1. Dezember 2003 Bernhard Müller

Die "eiserne Lady" und der "Herz-Jesu-Marxist"

Die Christlich Demokratische Union Deutschlands hat auf ihrem Parteitag in Leipzig eine radikale Weichenstellung vollzogen. Bei nur vier Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen wurde die von der Vorsitzenden Merkel eingebrachte Beschlussvorlage "Deutschland fair verändern" von den 1001 Delegierten angenommen. Das "größte und umfassendste Reformpaket, das es in der CDU-Deutschlands seit langem gegeben hat" (Merkel), zielt auf eine weitgehende Privatisierung der sozialen Sicherung und die radikale Deregulierung des Arbeitsmarktes.

Die Kernelemente sind: – Privatisierung der Kranken- und Plegeversicherung durch Einführung eines Kopfprämiensystems. Für die niedrigen Einkommensgruppen ist ein bescheidener steuerfinanzierter sozialer Ausgleich vorgesehen.
– Niedrigere Renten und eine längere Lebensarbeitszeit sollen die Rentenversicherung "sanieren" und die Anreize für private Vorsorge erhöhen.
– Die Arbeitslosenversicherung wird "auf ihre Kernaufgaben zurückgeführt". Die Leistungen der beruflichen Bildung - Trainingsmaßnahmen, Mobilitätshilfen, Eingliederungszuschüsse - werden radikal zusammengestrichen und alle Anreize zur Frühverrentung rigoros beseitigt. Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird auf 12 bzw. 18 Monate beschränkt. Die Tarifautonomie soll durch die Förderung "betrieblicher Bündnisse für Arbeit" faktisch beseitigt werden.

Ergänzt werden soll diese Rosskur durch das von Friedrich Merz vorgelegte Steuerkürzungsprogramm, das in seiner sozialen Schieflage durchaus mit us-amerikanischen Vorbildern konkurrieren kann.

Angela Merkel hat sich in ihrer Quo-Vadis-Rede vom 1. Oktober, in der sie den jetzt von der Partei als Ganzes vollzogenen neoliberalen Paradigmenwechsel bereits angekündigt hatte, zentral auf die Analyse und die Vorschläge der Herzog-Kommission gestützt. Diese sind von einem grundlegenden Widerspruch geprägt. Einerseits wird eine Anpassung der Sozialsysteme (Entkoppelung von Arbeitseinkommen und Gesundheitskosten) und eine Entlastung der Kapital- und Vermögensbesitzer gefordert, um wieder zu mehr wirtschaftlichem Wachstum zu kommen. Deshalb wird die Einbeziehung von Zins- und Grundeigentumseinkommen in die Finanzierung etwa des Gesundheitssystems strikt abgelehnt. Andererseits wird aber selbst für den Fall der Umsetzung diese Rosskur zu Lasten der abhängig Beschäftigten und sozial Ausgegrenzten nur von einem moderaten Zuwachs in der gesellschaftlichen Wertschöpfung und der Produktivitätsentwicklung ausgegangen, was zwangsläufig mit neuen, noch schärferen Verteilungskonflikten verbunden wäre. Von einer halbwegs stimmigen Vision des Kapitalismus im 21. Jahrhundert kann deshalb keine Rede sein. Getrieben durch die anhaltende Wirtschaftskrise und die Folgeprobleme in den Sozialversicherungssystemen und öffentlichen Kassen begibt sich die CDU auf eine Reise, über deren Ziel selbst das Führungspersonal nur unzureichend Auskunft geben kann.

Die Kosten des neoliberalen "Reform"pakets werden selbst innerhalb der Union auf 50-60 Mrd. Euro geschätzt. Auch wenn sich die Vorsitzende in ihrer Begründung für eine radikale neoliberale Politik auf die "Gesetze der Mathematik" beruft, fehlt eine seriöse Rechnung und bleibt die Finanzierung vage. Beispiel Krankenversicherung: "Der größte Teil des Sozialausgleichs von etwa 28 Milliarden Euro ergibt sich aus der Versteuerung des Arbeitgeberanteils. Den Rest werden wir durch eisernes Sparen aufbringen. Vor allem aber (...), indem wir mit den Strukturreformen das Wachstum ankurbeln. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Wenn der geschätzte Wachstumsimpuls des Sachverständigenrates auch nur halbwegs richtig ist, dann ist der Restbetrag eine beherrschbare Größe." (Merkel) Ganz im Dunkeln bleibt, wie die Finanzierungsbedarfe der angepeilten Sozial"reformen" mit dem Merzschen Ausverkauf der Staatskassen in Übereinstimmung gebracht werden sollen.

