12. Juni 2011 Armando Fernández Steinko: die Spanish Revolution und die Linke

Die 15. Mai-Bewegung

Die Krise von 2007/2008 markiert in Spanien das Ende eines langen politischen Zyklus. Eine große Koalition der Mitte versucht seit den 1980er Jahren einen modernen Wohlfahrtsstaat auf Grundlage einer zerstörten Arbeitsgesellschaft zu schaffen und ihn mit Spekulation und Verschuldung zu finanzieren. Dieses Projekt eines „finanzkapitalistischen Wohlfahrtsstaats ist historisch erschöpft. Seit zwei Jahren versucht Izquierda Unida, eine Partei der spanischen Linken, einen „Neugründungsprozess” auf die Beine zu stellen, der dieser Lage entspricht, der aber durch innere Blockaden de facto zum Stillstand gekommen ist.

Als Reaktion auf diese Blockade lancierte im Februar 2011 eine Gruppe von linken Intelellektuellen, Gewerkschaftern und Aktivisten einen Appell an die Bürger, der in wenigen Wochen von mehreren tausend Menschen unterschrieben wurde und auch eine große Medienresonanz hatte. Die Bürger sollten endlich NEIN zum Neoliberalismus sagen, sich unabhängig von ihren parteipolitischen Positionen dezentral in Form von Mesas (in Deutschland würde man wohl „Runde Tische sagen”) zusammenfinden, um gegen den Neoliberalismus zu agieren. Die Mesas organisieren sich basisnah und schaffen Räume, in denen eine praktische, direkte Opposition gegen die Banken, die Korruption und sozialen Kahlschlag artikuliert werden soll.

Daraufhin begann eine  kleine Gruppe von Jugendlichen aus den (groß)städtischen Milieus eine Demonstration zu organisieren, die sich gegen Korruption in Wirtschaft und Politik, aber auch gegen das Zweiparteiensystem und die große Koalition, die hinter ihm steht, richtete. Einige der Initiatoren hatten den Appell der Mesas unterschrieben, andere wollten nicht länger von innen gegen die Blockaden der (linken) Parteien und ihren sterilen Streitereien kämpfen. Die meisten waren jedoch bislang noch nicht politisierte „Überqualifizierte”, die für sich trotz ihrer zum Teil hohen akademischen Ausbildung keine Zukunft sehen. Sie waren inspiriert von den Bewegungen in Nordafrika, aber auch von der großen Kundgebung in Portugal, die jenseits aller Parteistrukturen stattgefunden hatte.

Die Demonstration, die auch von Attac und den mesas unterstützt wurde, war ein Riesenerfolg. Nicht nur so sehr wegen der Teilnehmerzahl, sondern weil sie eine breite und anhaltende Sympathiewelle bis hinein in den kleinsten Dörfer auslöste. Die Polizeirepression an der Puerta de Sol in Madrid löste eine weitere Solidarisierungswelle aus, die die Bewegung weiter verbreiterte. An mehr als 100 Plätzen des Landes wurden gut organisierte Zeltlager errichtet, die zum großen Teil von bis dahin nicht politisierten Bürgern aktiv unterstützt wurden. Kantinen, Bibliotheken sowie Diskussionsgruppen zu verschiedenen Themen wie Finanzsystem, Genderfragen, Korruption, Privatisierung von Copyrights etc. zogen wochenlang sowohl junge als auch ältere Menschen an, die sich zum ersten Mal politisch engagierten oder es seit Jahren nicht mehr gemacht hatte.

Es wurde beschlossen neue, dezentrale asambleas einzuberufen, um mehr immer mehr Bürger auch in den Vierteln politisch und dezentral zu beteiligen. Das Establishment, auch das linke Establishment, war von der massiven Sympathiewelle – fast 90% der Bevölkerung, so eine Befragung des offiziellen Instituts für Demoskopie, unterstützten die Proteste – überrascht, war einfach nicht vorbereitet und teilweise vollständig überfordert.

Insofern kann gesagt werden, dass die Demonstration des 15. Mai als Katalysator für einen tiefen, bis dahin nicht klar artikulierten Unmut gewirkt hat. Die Kommunalwahlen, die ein Woche später stattfanden, haben dies in Form einer hohen, zum Teil recht bewussten Wahlenthaltung, einer nur sehr mäßigen Zunahme der Stimmen für linke Parteien und einer erdrutschartigen Wahlniederlage der PSOE klar zum Ausdruck gebracht. Die Besetzung von Bankenfilialen (die Banco de Santander ist, unter anderem, direkt für die Spekulation mit Spanischen Staatspapieren verantwortlich); die Demonstrationen vor den Kommunalverwaltungen, in denen nach den Wahlen korrupte Politiker wieder in den Stadtrat einziehen, die erfolgreichen Besetzungen von Wohnungen, die von Zwangsräumungen bedroht sind und teilweise mit Polizeigewalt beendet wurde, und viele andere Proteste mehr reißen seitdem nicht ab. Für den 19. Juni ist eine große Demonstration gegen den „Europakt“ angekündigt, die die „Spanish Revolution erstmals mit deutlich antineoliberale Forderungen verbindet.

Die Frage ist, wie es danach weiter gehen wird. Wie kann sich die Massenbewegung stabilisieren? Was muss getan werden, um ein stabiles und basisnahes Netzwerk von solidarisch organisierten Bürgern aufzubauen, das das Land in einem Zustand eines permanenten low intensity Aufstandes gegen den verheerenden Folgen des Neoliberalismus hält und in der Lage ist, die Hegemonie auf den Straßen und Plätzen des Landes zu erringen? Die Mesas wären dafür ein bereits relativ ausgereiftes Format, das in den nächsten Monaten eine große Rolle spielen könnte.

Und ein weiteres Problem wird zu diskutieren sein: Wie soll die Beziehung zu den bestehenden Institutionen Macht und zu den mehr oder weniger etablierten linken Parteien gestaltet werden, und wie soll man sich bei Wahlen verhalten? Dass die Forderungen der Bewegung des 15. Mai auch eine institutionelle Artikulation notwendig macht, ist inzwischen vielen Akteuren klar. Ausgeschlossen ist das bloße Anhängen an die Izquierda Unida (IU), so wie sie heute ist, oder gar an andere Parteien der Linken – die linksnationalistischen Parteien und auch die Ultralinke haben bei dem in Gang gekommenen Prozess eine mehr als marginale Rolle gespielt.

Die gegenwärtige Führung von IU hat nach – nach zwei Jahren ohne nennenswerte Schritte in Richtung „Neugründung” und der Unfähigkeit, den Ernst der politischen und wirtschaftlichen Lage realistisch einzuschätzen – die historische Situation verpasst. Sicherlich wird es deswegen Versuche geben, linke Wahlbündnisse zu bilden, die aber von der 15-M-Bewegung nur profitieren werden, wenn sie klare Signale für eine andere Art des Politikmachens setzen. Denn auch wenn die 15-M-Bewegung eine bewusst politische Bewegung vor allem gegen das Zweiparteiensystem ist und sich auch so fühlt, ist die Skepsis gegenüber den institutionalisierten Politikformen auch der linken Parteien mehr als groß.

Armando Fernández Steinko lehrt Soziologie mit dem Schwerpunkt „industrielle Beziehungen“ an der Universidad Complutense in Madrid.

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