinander zu verbinden. Im Schröder-Papier von 1999 heißt es: "Moderne Sozialdemokraten erkennen an, dass eine angebotsorientierte Politik eine zentrale und komplementäre Rolle zu spielen hat." In vielen Untersuchungen ist die führende Rolle der "modernisierten" Sozialdemokratie beim Umbau der Deutschland AG nachgezeichnet worden. Gerade die SPD und New Labour standen für aktionärsorientierte Reformen und die Auflösung des organisierten Kapitalismus deutschen Typs.

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel hat jüngst die Dekade noch einmal bilanziert: "Die Steuerreformen der rot-grünen Regierung waren ein kapitaler strategischer Fehler und führten zur Befestigung eines neoliberalen Pfades der fahrlässigen Autonomieeinschränkung sozialdemokratischer Politik in der Zukunft... Nach dem kurzen Frühling keynesianisch inspirierter Pläne innerhalb eines Zusammenspiels von nationaler wie europäischer Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Geldpolitik unter Oskar Lafontaine (und Dominique Strauss-Kahn) erklärte sein Nachfolger Hans Eichel 1999 eine Politik des Schuldenabbaus zur Priorität und setzte in Übereinstimmung mit Kanzler und Regierung eine angebotsorientierte Steuerreform und eine – später gescheiterte – Politik der Ausgabenbegrenzung durch. Die Körperschaftssteuer sank für einbehaltene Gewinne von 45% (1998) auf 25% (2001), der Spitzensatz in der Einkommenssteuer wurde auf 42% gesenkt. Dagegen fiel die Senkung des Eingangssteuersatzes (2005) auf 15% kaum mehr ins Gewicht." Die Konsequenz: "Ansteigen des Staatsdefizits, niedriges Wachstum und ansteigende Arbeitslosigkeit. Die Ironie ist…, dass mit der kritiklosen Übernahme der von den Neoklassikern der OECD empfohlenen Steuerpolitik ausgerechnet deutsche Sozialdemokraten die anglo-kapitalistische Krankheit einer sukzessiven Schwächung des Steuerstaates erfolgreicher nach Deutschland eingeschleppt haben, als dies Helmut Kohl in 16 Regierungsjahren gelungen war. Damit wurde in Deutschland ein Steuerpfad eingeschlagen, der von nun an nur unter den Bedingungen einer Wettbewerbsdemokratie mit erheblichen Transaktionskosten wieder verlassen werden kann." (Wolfgang Merkel, Falsche Pfade? Probleme sozialdemokratischer Reformpolitik, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Heft 7/8-2010)

Dieser grandiose Misserfolg bei der Durchsetzung der finanzgetriebenen Kapitalakkumulation ist weder aufgearbeitet noch durch eine neue konzeptionell-strategische Option ersetzt worden. Rot-Grün setzt in NRW und anderswo auf Pragmatismus und Zeitgewinn. Heute müsste Rot-Grün mittelfristig eine Stärkung der Handlungsfähigkeit des Staates verfolgen. Angesichts der Expansion der öffentlichen Verschuldung muss eine deutliche Verbesserung der öffentlichen Einnahmen durch die Wiedererhebung der Vermögenssteuer und höhere Steuersätze für höhere Einkommen, Unternehmereinkommen und Vermögen durchgesetzt werden. Diese Verbesserungen sind die Voraussetzung für ein gesellschaftspolitisches Reformprojekt.

Und DIE LINKE? Ihr Licht verblasst. Sie kann im Konzert erfolgreicher Oppositionsparteien nicht mithalten. Die aktuellen Umfragen signalisieren nicht mehr nur eine Stagnation; in den westdeutschen Bundesländern wurden zuletzt nur noch Zustimmungswerte von weniger als 5% gemessen, was in den alten Bundesländern nicht zum Einzug in den Landtag reichen würde.
Das hat sicherlich viel (und wahrscheinlich in erster Linie) mit der komplizierten Großwetterlage zu tun. Durch massive staatliche Interventionen sind die Folgen des drastischen Wirtschafts­einbruchs abgefedert worden. Mit der vor allem exportinduzierten Erholung in 2010 konnte die Kurzarbeit – die in den Monaten zuvor eine Explosion der Arbeitslosigkeit verhindert hatte – rasch wieder abgebaut werden. Es finden sogar Neueinstellungen statt – wenn auch vorwiegend im Bereich prekärer Beschäftigung. In einer solchen Konstellation ist es mit Sicherheit schwierig, die Notwendigkeit eines radikalen Politikwechsels zu vermitteln.

