10. September 2015 Joachim Bischoff / Bernhard Müller

Die Flüchtlingsbewegung erfordert auch politische Lösungen

Die in den letzten Monaten deutlich anschwellende Flüchtlingsbewegung hat die politischen Verhältnisse in Europa durcheinander gewirbelt. Weil europäische Institutionen zwar im Zweifelsfall rasch Finanzinstituten beispringen, bei gravierenden humanitären Fragen einzelne Länderrepräsentanten aber höchst unangenehme Gesichter zeigen, hat die Rede von einer »Flüchtlingskrise« vor allem auch diese Seite.

Drei Tendenzen zeichnen sich ab

  • Die offenkundigen Schwierigkeiten oder politischen Hürden mit dem stark angestiegenen Strom von Schutzsuchenden hat aufgedeckt: Europa ist in keiner guten Verfassung. Die Aktionen gegen die Flüchtlinge vor allem in Ungarn, Dänemark und Großbritannien haben das Dublin-Abkommen als wenig praktiziertes staatliches Regulierungsinstrument sichtbar werden lassen. Eine dezentrale Erfassung der Schutzsuchenden und ihre Verteilung auf die verschiedenen Mitgliedsländer werden zu einer kaum realisierbaren politischen Kraftanstrengung. Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat erstmals offen einen Führungsanspruch – »Deutschland geht voran« – proklamiert. Ob die europäische Hegemonialmacht praktikable Lösung durchsetzen kann, ist allerdings noch nicht sicher.
  • Selbst in Ländern, die auf eine restriktive Flüchtlingspolitik durch die entsprechenden politischen Kräfteverhältnisse festgelegt sind (Ungarn, Polen und Großbritannien), zeigen Umfragen, dass große Teile der Bevölkerung für eine humanitäre Praxis gegenüber Schutzsuchenden eintreten. Diese Impulse aus der Zivilgesellschaft zeigen Wirkung und führen teils zu einer veränderten Praxis. Auch in Deutschland hat die von einer breiten gesellschaftlichen Basis getragene Willkommenskultur zu einer veränderten staatlichen Politik geführt. Die rassistischen Proteste und Anschläge auf Flüchtlinge und deren Infrastruktur verschwinden dadurch nicht, aber rechtspopulistische und rechtsextreme Einstellung sind deutlich in die Minderheit abgedrängt.
  • Die von dem Anstieg der Flüchtlinge ausgelösten Krise im politisch-staatlichen Raum ist nicht überraschend. Schon vor rund 18 Monaten hatte die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR prognostiziert, dass die unzureichende Finanzierung der Flüchtlingscamps und der Unterstützungsarbeit in den Krisengebieten (Syrien, Irak, Afghanistan etc.) demnächst eine starke Wanderungsbewegung auslösen würde. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) wirbt seit Monaten für eine deutliche Aufstockung des bundesdeutschen Anteils an der Finanzierung der Flüchtlingsarbeit in der Nähe der Krisengebiete. Allein durch eine solche Perspektive könnte die beklagte »Schleuser-Konjunktur« ausgetrocknet werden. Wenn Deutschland die Führungsrolle wirklich umsetzen will, müssen in der internationalen und europäischen Flüchtlingsarbeit neue Maßstäbe durchgesetzt und finanziert werden.

Für die Bundeskanzlerin steht fest: Die Flüchtlingsfrage wird Europa »sehr, sehr viel mehr noch beschäftigen als die Frage (nach) Griechenland und die Stabilität des Euro«. Das »Asylthema könnte das große nächste europäische Projekt sein, wo wir zeigen, ob wir wirklich in der Lage sind, gemeinsam zu handeln.«

