14. August 2012 Joachim Bischoff

Die fatalen Wirkungen niedriger Zinsen

Die Rendite von 30-jährigen deutschen Staatsanleihen ist auf ein neues Rekordtief gefallen. Sie liegt trotz der langen Laufzeit bei lediglich knapp über 2%. Der Bundesfinanzminister kann sich also weiter über hervorragende Bedingungen am Schuldenmarkt freuen: Für den riesigen Schuldenberg muss er immer weniger Zinsen bezahlen. Für kurzfristige Bonds gibt sogar nur noch Negativzinsen.

Bei sechsmonatigen Anleihen werden seit kurzem Renditen von minus 0,034% erreicht. Somit zahlen die Investoren, unabhängig von der Entwicklung der Inflation, dafür, ihr Geld im vermeintlich sicheren Hafen Deutschland anzulegen.

Die niedrigen Zinsen stimmen allerdings die BürgerInnen nur zum Teil froh: Sparbücher und Tagesgeldkonten werfen kaum etwas ab. Allerdings sind für Bauwillige oder potenzielle Käufer von Eigentumswohnungen die Zinsen erfreulich niedrig. Lediglich beim Überziehungszins für Bankkonten halten sich die Finanzinstitute mit Zinsen von deutlich über 10% schadlos.

Die Niedrigzinsphase macht auch den Konzernen und den Versicherungsunternehmen zu schaffen. Die betrieblichen Rentenkassen rechnen mit Lücken in Milliardenhöhe und die Versicherungsunternehmen haben zunehmend Schwierigkeiten, bei Lebensversicherungen und Anlagen für die Alterssicherung die Mindestbedingungen einzuhalten.

Das niedrige Zinsniveau hat 2011 bei der Wieder- bzw. Neuanlage der deutschen Lebensversicherer bereits zu entgangenen Zinseinnahmen von über einer Mrd. Euro geführt. Die weiter anhaltende Niedrigzinsphase wird sich zunehmend auf die Leistungen der Lebensversicherung und andere Formen der privaten Altersvorsorge auswirken. Die niedrigen Zinsen haben somit Folgen für die gesamte Wirtschaft.

Was verursacht niedrige Zinsen? Vielfach werden in erster Linie die Notenbanken dafür verantwortlich gemacht. Die Zentralbanken (FED, BOJ, BOE, EZB) fluten den Markt mit Geld. Sie versuchen mit niedrigen Zinsen die Konjunktur zu stabilisieren. Die Pferde müssen zum Saufen gebracht werden, heißt es lax in der Sprache der Wirtschaftspolitiker. Aber dieses Rezept funktioniert immer weniger.

Niedrige Zinsen und dadurch erzeugte zusätzliche Liquidität helfen nicht, wenn sich die Investitions- und die Konsumneigung nicht ändern. Vor allem aber hilft zusätzliche Liquidität zu geringen Zinsen nicht, wenn die Unternehmen nicht investieren (wollen), weil sie nicht von einer profitablen Konstellation in den kommenden Jahre überzeugt sind. Die Niedrig-Zinspolitik von FED-Chef Ben Bernanke ist in den Finanzinstituten und der Politik stark umstritten. Er will die niedrigen Zinsen mindestens bis 2014 halten. Verliert er den Machtkampf durch Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in den USA, ändert sich vermutlich auch diese Ausrichtung der Geldpolitik.

US-Notenbankchef Bernanke bestreitet, dass die Notenbanken für das historisch niedrige Zinsniveau verantwortlich zu machen sind. Schon 2005 sprach er von einer »globalen Sparschwemme«. Aus verschiedenen Gründen hätten Sparer in vielen Regionen großen Einfluss gewonnen. In Deutschland und Japan würde die alternde Bevölkerung für den Ruhestand vorsorgen. In China hält die Regierung sichere Anleihen zum Schutz vor einer zukünftigen Bankenkrise und als Nebenprodukt ihrer Bemühungen, den Wechselkurs stabil zu halten. In anderen Wachstumsmärkten werde die Anhäufung von Devisenreserven von ähnlichen Motiven diktiert.

Ölexportierende Länder wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, aber auch Norwegen seien bestrebt, mit dem Vermögen, das sie während der Boomjahre erzielen, Rücklagen zu bilden. Erst vor diesem Hintergrund kämen die Notenbanken mit ihrer Niedrigzinspolitik ins Spiel, mit den Bemühungen im Kampf gegen die Finanzkrise und die mögliche Abschwächung der Konjunktur die Leitzinssätze nahe Null zu halten. Schlussfolgerung: Eine Abkehr von dieser expansiven Geldpolitik ist nicht in Sicht.

