22. März 2022 Hu Wei

Der russisch-ukrainische Krieg und Chinas strategische Option

Blick vom Volodymyrska-Hügel auf den Dnepr im Zentrum von Kiew mit dem Denkmal für den namengebenden Heiligen.

Der russisch-ukrainische Krieg ist der schwerste geopolitische Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg und wird weitaus größere globale Konsequenzen nach sich ziehen als die Anschläge vom 11. September 2001.

In diesem kritischen Moment muss China die Richtung des Krieges und seine möglichen Auswirkungen auf die internationale Lage genau analysieren und bewerten. Gleichzeitig muss China, um ein relativ günstiges außenpolitisches Umfeld anzustreben, flexibel reagieren und strategische Entscheidungen treffen, die mit seinen langfristigen Interessen übereinstimmen.

Russlands »militärische Spezialoperation« gegen die Ukraine hat in China eine große Kontroverse ausgelöst, bei der sich Befürworter und Gegner unerbittlich in zwei Lagern gegenüberstehen. Dieser Artikel repräsentiert keine der beiden Parteien, sondern widmet sich einer objektiven Analyse der möglichen Kriegsfolgen und der entsprechenden Gegenmaßnahmen, die von Chinas politischen Entscheidungsträgern in Betracht gezogen werden können.


Der Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges

1.1. Wladimir Putin wird kaum in der Lage sein, die von ihm angestrebten Ziele zu erreichen, was Russland in eine schwierige Lage bringt. Ziel von Putins Angriff war es, das ukrainische Problem vollständig zu lösen und die Aufmerksamkeit von der innenpolitischen Krise Russlands abzulenken. Dazu sollte die Ukraine in einem Blitzkrieg besiegt, ihre Führung abgelöst und durch eine pro-russische Regierung ersetzt werden. Der Blitzkrieg scheiterte jedoch, und Russland ist nicht in der Lage, einen langwierigen Krieg und die damit verbundenen hohen Kosten zu tragen. Ein Atomkrieg würde Russland gegen die ganze Welt in Stellung bringen und ist daher nicht zu gewinnen. Auch die Lage im In- und Ausland wird immer ungünstiger. Selbst wenn es der russischen Armee gelänge, die ukrainische Hauptstadt Kiew zu besetzen und unter hohen Kosten eine Marionettenregierung zu installieren, würde dies keinen endgültigen Sieg bedeuten. Zum jetzigen Zeitpunkt besteht Putins beste Option darin, den Krieg durch Friedensgespräche anständig zu beenden, was erhebliche Zugeständnisse seitens der Ukraine erforderte. Doch was auf dem Schlachtfeld nicht zu erreichen ist, lässt sich auch am Verhandlungstisch nur schwer durchsetzen. In jedem Fall ist diese Militäraktion ein unumkehrbarer Fehler.

1.2. Der Konflikt kann weiter eskalieren, und eine Beteiligung des Westens am Krieg ist nicht auszuschließen. Eine Eskalation des Krieges wäre zwar kostspielig, aber angesichts des Charakters und der Macht Putins ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine eskaliert und über die Ukraine hinausgeht und sogar die Option eines Atomschlags beinhaltet. Wenn dies geschieht, können die USA und Europa sich nicht mehr aus dem Konflikt heraushalten, was zu einem Weltkrieg oder sogar einem Atomkrieg führen könnte. Das Ergebnis wäre eine Katastrophe für die Menschheit. Es käme zu einem endgültigen Kräftemessen zwischen den Vereinigten Staaten und Russland, dessen militärische Macht derjenigen der NATO nicht gewachsen ist, und Putin würde noch mehr verlieren.