Mit der Entscheidung, das Dublin-Verfahren vorübergehend außer Kraft zu setzen, und zehntausende Flüchtlinge aus Ungarn einreisen zu lassen, haben Deutschland und Österreich ein deutliches Zeichen im Umgang mit der großen Flüchtlingsbewegung Richtung Europa gesetzt – ein Zeichen auch in Richtung jener politischen Kräfte, die in vielen europäischen Ländern versuchen, die Flüchtlingskrise zu nutzen, um die Kräfteverhältnisse in Sinne einer nationalistischen und fremdenfeindlichen politischen Agenda zu verschieben. Die Widerstände vieler europäischer Länder gegen ein einheitliches europäisches Asylverfahren und eine Verteilung der Flüchtlinge resultieren ja gerade aus der Dominanz bzw. dem Einfluss rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen.

Die Bereitschaft Deutschlands und Österreichs, jenseits der europäischen Spielregeln weitere Kriegsflüchtlinge bei sich aufzunehmen, sind auch Ausdruck eines enormen zivilgesellschaftlichen Engagements in diesen Ländern bei Betreuung und Versorgung der Flüchtlinge. Sie machen deutlich, dass es eine Chance gibt, den Rechtspopulismus bei einem seiner Kernthemen, der Fremdenfeindlichkeit, einzuhegen.

Dies zeigt auch das britische Beispiel: Der konservative Premierminister Cameron musste sich unter dem Einfluss einer Massenpetition von 400.000 britischen BürgerInnen bereit erklären – UKIP hin oder her – bis zu 20.000 Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen. Und selbst Australien, eines der fremdenfeindlichsten Länder der Welt, das sich rigoros gegen Flüchtlinge abgeschottet hat, zeigt Bereitschaft, wenigstens ein paar tausend syrische Flüchtlinge aufzunehmen.

Die Bundesregierung will bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise in Europa mit gutem Beispiel vorangehen. »Wenn wir mutig sind und vorangehen, wird es wahrscheinlicher, dass es eine europäische Lösung geben wird«, sagte die Kanzlerin in der Generaldebatte im Bundestag. Denn wenn Europa versage, »ginge ein entscheidender Gründungsimpuls eines geeinten Europas verloren. Nämlich die enge Verbindung mit den universellen Menschenrechten, die Europa von Anfang an bestimmt hat und die auch weiter gelten muss.«

Um als gutes Beispiel gelten zu können, fordert sie einen »nationalen Kraftakt«, vergleicht die Herausforderung, vor der das Land nun stehe, mit nichts weniger als der Deutschen Einheit, der Bankenrettung, Naturkatastrophen, sogar der Energiewende. Auch die Integration der Flüchtlinge sei »eine große Aufgabe«, die eine längere Zeit dauern werde und jeden angehe. Statt deutscher Gründlichkeit sei in dieser Situation »deutsche Flexibilität« gefragt. Die Integration der Flüchtlinge sei »mit normalen deutschen Vorgehen nicht zu machen«. Deutschland sei ein starkes Land. »Wir haben schon so viel geschafft. Wir schaffen das.«

Wie sich die Koalitionsregierung aus CDU/CSU und SPD den »nationalen Kraftakt« vorstellt, hat sie in einen Maßnahmenkatalog dargelegt, der auf dem nationalen Flüchtlingsgipfel mit den Ländern und Kommunen am 24. September verhandelt werden soll. Elemente dieses nationalen Aktionsplans sind u.a.

