6. Juni 2011 Joachim Bischoff / Richard Detje: Unter dem Kuratel der Troika

Das portugiesische Volk hat gewählt – und kann doch nichts entscheiden

Wahlsieger und neuer Ministerpräsident Pedro Passos Coelho

In Portugal haben die BürgerInnnen nach einem heftigen Wahlkampf in einer vorgezogenen Parlamentswahl das neue gesellschaftliche Kräfteverhältnis ermittelt. Schlüsselfrage der Wahl war, welcher Partei und welchem politischen Personal die Mehrheit der Portugiesen am ehesten zutraut, angesichts der enormen Schuldenkrise den sinkenden Lebensstandard zu sichern.

Die portugiesischen Sozialisten (PS) verloren mehr als 8% und kamen auf nurmehr 28%, dagegen legte die liberale Partei der Sozialdemokratie (PSD) um fast 10% zu und kommt auf insgesamt 38,8%, das rechtskonservative Zentrum (CDS) erreichte 11,7% (2009 = 10,5%). Ebenfalls wieder im Parlament vertreten ist das Bündnis von Grünen und Kommunistischer Partei (CDU), das seinen Stimmenanteil von 7,9% halten konnte, und der Linksblock (BE), der allerdings fast die Hälfte der Stimmen gegenüber 2009 verlor und nurmehr auf 5,2% kommt. Die Wahlbeteiligung ist leicht von 60,5% auf 58,9% zurückgegangen.

Portugal hat wie Griechenland und Irland ein Kreditpaket vom IMF und dem Euro-Verbund beantragt, weil es zu vertretbaren Bedingungen keine Refinanzierung der aufgenommenen Staatsschulden mehr bekommt. Dafür muss auch die portugiesische Bevölkerung in ihrer Mehrheit ein enormes Kürzungsprogramm bei Einkommen, sozialen Leistungen und letztlich dem Lebensstandards hinnehmen. Wie bei den anderen Ländern führt diese Politik zu einer Strangulierung der Binnenkonjunktur. Problematisch ist die Lage aber auch am Arbeitsmarkt, wo die Arbeitslosenquote einen Rekordwert von 12,6% erreicht hat. Alle drei großen Parteien – außer den Kommunisten und dem Linksblock – haben den Bedingungen für umfassende Haushaltsreformen im Gegenzug für ein 78-Milliarden-Hilfspaket der EU zugestimmt.

Meinungsverschiedenheiten bestehen jedoch darüber, wie die Sparziele erreicht werden können sowie über mögliche Privatisierungen im öffentlichen Dienst. Staatspräsident Aníbal Cavaco Silva rief die Portugiesen in einer vom Fernsehen übertragenen Rede auf, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Tatsache, dass die Abstimmung in schwierigen Zeiten stattfinde, mache es besonders wichtig, dass jeder Bürger seinen Willen ausdrücke. Es ist für Portugal die zweite Parlamentswahl innerhalb von zwei Jahren. Sócrates' Minderheitsregierung musste im März zurücktreten, weil sie im Parlament keine Mehrheit für das von ihr vorgeschlagene rigorose Sparprogramm bekommen hatte.

Im Grunde meint José Sócrates, alles richtig gemacht zu haben – bis ihn zunächst die Finanzmärkte, dann die portugiesischen Banken und schließlich die konservative Opposition stürzten. Am 12. März 2005 war Sócrates zum Ministerpräsident (und ein halbes Jahr zuvor auch zum Vorsitzenden der Partido Socialista) gewählt worden, regierte zunächst mit absoluter Mehrheit, ab 2009 mit einer Minderheitenregierung. In zwei Jahren brachte diese Regierung vier Sparprogramme durch das Parlament, kürzte das Arbeitslosengeld, baute die Beschäftigung im öffentlichen Dienst ab, »flexibilisierte« den Arbeitsmarkt und privatisierte öffentliches Eigentum.

