19. April 2017 Hinrich Kuhls: Vorgezogene Parlamentswahlen in Britannien

Die Lockerung eines gordischen Knotens

Die britische Premierministerin Theresa May hat Neuwahlen zum Unterhaus des Parlaments des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland angekündigt. Da alle großen Oppositionsparteien unmittelbar nach der Ankündigung signalisiert haben, dass sie dem Antrag auf vorzeitige Auflösung des Parlaments zustimmen, stand innerhalb weniger Stunden fest, dass das für diesen Fall vorgesehene Quorum von zwei Drittel der Abgeordneten keinen Hinderungsgrund für die Pläne der derzeitigen Exekutive darstellt. Die Neuwahl der 650 Abgeordneten findet am 8. Juni statt.

May hatte seit ihrem Amtsantritt im Juli 2016 – wenige Wochen nach dem Brexit-Referendum vom 23. Juni – Fragen nach vorgezogenen Wahlen immer strikt verneint. Auch bei und nach der Einreichung des EU-Austrittsschreibens beim Präsidenten des Europäischen Rats Ende März hatte sie die bisherige Einhaltung ihres Zeitplans bei der Rückgewinnung der vollen Souveränität des Vereinigten Königreichs, die angeblich gute Vorbereitung der Brexit-Verhandlungen seitens ihrer Administration und ihre innenpolitische Durchsetzungsfähigkeit für einen harten Brexit hervorgehoben.

Mit dem abrupten Kurswechsel bereitet May zunächst den Weg in Richtung einer Entzerrung der politischen Entscheidungen zum Ende der Brexit-Verhandlungen ab 2019, unabhängig davon, ob der erhoffte und im konservativen Lager allseits erwartete Wahlgewinn mit einer stabilen Mehrheit sich einstellt oder sich eine andere Regierungskonstellation ergibt. In regulären Gesamterneuerungswahlen im Mai 2020, in zeitlicher Nähe zum Abschluss der EU-Austrittsverhandlungen, hätte die Machtposition der Konservativen Partei nur gehalten werden können, wenn der EU-Austritt in der harten und intransigenten Version durchgesetzt worden wäre, wie er von May und dem rechtsnationalen Flügel ihrer Partei bisher unbeirrt propagiert worden ist.

Neben der Neuausrichtung des Außenhandels und des innerhalb der Tories umstrittenen Wegs einer weiteren Kooperation mit der EU stand und steht die Regierung vor einem ganzen Bündel innenpolitischer und ökonomischer Probleme, für die von den Tories bisher keine Lösungsvorschläge vorgelegt worden sind. Diese Probleme müssen aber parallel zu den Austrittsverhandlungen gelöst werden. Die Erosion der knappen politischen Machtbasis im Parlament und der jetzt hohen Sympathiewerte bei den WählerInnen wäre nicht ausgeschlossen gewesen.

Mit dem Neubeginn einer Legislaturperiode soll ein längerer Zeitrahmen geschaffen werden, um den Transfer Britanniens aus einer supranationalen Union in einen vollständig unabhängigen Nationalstaat bewerkstelligen zu können, ohne dass das Land in eine Rezession fällt und die Desintegration der vier Landesteile sich zu einer Verfassungskrise fortentwickelt. Seit der Abgabe des Austrittsschreibens am 29. März ist klar geworden, dass die EU geschlossen, einschließlich der derzeitigen polnischen Regierung, erhebliche Zugeständnisse fordern wird, damit überhaupt ein Austrittsvertrag zustande kommt. Innerhalb der Zweijahresfrist wird – wie von der britischen Regierung gewünscht - schwerlich ein neues Handelsabkommen UK-EU auszuhandeln sein. Dazu reicht die Zeit nicht.

Eine Übergangsregelung, wie vor allem vom Finanzsektor und der verarbeitenden Industrie gefordert, erscheint unabdingbar, wurde aber bis vor kurzem von der britischen Regierung strikt abgelehnt. In den letzten Wochen wurde seitens May und ihren Beratern häufiger von einer längeren »Implementierungsphase« der neu zu gestaltenden Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem UK und der EU gesprochen. Eine Übergangsregelung wird aber nach wie vor von mindestens 50 der 330 Abgeordneten der Tory-Fraktion, deren parlamentarische Mehrheit derzeit nur vier Sitze beträgt, abgelehnt: Brexit heißt Brexit.

Mit dem Entscheid für Neuwahlen wird sich auch der Beginn der Brexit-Verhandlungen verzögern, der für Anfang Juni vorgesehen war. Den EU27-Regierungen verbleibt so nach der Verabschiedung der Verhandlungsrichtlinien am 29. April durch den Europäischen Rat ausreichend Zeit, um die eigene Verhandlungsposition gegenüber den britischen Vorstellungen auch im Detail abzustimmen. Die britische Position wird hierdurch nicht gestärkt.

Desgleichen kann auch das legislative Kernstück zur Rückgewinnung der Souveränität aus der supranationalen Bevormundung durch die EU-Institutionen, das »Große Aufhebungsgesetz«, erst nach der Konstituierung des neuen Parlaments eingebracht werden. Mit diesem Gesetz soll das EU-Beitrittsgesetz von 1972 aufgehoben werden und zugleich zur Wahrung der Rechtssicherheit das EU-Recht »wo immer möglich« als nationales Recht übernommen werden soll. Bisher war vorgesehen, dass dieser Gesetzentwurf als work-in-progress entsprechend dem Verhandlungsverlauf angepasst und dann zeitnah zur Unterzeichnung des Austrittsvertrags vom britischen Parlament mit seinen beiden Kammern verabschiedet werden sollte.