Angela Merkel hat auf dem Parteitag eine Grundsatzentscheidung über die Richtung der Politik des konservativen Lagers gesucht und dafür eine überragende Zustimmung gefunden. Sie hat damit gleichzeitig das Konzept der bürgerlichen Volks- und Massenpartei entsorgt, das die Entwicklung der Berliner Republik in den Nachkriegsjahrzehnten entscheidend mitgeprägt hat. Die lange Zeit über die Sozialausschüsse in die Programmatik und praktische Politik der Union eingebundenen sozialen Interessen von Teilen der abhängig Beschäftigen haben dort keine politische Repräsentanz mehr. Symbolträchtig fand sich der "Herz-Jesu-Marxist" Norbert Blüm auf dem Parteitag in seiner Kritik an der "Reform"agenda als "plattgewalzte Gerechtigkeit" allein auf weiter Flur.

Merkel war sich bei ihrem Parforceritt durchaus der Tatsache bewusst, dass damit weitreichende Weichenstellungen für die politische Auseinandersetzung verbunden sind. "Die Entscheidung zwischen Rot-Grün und uns ist längst gefallen: Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob wir bei Gesundheit und Pflege langfristig im System bleiben. Die Entscheidung über das ›Ob‹ eines Wechsels ist längst gefallen. Es ist jetzt nur noch zu entscheiden, wie wir aussteigen: entweder hin zu einer Bürgerversicherung, wie Rot-Grün es will, oder hin zu einem Prämienmodell, wie wir es heute beraten." (Merkel) Teile des Unternehmerlagers wie auch der bürgerlichen Presse fordern Merkel ganz unverhohlen auf, den Kurswechsel rigoros durchzuziehen und dabei auch ein Scheitern der Konsensgespräche mit Rot-Grün in Kauf zu nehmen. "Soll Deutschland aus der Stagnation finden, braucht es langfristig verlässliche, ökonomisch vernünftige Konzepte. Eine Union, die diese zu bieten hat, wird ihre Wähler finden, auch wenn sie sich raschen, halbgaren Kompromissen im Vermittlungsausschuss versagt." (FAZ)

Die FDP schlägt noch drei Purzelbäume mehr bei der Zerschlagung von sozial- und rechtsstaatlichen Regulierungsstrukturen vor, weil die Radikalisierung der CDU ihr die Existenzgrundlage zu entziehen droht. Die bayrische CSU hat dagegen erhebliche Bedenken gegen die Art des Kurswechsels und die damit verbundenen ökonomischen und politischen Risiken, weil die offensichtliche soziale Schieflage der Merkelschen Operation die Hegemoniefähigkeit des bürgerlichen Lagers gefährde. Der Arbeitnehmerflügel der Unionsparteien schließlich sieht mit dem eingeschlagenen Kurs das Ende der gesellschaftlichen Integrationskraft der Partei gekommen und befürchtet ihre politische Marginalisierung, falls es Rot-Grün gelingt, die Auseinandersetzung um Bürgerversicherung versus Prämienmodell ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung zu stellen. "Wenn diese Kopfprämie eingeführt wird, dann werden die Plakate der SPD bei der nächsten Bundestagswahl lauten: Wer so stiehlt, den wählt man nicht. Würden diese Vorschläge Wirklichkeit, wäre die Niederlage der CDU vorprogrammiert." (Heiner Geißler) Schließlich muss auch bezweifelt werden, ob es der CDU mit den Entscheidungen des Parteitags gelingt, ihren rechtskonservativen Flügel auf Dauer bei der Stange zu halten. Die Auseinandersetzungen um den Fall Hohmann haben schon deutlich das Ende der Fahnenstange und die Existenz gewichtiger rechtspopulistischer Unterströmungen vor Augen geführt.

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