Von den Finanzmärkten wurde das nicht goutiert – die Kreditbonität des portugiesischen Staates wurde herabgestuft, womit die Zinsen auf prohibitive Raten stiegen. Daraufhin entzogen Zentralbank und private Geschäftsbanken der Regierung die Unterstützung, indem sie ankündigten, den Kauf von Staatsanleihen einzustellen. Das war schließlich das Signal für die konservative Volkspartei und ihren Vorsitzenden Pedro Passos Coelho, Neuwahlen zu erzwingen und das Regierungspersonal auszutauschen. Sócrates reiht sich damit in eine illustere Reihe von europäischen Krisenopfern ein.

Der erste Abgang ist nahezu vergessen: Nach wochenlangen Demonstrationen vor dem Regierungssitz in Reykjavik warf Geir Haardes große Koalition in Island im Januar 2009 das Handtuch. Ein historisch beispielloser Fall: Die Schulden der kollabierten isländischen Geschäftsbanken überstiegen das Bruttosozialprodukt des Landes um das zehnfache (14,5 Mrd. Euro).

Am 11. Mai 2010 folgte Gordon Brown – zehn Jahre Schatzkanzler, drei Jahre Premierminister Großbritanniens. Nach Jahren der Austerität war sein temporäres Umschalten auf deficit spending in der Krise nicht mehr glaubhaft. Labour verlor die Unterhauswahlen und die Liberalen sicherten dem Bürgerblock – und der City of London – die politische Mehrheit für eine Sozialabbaupolitik, die einem Ausverkauf des einstigen britischen Wohlfahrtsstaates an die Finanzmärkte gleichkommt.

Abgang Nr. 3: Brian Cowen und die Fianna Fail, einst »historische« Regierungspartei der Republik Irland. Cowen »rettete« die Einlagen der irischen Banken, indem er deren Verluste sozialisierte. Worauf er sich dabei eingelassen hatte, ahnte der Mann wohl selbst erst, als die Neuverschuldung des Staates auf weit über ein Drittel des BIP stieg. Am 11. März 2011 war Schluss.

De-Facto-Abgang Nr. 4: José Luis Rodríguez Zapatero. Er wollte das »moderne« Spanien schaffen und das Werk des Übervaters der spanischen Sozialisten, Felipe González, noch überstrahlen. Als die Flucht der Anleger aus dem Immobilien-Finanzmarktkapitalismus längst im vollen Gange war, meinte er, psychologische Antikrisenpolitik betreiben zu können, indem er eine Krise leugnete, in deren Verlauf die Hälfte der spanischen Jugendlichen nach der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen wird. Seit dem Debakel der Kommunalwahlen am 22. Mai ist seine Regierung und Partei erledigt.

Wenn man die Umwälzungen in den baltischen Staaten und in Mittelosteuropa hinzunimmt, wird die politische Macht des ökonomischen Tsunami deutlich. Die sozialen und politischen Verhältnisse sind in Bewegung – mit offenem Ende. Unterhalb dieser Bewegung zeichnet sich ein neues Entwicklungsmuster ab. Dies wird einerseits geprägt durch einen an Einfluss und Macht gewinnenden Rechtspopulismus, der es versteht, Ausländerfeindlichkeit, eine ethnisch ausgrenzende Verteidigung von Sozialstaatlichkeit mit Europaskeptizismus zu verbinden (siehe dazu unseren Beitrag »Europa am braunen Abgrund« in der Printausgabe Sozialismus 6/2011, S. 11ff.). Die nächsten Etappen werden die Präsidentschaftswahlen in Frankreich im kommenden Jahr und die Nationalratswahlen in Österreich 2013 sein.