  • Der Bund will im Haushalt 2016 seine Ausgaben für Flüchtlingspolitik um drei Milliarden Euro erhöhen, von denen allein zwei bis drei Milliarden Euro aus dem Haushalt von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) fließen, um die Kosten für Hartz-IV-Leistungen anerkannter Flüchtlinge und Integrationsleistungen zu erstatten. Länder und Kommunen sollen ebenfalls drei Milliarden Euro bekommen. Finanziert werden soll das aus den Steuermehreinnahmen dieses Jahres.
  • Kosovo, Albanien und Montenegro werden per Gesetz zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt. Für Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina gilt dies bereits. Eindeutiges Ziel dieser Maßnahme ist die Verkürzung der Asylverfahren vor allem für Westbalkan-Flüchtlinge und das Hoffen auf einen Abschreckungseffekt. AsylbewerberInnen aus »sicheren Herkunftsländern« sollen nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Abschiebungen werden für höchstens drei Monate ausgesetzt und Sozialleistungen für Menschen ohne Duldung reduziert. In diesen Zusammenhang gehört auch das Ansinnen, dass AsylbewerberInnen in den Erstaufnahmeeinrichtungen zukünftig »soweit wie möglich« statt Bargeld Sachleistungen erhalten. Zudem soll künftig eine »Sekundärmigration« in Europa verhindert werden. Wenn jemand in ein anderes Land verteilt worden ist und nach Deutschland möchte, soll er hier nicht deutsche Leistungen erhalten, sondern auf das Land verwiesen werden, dem er zugeteilt wurde.
  • Die Kapazität der Erstaufnahmeeinrichtungen soll auf 150.000 »winterfeste« Plätze ausgebaut werden. Der Bund wird dies finanziell unterstützen und dafür sorgen, dass von den normalen Bauvorschriften teilweise abgewichen werden kann. Alle verfügbaren Liegenschaften des Bundes sollen mietzinsfrei zur Verfügung gestellt werden, auch die Kosten für die Herrichtung will der Bund übernehmen. Außerdem will der Bund mit steuerlichen Anreizen den Neubau preiswerter Wohnungen generell fördern. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau will den Kommunen zudem zweckgebundene Kredite in Höhe von 300 Mio. Euro für Flüchtlingsunterkünfte zur Verfügung stellen.
  • Die Höchstdauer der Aufenthalte in den Erstaufnahmelagern wird von drei auf sechs Monate ausgeweitet. Die Bundespolizei wird 3.000 neue Stellen erhalten, unter anderem um die angestrebte schnellere Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern zu bewältigen.
  • Als Maßnahmen zur leichteren Integration von anerkannten AsylbewerberInnen und Bürgerkriegsflüchtlingen wurde u.a. beschlossen, das Leiharbeitsverbot für AsylbewerberInnen und Geduldete nach drei Monaten aufzuheben sowie die Mittel für Eingliederung am Arbeitsmarkt und Sprachförderung aufzustocken. Für Staatsangehörige aus Westbalkan-Staaten soll es künftig mehr Möglichkeiten einer legalen Migration nach Deutschland geben, BürgerInnen aus diesen Staaten sollen in Deutschland eine Arbeit oder Ausbildung aufnehmen können, wenn sie einen Arbeitsvertrag vorweisen. Eine konkrete Zahl für solche Arbeitsvisa wurde nicht vereinbart, Arbeitsministerin Nahles sprach von jährlich 20.000 für die Dauer von fünf Jahren.
  • Der Bundesfreiwilligendienst soll um 10.000 Stellen aufgestockt werden, um das ehrenamtliche Engagement für Flüchtlinge zu stärken.
  • Das Auswärtige Amt erhält 400 Mio. Euro, um die Krisenprävention und -vorbeugung auszubauen. Das Geld soll u.a. für die Versorgung und Betreuung der Lager in den Anrainerstaaten Syriens verwendet werden, wo sich geschätzt bis zu drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufhalten. In Nordafrika sollen Anlaufstellen für Flüchtlinge aufgebaut werden, in denen sie vor einer gefährlichen Reise über das Mittelmeer Informationen erhalten, ob sie überhaupt Chancen auf Asyl in der EU haben.

Keine Frage: In der Bundesrepublik Deutschland hat sich unter dem Druck der großen Mehrheit der Bevölkerung eine Option des »Wir schaffen das« auch gegenüber den politisch-staatlichen Instanzen durchgesetzt. Doch bei aller Anerkennung der Flexibilität im staatlichen Handeln gibt es unübersehbare Defizite.