1.3. Selbst wenn es Russland gelingen sollte, die Ukraine mit einer militärischen Kraftanstrengung zu erobern, wird sie doch ein heißes politisches Pflaster bleiben. Russland würde danach eine schwere Last tragen und überfordert sein. Unter diesen Umständen wird die Ukraine, unabhängig davon, ob Wolodymyr Selenskyj noch lebt oder nicht, höchstwahrscheinlich eine Exilregierung einsetzen, um Russland auf lange Sicht zu konfrontieren. Russland wird sowohl mit westlichen Sanktionen als auch mit einer Rebellion auf ukrainischem Gebiet konfrontiert sein. Die Kampffronten werden ausgedehnt sein. Die heimische Wirtschaft wird nicht mehr tragfähig sein und schließlich in den Abgrund gerissen werden. Dieser Zeitraum wird nicht länger als ein paar Jahre dauern.

1.4. Die politische Situation in Russland kann sich ändern oder durch den Westen aufgelöst werden. Nachdem Putins Blitzkrieg gescheitert ist, ist die Aussicht auf einen Sieg Russlands gering. Die westlichen Sanktionen haben ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Da die Lebensgrundlagen der Menschen stark beeinträchtigt sind und sich die Antikriegs- und Anti-Putin-Kräfte sammeln, ist die Möglichkeit einer politischen Meuterei in Russland nicht auszuschließen. Da die russische Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, wäre es für Putin schwierig, die gefährliche Situation aufrechtzuerhalten, selbst wenn der russisch-ukrainische Krieg nicht mit einer Niederlage endet. Sollte Putin aufgrund von Unruhen, eines Staatsstreichs oder aus einem anderen Grund von der Macht verdrängt werden, wäre es noch unwahrscheinlicher, dass Russland dem Westen entgegentritt. Es würde sich mit Sicherheit dem Westen unterwerfen oder sogar noch weiter zersplittert werden. Russlands Status als Großmacht wäre zu Ende.


Auswirkungen des russisch-ukrainischen Krieges auf die internationale Lage

2.1. Die Vereinigten Staaten werden ihre Führungsrolle in der westlichen Welt zurückgewinnen, und der Westen wird in erneuerter Einheit geschlossen auftreten. Derzeit überwiegt in der öffentlichen Meinung die Auffassung, dass der Krieg in der Ukraine einen vollständigen Zusammenbruch der US-Hegemonie bedeute. Tatsächlich wird der Krieg aber Frankreich und Deutschland, die sich beide von den USA lösen wollten, wieder in den Verteidigungsrahmen der NATO einbinden und damit den Traum Europas von einer unabhängigen Diplomatie und Selbstverteidigung zerstören. Deutschland wird seinen Militärhaushalt erheblich aufstocken. Die Schweiz, Schweden und andere Länder würden ihre Neutralität aufgeben. Wenn Nordstream 2 auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt wird, wird die Abhängigkeit Europas von US-Erdgas unweigerlich zunehmen. Die USA und Europa würden eine engere Gemeinschaft mit gemeinsamer Zukunft bilden, und die amerikanische Führungsrolle in der westlichen Welt würde wieder gestärkt werden.

2.2. Der »Eiserne Vorhang« würde wieder zugezogen werden, dieses Mal aber nicht nur von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, sondern auch zur endgültigen Konfrontation zwischen dem westlich dominierten Lager und seinen Konkurrenten. Der Westen wird die Grenze zwischen Demokratien und autoritären Staaten ziehen und die Kluft zu Russland als Kampf zwischen Demokratie und Diktatur definieren. Der neue Eiserne Vorhang wird nicht mehr zwischen den beiden Lagern des Sozialismus und des Kapitalismus hochgezogen, und er wird sich auch nicht auf den Kalten Krieg beschränken. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod zwischen den Befürwortern und den Gegnern der westlichen Demokratie sein. Die Einheit der westlichen Welt unter dem Eisernen Vorhang wird einen Siphon-Effekt auf andere Länder haben: Die Indo-Pazifik-Strategie der USA wird gefestigt, und andere Länder wie Japan werden sich noch enger an die USA anlehnen, die eine noch nie dagewesene breite demokratische Einheitsfront bilden werden.