Das andere Entwicklungsmuster heißt »Troika«. Für diese ist der Ausgang der Wahlen in Portugal nahezu ohne Belang. Was Pedro Passos Coelho als neues Regierungsprogramm verkünden wird, ist durch die Europäische Zentralbank, die EU-Kommission und den Internationalen Währungsfonds längst vorgegeben – detailliert niedergeschrieben im »Memorandum of Understanding« vom 3. Mai 2011. Postdemokratie ist ein viel zu schwacher Begriff für das neue Regime. Dieses gibt nicht nur generelle Haushaltsziele vor, um die öffentliche Neuverschuldung in wenigen Jahren auf unter 3% zu senken. Vielmehr ist im Detail festgelegt, welche Maßnahmen die Regierung – völlig unabhängig vom Wählervotum – umzusetzen hat. Werfen wir einen Blick auf die Ausgabenkürzungen im Haushaltsjahr 2010:

  • Gesundheitssektor: 550 Mio. (Verringerung der Ausgaben für Arzneimittel, Überwachung von Verschreibungen, Zuzahlungen, Kürzung der Krankenhausprogramme für Beamte um zunächst 30% und nachfolgend noch einmal 20%, Senkung der operativen Kosten der Krankenhäuser usw.)
  • Bildung: 195 Mrd. (»Senkung des Lehrkörperbedarfs«, »Rationalisierungen im Schulwesen« durch »Schulcluster« usw.)
  • Renten: 445 Mio. (Aussetzung der Indexierung, Einfrieren der Rentenzahlungen)
  • Arbeitslosenversicherung: 150 Mio. (Beschränkung der maximalen Auszahlungsdauer auf 18 Monate für neue Arbeitslose, Begrenzung des Arbeitslosengeldes auf maximal das 2,5fache der Sozialhilfe usw.)
  • Kommunale Behörden: 175 Mio., öffentliche Körperschaften: 110 Mio. (Einfrieren der Löhne, Personalabbau um 1-2% pro Jahr, Senkung der Arbeitgeberbeträge für die Gesundheitsvorsorge der Beschäftigten usw.)
  • Staatseigene Unternehmen: 515 Mio., Öffentliche Investitionen: 500 Mio. (Senkung der Betriebskosten um 15%, umfängliche Rationalisierungen, Personalabbau durch erleichterte Entlassungen usw.)

Ebenso ist der Fahrplan der Privatisierung festgelegt – in der noch spezifizierten Zusammenfassung: »Die Regierung wird ihr Privatisierungsprogramm zügiger umsetzen. Der gegenwärtige Plan, der für die Zeit bis 2013 ausgearbeitet wurde, umfasst das Transportwesen (Aeroportos de Portugal, TAP, und den Frachtzweig von CP), die Energiewirtschaft (GALP, EDP und REN), die Kommunikationsbranche (Correios de Portugal) und das Versicherungswesen (Caixa Seguros) sowie eine Reihe kleinerer Unternehmen… Die Regierung verpflichtet sich zu darüber hinausgehenden Maßnahmen und beabsichtigt eine rasche, vollumfängliche Veräußerung der … Unternehmen EDP und REN … bis Ende 2011«.

Egal also, wie das portugiesische Volk gewählt hat, über die Politik der nächsten Jahre hatte es nicht abzustimmen. Das höchste Recht des Parlaments, über die Ausgaben des Staates nach den in Wahlen festgestellten politischen Mehrheitsverhältnissen zu bestimmen, ist suspendiert. Damit ist dem demokratischen Souverän aber auch die Entscheidung über seine eigenen Zukunft genommen. Wer gleichzeitig die sozialen Ausgaben und die öffentlichen Investitionen kürzt, wer Löhne und Sozialeinkommen einfriert, wer Beschäftigung abbaut und öffentliches Eigentum zum Zweck der Schuldentilgung um nahezu jeden Preis verscherbelt, für den ist Zukunftsgestaltung keine politische Kategorie mehr.

Zwischen Rechtspopulismus und »Troika« wird nicht nur ein soziales sondern auch ein demokratisches Europa derzeit »abgewickelt«. Ein Begriff, der nach der Übernahme der DDR geprägt wurde. Dass eine »Treuhandanstalt« die »Abwicklung« des öffentlichen Eigentums von Portugal bis Griechenland übernehmen soll, ist so gesehen nur konsequent.

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