Die Finanzen reichen hinten und vorne nicht

Zur Finanzierung der zusätzlichen Ausgaben für Flüchtlinge will die Bundesregierung den Milliarden-Überschuss nutzen, der in diesem Jahr dank der stabilen Konjunktur und höherer Steuereinnahmen anfällt. In dem Überschuss sind auch Einmalerlöse enthalten. Ursprünglich war geplant, damit Schulden abzubauen. Das ist politisch und ökonomisch klug, denn die zusätzlichen Ausgaben wirken wie ein Konjunkturprogramm und tragen zur Stabilisierung der Binnenkonjunktur bei. Der Ausbau der Infrastruktur für Flüchtlinge impliziert eine Stärkung der Binnenwirtschaft.

Auch dass die Bundesregierung vorsorglich mehr Gelder für Hartz IV-Leistungen und Arbeitsförderung in 2016 einplant, ist sinnvoll. Denn bei 800.000 Flüchtlingen in diesem Jahr, muss im nächsten Jahr mit deutlich mehr anerkannten AsylbewerberInnen gerechnet werden, für die dann in der Regel die Jobcenter zuständig sind, deren Finanzierung Bund und Kommunen obliegt. 2016 wird es zwischen 240.000 bis 460.000 zusätzlich Leistungsberechtigten im Bereich des SGB II geben, also vor allem in Deutschland anerkannte Menschen, die noch keine Arbeit gefunden haben. Von ihnen dürften Prognosen zufolge 175.000 bis 335.000 erwerbsfähig sein. Für das Jahr 2019 geht Arbeitsministerin Nahles von einer Million Leistungsberechtigten aus. Zur Deckung der Sozialausgaben für diese Flüchtlinge und ihre Integration in den Arbeitsmarkt sind laut Arbeitsministerium zusätzliche Mittel von 1,8 bis 3,3 Mrd. Euro notwendig, diese Kosten wachsen im Jahr2019 auf rund sieben Mrd. Euro.

Dagegen reichen die für Länder und Kommunen eingeplanten zusätzlichen drei Mrd. Euro in keiner Weise. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) kritisierte die Beschlüsse der großen Koalition zur Flüchtlingspolitik deshalb zu Recht scharf.

Erstens plane der Bund für dieses Jahr offensichtlich keine weiteren Unterstützungszahlungen für Länder und Kommunen ein. Die Milliarde, die der Bund für dieses Jahr bereitstelle, seien zugesagt worden, als man noch von deutlich weniger Flüchtlingen ausgegangen sei. Außerdem sei diese Milliarde »kein frisches Geld vom Bund«, da davon 500 Mio. Euro aus dem Fluthilfefonds kommen, in den auch die Länder eingezahlt haben. Die anderen 500 Mio. Euro sind Kredite, die auf die Landeshaushalte schlagen.

Zweitens würden die in den Eckpunkten vorgeschlagenen drei Mrd. Euro für Länder und Kommunen für Nordrhein-Westfalen einen Anteil von 600 Mio. Euro bedeuten. Allein das Land – ohne den Anteil der Kommunen – gebe aber in diesem Jahr 1,7 Mrd. Euro aus.

Drittens kritisiert die NRW-Regierungschefin, dass sie in dem Beschluss nichts von der Dynamik bei der Beteiligung der Kosten sehe, die vom Bund versprochen wurde. Das bedeute, dass sich der Bund nicht mit einer festen Summe, sondern an den Flüchtlingszahlen orientiert beteilige. Sie gehe außerdem davon aus, dass die prognostizierte Zahl der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge für das Jahr 2015 nicht zu halten sei: »Wir sind uns alle darüber im Klaren, dass es nicht bei 800.000 bleiben wird.«