Der eigentliche Grund für das überreichliche Angebot an Geldkapital und damit das Herabdrücken der Zinsen auf ein historisches Tiefstniveau ist die Shareholder value-Orientierung und die damit verbundene Politik, die Verwertungsraten massiv zu steigern und durch den Einsatz von prekärer Beschäftigung Unternehmen und Belegschaften wie »Zitronen« auszupressen. Die Gewinnexpansion geht aber nicht in eine Ausweitung der Produktion, sondern das Kapital sucht risikoärmere Renten auf den Geld- und Finanzmärkten. Daher fallen die Zinsen tief.

Die Konsequenz der niedrigen Zinsen: Das Steuerungszentrum der Realakkumulation fällt mehr und mehr aus. Die Fehlanreize und Fehlleitungen von anlagesuchendem Kapital verstärken die Abwärtsbewegung bei den Investitionen in die Realwirtschaft. Die Finanzkrise führt immer stärker dazu, den Kern der Kapitalakkumulation auszuhebeln: Die Zirkulation der Geldkapitals steuert über die Zinssätze die Kapitalakkumulation und damit letztlich die Ausgleichung der Preisbildung.

Neu sind der massive Einsatz und das Volumen, mit der die angeblich von der Regierung unabhängigen Notenbanken die Preisbildung an den Märkten beeinflussen und faktisch entgegen der immer wieder beteuerten Absicht die Zins- und Preissignale verzerren. Für Anleger haben die Interventionen und Manipulationen der Notenbanken zwei Seiten: Einerseits verhalfen sie ihnen zu einer sagenhaften Liquiditäts-Hausse an den Aktien- und Rohstoffmärkten. Anderseits werden die überlieferten Konzepte der Investitionspolitik, die etwa auf der Beobachtung der Konjunktur, der Entwicklung von Unternehmensgewinnen oder der Analyse von Kennzahlen wie Kurs-Gewinn- und Kurs-Buchwert-Verhältnis fußen, mehr und mehr ausgehebelt.

Während Europa weiterhin in einer tiefen Finanzkrise steckt, woran auch die auf politischer Ebene gefeierte Übereinkunft über den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zumindest kurzfristig nichts ändert, und der Rest der Welt sich mit eigenen Problemen auseinandersetzen muss, zeigen die Aktienmärkte seit Monaten einen steigenden Trend.

Diese Entwicklung wird zunehmend kritischer beäugt, weil der Aufwärtsbewegung der Unternehmenspapiere keine Erholung der wirklichen Kapitalakkumulation entspricht. Momentan entwickeln sich die Finanzmärkte positiv. Doch angesichts der großen Risiken wird diese Erholung mehr und mehr mit Skepsis betrachtet. Die Weltwirtschaft ist von einer ausgewogenen, nachhaltigen Erholung weit entfernt.

Die Entscheidung der EZB, den Banken massiv Liquidität zur Verfügung zu stellen, ist keine Lösung für das Schuldenproblem der Krisenländer. Die Maßnahme sorgt allerdings dafür, dass die Staatsschuldenkrise nicht auch noch eine Bankenkrise auslöst, die das Schuldenproblem weiter vergrößern würde. Dieser Teufelskreis lässt sich nur durch eine Steigerung des Wirtschaftswachstums, also eine kontrollierte Entwertung des fiktiven Kapitals und eine Erneuerung der gesamtgesellschaftlichen Produktion durchbrechen.

Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung dreht sich um die Frage, ob nicht durch einen Politikwechsel wirtschaftliches Wachstum angestoßen werden muss und erst im weiteren Verlauf der wirtschaftlichen Expansion eine Sanierung der Finanzen der öffentlichen und privaten Sektoren erreicht werden kann. Durch den Regierungswechsel in Frankreich hat diese Alternative in Europa an Einfluss gewonnen. Es geht um die Zielsetzung, Wachstum auch mit staatlichen Infrastrukturprogrammen und einer Stabilisierung der Sozialleistungen anzuschieben.

Gelingt es nicht, eine Beschleunigung der Kapitalakkumulation und ein höheres Wirtschaftswachstum auf den Weg zu bringen, droht der Euro-Zone, Europa insgesamt und der Globalökonomie eine erneute Rezession und eine langjährige Stagnation. Die von Immobilien- und Kreditsektor ausgelöste Abwärtsbewegung in der Realökonomie konnte gestoppt werden und 2011 erreichten Produktion und gesamtwirtschaftliche Leistungen wieder das Vorkrisenniveau.

In Europa und vor allem der Euro-Zone zeichnet sich nun aber wegen der Austeritätspolitik, die den Schuldenabbau von privaten Haushalten, Finanzinstituten und Unternehmen verstärkt, eine rezessive Entwicklung ab.

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