2.3. Die Macht des Westens wird erheblich zunehmen, die NATO wird weiter ausgebaut, und der Einfluss der USA in der nicht-westlichen Welt wird wachsen. Nach dem russisch-ukrainischen Krieg werden die antiwestlichen Kräfte in der Welt erheblich geschwächt, ganz gleich, wie Russland seine politische Transformation vollzieht. Die Szene von 1991 nach den Umwälzungen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion könnte sich wiederholen: Theorien über das »Ende der Ideologien« könnten wieder auftauchen, das Wiederaufleben der dritten Welle der Demokratisierung wird an Schwung verlieren, und mehr Länder der Dritten Welt werden sich dem Westen anschließen. Der Westen wird mehr »Hegemonie« besitzen, sowohl in Bezug auf militärische Macht als auch in Bezug auf Werte und Institutionen, seine »hard power« und »soft power« werden neue Höhen erreichen.

2.4. China wird unter den gegebenen Rahmenbedingungen stärker isoliert werden. Wenn China aus den oben genannten Gründen keine proaktiven Maßnahmen ergreift, wird es mit einer weiteren Eindämmung durch die USA und den Westen konfrontiert werden. Nach Putins Sturz werden die USA nicht mehr mit zwei strategischen Konkurrenten konfrontiert sein, sondern sie müssen nur noch China mit ihrer Strategie des Containments blockieren. Europa wird sich weiter von China abkapseln; Japan wird zur Anti-China-Vorhut; Südkorea wird weiter an die USA fallen; Taiwan wird sich dem Anti-China-Chor anschließen, und der Rest der Welt wird sich nach dem Herdentrieb für eine Seite entscheiden müssen. China wird nicht nur von den USA, der NATO, von QUAD und AUKUS militärisch eingekreist, sondern auch von westlichen Werten und Systemen herausgefordert werden.


Chinas strategische Wahl

3.1. China kann sich nicht an Putin binden und sollte so schnell wie möglich einen Schnitt machen. Die Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen wird dazu beitragen, die Aufmerksamkeit der USA von China abzulenken, und nur zu diesem Zweck hätte China von Putin profitiert und ihm sogar Unterstützung zukommen lassen können. Wenn Putin die Macht verliert und China mit ihm im selben Boot sitzt, wird sich das für China negativ auswirken. Allerdings ist die Aussicht unwahrscheinlich, dass Putin selbst mit Chinas Unterstützung den Sieg davontragen könnte. China hat nicht ausreichend Gewicht, Russland zu unterstützen. Das Gesetz der internationalen Politik besagt, dass es »weder ewige Verbündete noch ewige Feinde« gibt, aber dass »unsere Interessen ewig und beständig sind«. Angesichts der derzeitigen internationalen Lage kann China im eigenen Interesse nur das kleinere Übel wählen und sich so schnell wie möglich von Russland distanzieren. Derzeit (d.h. Anfang März) wird geschätzt, dass es noch ein Zeitfenster von ein bis zwei Wochen gibt, bevor China seinen Handlungsspielraum verliert. China muss entschlossen handeln.

3.2. China sollte es vermeiden, auf zwei Hochzeiten zu tanzen, sollte seine Neutralität aufgeben und sich für die Position des Mainstreams in der Welt entscheiden. Bisher hat China versucht, keine der beiden Seiten vor den Kopf zu stoßen, und ist bei seinen internationalen Erklärungen und Entscheidungen einen Mittelweg gegangen, einschließlich der Enthaltung bei Abstimmungen im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Generalversammlung. In der Praxis hat diese Position jedoch nicht nur den Bedürfnissen Russlands nicht entsprochen, sondern auch die Ukraine und ihre Unterstützer und Sympathisanten verärgert und steht im Gegensatz zum größten Teil der Welt. In manchen Fällen ist Neutralität eine vernünftige Entscheidung, aber nicht in diesem Krieg, in dem China nichts zu gewinnen hat. Da China immer für die Achtung der nationalen Souveränität und der territorialen Integrität eingetreten ist, kann es eine weitere Isolation nur vermeiden, wenn es sich auf die Seite der Mehrheit der Länder der Welt stellt. Diese Position wäre auch für die Lösung der Taiwan-Frage von Vorteil.