Die Summen, um die es eigentlich geht, verdeutlicht der nordrhein-westfälische Finanzminister Norbert Walter-Borjans mit einer einfachen Rechnung: »Die Versorgung eines Flüchtlings kostet pro Jahr rund 12.500 Euro. Wenn in diesem Jahr 800.000 Menschen zu uns kommen, geht es also um zehn Milliarden Euro. Zu den drei Milliarden Euro, die der Bund jetzt für Länder und Kommunen vorsieht, besteht da offensichtlich eine große Lücke. Wenn wir jetzt Integration auf Sparflamme betreiben, dann schaffen wir uns doch die Probleme von morgen. «


Repressive Maßnahmen sind nicht populär, wirken nicht und sind mit dem Grundgesetz nicht vereinbar

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert zu Recht die geplante Einordnung weiterer Balkanstaaten als sichere Herkunftsländer: »Die Balkanstaaten sind nach wie vor keine sicheren Herkunftsländer, auch wenn es aus Balkanstaaten Arbeitsmigration gibt. Zahlreiche Menschenrechtsberichte zeigen, dass Angehörige der Roma und andere Minderheiten in den Balkanstaaten umfassender rassistischer Ausgrenzung ausgesetzt und von existentieller Armut bedroht sind. Justiz und Polizei schützen sie kaum.«

Auch der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Strässer, kritisiert die Ausweitung der Liste »sicherer Herkunftsländer«: »Das Konzept der sicheren Herkunftsländer ist eines, was dem Asylrecht insgesamt fremd ist.« Schließlich handele es sich dabei um ein Individualrecht eines jeden Flüchtlings.

Die Verlängerung der Verweildauer in den Erstaufnahmeeinrichtungen werde die Unterbringungssituation verschärfen. Die geplante Ausweitung der Kapazitäten von ca. 45.000 auf 150.000 wird kurzfristig nicht realisiert werden können – frühestens im Laufe des Jahres 2016. »Die doppelte oder dreifache Belegung bestehender Einrichtungen wird unerträgliche Lebensumstände für tausende Menschen schaffen und Konflikte auf engstem Raum verschärfen.«

Die geplante Ausgabe von Sachleistungen statt Bargeld in der Erstaufnahme hält Pro Asyl für verfassungswidrig. Sie soll entgegen der öffentlichen Wahrnehmung Flüchtlinge aus sämtlichen Herkunftsländern betreffen. »Der Barbetrag ist keine freiwillige Zusatzleistung, sondern dient dazu, das verfassungsrechtlich garantierte soziokulturelle Existenzminimum – also ein Minimum an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – zu ermöglichen.«

Flüchtlingen zu unterstellen, wegen der geringen Bargeldleistungen (143 Euro für Alleinstehende) nach Deutschland einzureisen, »ist nicht nur ein Hohn für all jene Menschen, die vor rassistischer Diskriminierung, Krieg und Verfolgung fliehen, dieser Populismus befeuert eine Neiddebatte, die den Nährboden für eine weitere Zunahme der rassistischen Hetze und Gewalt gegen Flüchtlinge schafft«.


Krisenprävention und -hilfe: (fast) Fehlanzeige

Auch die zusätzlichen 400 Mio. Euro, die das Auswärtige Amt zusätzlich erhalten soll, um die Krisenprävention und -vorbeugung auszubauen, sind angesichts der Herausforderung nur ein Tropfen auf den heißen Stein. So zwingt die aktuelle Lage in Syrien und den Nachbarstaaten Tausende Syrer dazu, alles zu riskieren und sich auf die gefährliche Reise nach Europa zu begeben.

Selbst im fünften Jahr der »Syrienkrise« ist keine politische Lösung in Sicht. Aktuell sind 4.088.099 syrische Flüchtlinge in den Ländern rund um Syrien registriert, darunter 1.938.999 in der Türkei, 1.113.941 im Libanon, 629.266 in Jordanien, 249.463 im Irak, 132.375 in Ägypten und 24.055 in den Ländern Nordafrikas. Nur 12% der Flüchtlinge in der Region leben in formellen Flüchtlingscamps.