Zu Recht stellt die parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion, Dagmar Enkelmann, fest: "Wir sind in dieser Wahlperiode in einer neuen Situation, das haben wir noch nicht verinnerlicht. Die SPD ist nicht mehr in der Regierung, sondern in der Opposition. Das hat Folgen. Vorwürfe an die Sozialdemokraten in Bezug auf deren Entscheidungen in Regierungsverantwortung verlieren allmählich ihre Überzeugungskraft, zumal die SPD diese Zeit kritisch zu reflektieren beginnt und Positionen partiell korrigiert. Das bringt uns in eine neue Lage. Wir müssen unser eigenes Profil deutlich machen, unseren Markenkern, auch in Abgrenzung zur SPD. Wir haben Alternativen, eigene Konzepte für Arbeit und Beschäftigung, Rente und gerechte Steuern. Damit müssen wir offensiver umgehen ... So kann es aber nicht bleiben. Dass wir gegenüber der SPD ins Hintertreffen zu geraten drohen, hat auch mit dem Zustand in unserer Partei zu tun." (Interview mit dem ND, 8.9.2010)

Diese Einschätzung ist zutreffend. Statt inhaltlicher Alternativen standen in den letzten Wochen der Zustand etlicher Landesverbände und die Bezahlung des politischen Personals – von den Medien aufgegriffen und verstärkt – im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Bei vielen Mitgliedern und WählerInnen verdichtete sich der Eindruck, dass auch in der LINKEN Teile der Repräsentanten den Bezug zu den durchschnittlichen Lebensverhältnissen der Lohnabhängigen verloren haben.

Dass DIE LINKE in dieser Situation große Mühen hat, ihre Alternativen für die ungelösten und drängenden gesellschaftlichen Probleme deutlich zu machen, hängt aber auch damit zusammen, dass sich in der Partei zwischen den Strömungen kein Korridor für einen Konsens in den Hauptlinien solidarischer Ökonomie abzeichnet. Das "Forum demokratischer Sozialismus" (FDS) trägt gravierende Einwände gegen die im Programmentwurf skizzierte Kapitalismusanalyse und deren strategische Konsequenzen vor. Die Mehrheit der Programmkommission – und damit mindestens auch große Teile der Partei – blieben einem Bild des Kapitalismus verhaftet, der nur destruktiv ist und keinerlei Reformfähigkeit besitzt. Die Schwächen des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates würden ignoriert. Und ganz im Sinne vieler KritikerInnen außerhalb der Partei hegen die VertreterInnen des FDS den Verdacht, dem Programmentwurf unterliege eine Romantisierung des fordistischen Zeitalters. Dieser Eindruck markiert eine Schwierigkeit, sich auf ein grobes Bild des Heute und die unverzichtbaren Reformprojekte zu verständigen.

Die LINKE verblasst in einer ökonomisch-gesellschaftlich schwierigen Konstellation. Dies markiert sicher eine Herausforderung für eine junge, plurale Formation von Sozialisten, Kommunisten, ehemaligen Sozialdemokraten und linken Gewerkschaftern, die bislang im Vergleich zur politischen Linken auf europäischer Ebene noch einigermaßen komfortabel dasteht. DIE LINKE sollte sich keinerlei Illusionen hingeben, dass sie nicht auch auf europäisches Normalmaß zurückgestutzt werden könnte. Das bürgerliche Lager kann bezogen auf ihre Parteienkonstellationen davon angesichts der Sarrazin-Diskussion hierzulande – "eine rechtspopulistische Kraft auf der nationalen Ebene würde die Bundesrepublik lediglich der europäischen Normallage annähern" (SZ, 16.9.2010) – und jüngst Schweden ein Lied singen: "Schweden wirkt so gegenüber den Ländern mit langer Populismuserfahrung wie ein Nachzügler. In Deutschland ist es in vielem wie ein Vorbote." (FAZ, 21.9.2010)

Gleichzeitig ist ein vermehrtes Aufbegehren gegen die Politik von Schwarz-Gelb in zivilgesellschaftlichen und gewerkschaftlichen Protesten zu verzeichnen, angefangen von der Bewegung "Wir zahlen nicht für eure Krise" im Frühjahr 2009 und den Kundgebungen in Stuttgart und Berlin im Juni 2010, die im Herbst in weiteren Protestaktionen unter dem Motto "Gerecht geht anders" in breiter Trägerschaft fortgesetzt werden.

Die LINKE muss ihr zeitdiagnostisches Sensorium und ihre Deutungsfähigkeit verbessern, um sie betreffende "Vorboten" rechtzeitig orten und gegensteuern zu können. Ihre Repräsentanten müssen sie deuten, strategisch interpretieren und sich mit ihren Mitgliedern und Wählern austauschen, kommunizieren und evtl. korrigieren. Wenn es der LINKEN gelingt, gegenüber einer kurzfristigen ökonomischen Erholung sensibel für die tieferliegenden sozialen Ungerechtigkeiten zu bleiben und sich von dem gesellschaftlichen Protestpotenzial inspirieren zu lassen, hat sie eine Chance, als Oppositionskraft wieder stärker wahrgenommen zu werden. Und sie könnte die Repräsentanz von Lohnabhängigen, Prekarisierten und Ausgegrenzten befördern. Damit würde sie zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer zivilgesellschaftlich verankerten, politikfähigen Mosaik-Linken.

Zurück