3.3. China sollte den größtmöglichen strategischen Durchbruch erzielen und sich nicht weiter vom Westen isolieren lassen. Durch den Abbruch der Beziehungen zu Putin und die Aufgabe seiner neutralen Position würde China sein internationales Image verbessern und die Gelegenheit nutzen, die Beziehungen zu den USA und dem Westen durch verschiedene Maßnahmen zu verbessern. Das ist zwar schwierig und erfordert große Weisheit, aber es ist die beste Option für die Zukunft. Es besteht kein Anlass zum Optimismus, dass ein geopolitisches Gezerre in Europa, das durch den Krieg in der Ukraine ausgelöst wird, die strategische Verlagerung der USA von Europa auf den indopazifischen Raum erheblich verzögern wird. In den USA werden Forderungen laut: Europa ist zwar wichtig, aber China ist wichtiger, und das Hauptziel der USA besteht darin, China daran zu hindern, die dominierende Macht im indopazifischen Raum zu werden. Höchste Priorität für China hat in diesem Zusammenhang die Aufgabe, infolge des russisch-ukrainischen Kriegs entsprechende strategische Anpassungen vorzunehmen und alles zu tun, um die feindselige Haltung der USA gegenüber China zu ändern und so der Isolation zu entkommen. Im Endeffekt geht es darum, die USA und den Westen daran zu hindern, zusätzliche Sanktionen gegen China zu verhängen.

3.4. China sollte alles daransetzen, den Ausbruch von Weltkriegen und Atomkriegen zu verhindern, und so einen unersetzlichen Beitrag zum Weltfrieden leisten. Da Putin Russlands strategische Abschreckungskräfte ausdrücklich aufgefordert hat, sich in einen Zustand besonderer Kampfbereitschaft zu versetzen, könnte der russisch-ukrainische Krieg außer Kontrolle geraten. Wenn Russland einen Weltkrieg oder gar einen Atomkrieg provozieren würde, würde es die Welt gefährden. Angesichts dieser prekären Situation und um Chinas aktiver Rolle als verantwortungsvolle Macht Ausdruck zu verleihen, sollte China nicht nur nicht auf der Seite Putins stehen, sondern entschiedene Maßnahmen ergreifen und sein Möglichstes tun, um weitere abenteuerliche Schritte seitens Putin zu verhindern. China ist das einzige Land der Welt, das über diese Fähigkeit verfügt, und es muss diesen einzigartigen Vorteil zur Geltung bringen. Wenn Putin die Unterstützung Chinas verliert, wird er höchstwahrscheinlich den Krieg beenden oder es zumindest nicht mehr wagen, den Krieg zu eskalieren. Infolgedessen wird China sicherlich allgemeine internationale Anerkennung für die Aufrechterhaltung des Weltfriedens finden, was China nicht nur helfen könnte, eine weitere Isolation zu verhindern, sondern auch eine Gelegenheit bietet, die Beziehungen zu den USA und dem Westen zu verbessern.

Hu Wei ist Hochschullehrer sowie stellvertretender Direktor des Forschungszentrums für Staatswissenschaften im Büro der Berater des Staatsrats der VR China, Präsident der Shanghai Public Policy Research Society und Vorsitzender des Akademischen Ausschusses der Chahar Society.

Der Artikel wurde vom Autor bei der chinesischen Ausgabe des US-China Perception Monitor eingereicht und dort am 5.3.2022 publiziert. Die Wiedergabe (Übersetzung; Hinrich Kuhls) erfolgt hier nach der Version, die am 12.3.2022 unter dem Titel Possible Outcomes of the Russo-Ukrainian War and China’s Choice (https://uscnpm.org/2022/03/12/hu-wei-russia-ukraine-war-china-choice/) erschienen ist. Die Publikation erscheint im Carter Center.

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