Doch nicht nur die Geflüchteten, sondern auch die Länder, die sie aufnehmen, sind auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Diese wird allerdings immer mehr ausgedünnt. 4,5 Mrd. US-Dollar sind 2015 für syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern nötig. Nur ein gutes Drittel davon ist derzeit finanziert. Zu den Ländern, die durch dieses Hilfsprogramm unterstützt werden, zählen neben Jordanien und dem Libanon die Türkei, Ägypten und der Irak.

Größte »Geber« des von der UNO mit erarbeiteten »Refugee Resilience Plan« sind derzeit die USA, danach folgt Kuwait, dann die EU. Das UNHCR ist bei seiner Hilfe auf die freiwilligen Zahlungen der Staaten angewiesen (genauso wie die Hilfsorganisationen, die etwa in Jordanien im Einsatz sind, auf Spendengelder angewiesen sind). Es gibt keinen Schlüssel, welches Land wie viel zahlen muss.

»Die ganze Hilfe ist systematisch unterfinanziert«, sagt Christoph Schweifer, Generalsekretär für die Auslandshilfe der Caritas Österreich. Als konkrete Folge könne Jordanien keine kostenlose Gesundheitsversorgung mehr zur Verfügung stellen. Auch die andauernde Hilfe sei nicht gesichert. Und: Hunderttausende syrische Flüchtlinge erhalten keine Lebensmittelgutscheine mehr, weil den UN das Geld dafür ausgegangen ist. Schuld sind die Geberländer, die mit ihren Zahlungen nicht nachkommen.

»Wenn die Weltgemeinschaft es nicht schafft, die Grundunterstützung für Flüchtlinge zur Verfügung zu stellen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn diese Menschen sich auf den Weg nach Europa machen«, kritisiert Kilian Kleinschmidt, ein erfahrenen Krisenhelfer des Flüchtlings-Hilfswerks UNHCR. Es brauche einen US-Dollar pro Tag, um einen Flüchtling zu ernähren. Das sei eine geringe Summe im Vergleich etwa zu den Militärausgaben oder zu den Beträgen, über die mit Griechenland verhandelt werde. Bis Ende des Jahres fehlten dem World Food Programm (WfP) 45 Mio. Euro – »die Kosten des ungarischen (Grenz-)Zaunes«.

Als eine Schlussfolgerung aus dieser Situation fordert der UNHCR daher, dass Personen, bei denen sich nach einer ersten Überprüfung ein Schutzbedarf ergibt, von einem groß angelegten Umsiedelungsprogramm profitieren können müssen, an dem sich alle EU-Mitgliedsstaaten verpflichtend beteiligen. Eine vorläufige Schätzung geht von einem möglichen Bedarf der Aufstockung von Verteilungsmöglichkeiten auf 200.000 Plätze aus. Das kann nur funktionieren, wenn dies mit adäquaten Aufnahmekapazitäten, insbesondere in Griechenland, einhergeht. Solidarität kann nicht die Verantwortlichkeit von einzelnen EU-Mitgliedsstaaten sein.

»Europäische Staaten, genauso wie Regierungen anderer Regionen, müssen grundlegende Änderungen vornehmen, um höhere Resettlement- und humanitäre Aufnahmequoten und erweiterte Visa- und Förderprogramme zu ermöglichen. Es müssen aber auch weitere Wege geschaffen werden, um legal nach Europa einzureisen. Familienzusammenführung muss mehr als bisher zu einer greifbaren Option für mehr Menschen werden. Wenn diese Mechanismen erweitert und effizienter gestaltet werden, können wir die Zahl derer reduzieren, die aus Mangel an Alternativen gezwungen sind, ihr Leben auf hoher See zu riskieren.« (UNHCR Flüchtlingskommissar António Guterres)

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