Es verwundert nicht, dass May ihren Antrag nicht mit den anhaltenden Auseinandersetzungen in der Konservativen Partei begründet, sondern die angebliche Obstruktionsarbeit sowohl der Opposition im Unterhaus als auch der gesamten ersten Parlamentskammer, dem House of Lords, anführt. Die mit Brexit-Fragen befassten Ausschüsse des Oberhauses haben in von der Öffentlichkeit wenig beachteter parlamentarischer Kleinarbeit zahlreiche Konfliktpunkte des EU-Austritts herausgearbeitet. Das Drängen der Oppositionsparteien im Unterhaus, parlamentarisch auf den Verhandlungsgang Einfluss zu nehmen, hätte sich nicht permanent abweisen lassen, wie sich schon bei der Beschlussfassung über den Start des Austrittsverfahren gezeigt hatte. Der verfassungsgemäße Souverän des Vereinigten Königreichs, das Parlament, hatte unverblümt deutlich gemacht, dass er bei der »Wiederherstellung der Souveränität der Nation« mehr als ein Wörtchen mitreden will.

Die Premierministerin hingegen umgeht alle Probleme der Renationalisierung, der politischen Desintegration, der tiefen sozialen und regionalen Spaltung, der aufziehenden ökonomischen Unsicherheiten, der nicht korrigierten Austeritätspolitik und der anhaltenden Auszehrung der sozialen Infrastruktur und stellt in den Mittelpunkt ihrer Begründung den Appell an die Einheit der Nation, die vom Parlament unterlaufen werde – ein Tabubruch ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte des Vereinigten Königreichs. »In diesem Moment von enormer nationaler Bedeutung sollte es hier in Westminster eine Einheit geben, aber stattdessen gibt es eine Spaltung. Das Land steht vereint, Westminster nicht… Die Spaltung in Westminster unterminiert unsere Kraft, den Brexit zu einem Erfolg zu machen, und wird dem Land zerstörerische Unsicherheit und Instabilität bringen.«

Vor dem Hintergrund der nationalen Aufgabe der Rückgewinnung der Souveränität wird von der Premierministerin das parlamentarische Ringen um die Ausgestaltung des EU-Austritts ausnahmslos und entgegen besseren Wissens als Affront gegen den Volksentscheid für den EU-Exit herausgestellt. »In den vergangenen Wochen hat Labour gedroht, gegen den Vertrag zu stimmen, den wir mit der Europäischen Union abschließen werden. Die Liberaldemokraten haben gesagt, sie wollen die Regierungsgeschäfte zum Stillstand bringen. Die schottische Nationalpartei sagt, sie werden gegen das Gesetz stimmen, mit dem die britische Mitgliedschaft in der Europäischen Union offiziell aufgehoben wird. Und die nicht gewählten Mitglieder des House of Lords haben geschworen, jeden unserer Schritte zu bekämpfen.«

Mays Begründung für vorzeitige Wahlen schließt als Wahlkampfauftakt mit einem rechtspopulistisch konnotierten Appell, ihr autoritär ausgerichtetes exekutives Handeln zulasten parlamentarischer Aushandlungsprozesse zu stärken: »Bei der Entscheidung, vor der das Land jetzt steht, geht es in erster Linie um Führung. Es wird eine Wahl zwischen einer starken und stabilen Führung im nationalen Interesse, mit mir als Premierministerin, sein und einer schwachen und instabilen Koalitionsregierung unter der Führung von Jeremy Corbyn, angereichert mit Liberaldemokraten, die das Trennende des EU-Referendums reaktivieren wollen, und mit Nicola Sturgeon und der Schottischen Nationalpartei. Jede Stimme für die Konservativen wird es der Opposition erschweren, mich davon abzuhalten, meine Aufgabe zu Ende zu bringen. Jede Stimme für die Konservativen wird mich stärker machen, wenn ich für Britannien mit den Premierministern, den Präsidenten und den Kanzlern der Europäischen Union verhandle. Jede Stimme für die Konservativen bedeutet, dass wir an unserem Plan für ein stärkeres Britannien festhalten und die richtigen langfristigen Entscheidungen für eine sichere Zukunft treffen können.«

Zurzeit deuten alle Wahlumfragen darauf hin, dass das politische Kalkül der jetzigen Premierministerin aufgehen kann, aus einer gegenüber dem Parlament und ihrer eigenen Partei gestärkten Position heraus die Regierungsgeschäfte leiten zu können. In der letzten Umfrage des Instituts YouGov zur Wahlintention am 13. April liegt die Konservative Partei mit 44% an der Spitze, dahinter mit 23% abgeschlagen die Labour Party, gefolgt von den Liberaldemokraten (12%), der UKIP (10%) und anderen, inklusive der SNP (10%).

Doch das britische Mehrheitswahlrecht hat seine Tücken. Welcher Kandidat der jeweils beiden dominierenden Parteien in den einzelnen Wahlkreisen obsiegt, hängt häufig davon ab, welche Wählerbewegungen zugunsten oder zuungunsten der dritten Kraft stattfinden. So hängt in den umkämpften Wahlkreisen in England viel von der Mobilisierungskraft der rechtspopulistischen UKIP ab (in Wahlkreisen mit hohem Anteil von Anhängern eines harten Brexit, die derzeit von Labour oder den Tories gehalten werden) und von den Liberaldemokraten (in Wahlkreisen mit hohem Anteil von Brexit-Gegnern oder Befürwortern eines sanften Brexit). Somit ist das von May als Menetekel beschworene Szenario einer Koalitionsregierung der jetzigen Oppositionsparteien heute zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht ausgeschlossen.

Die Labour Party trifft die Ansetzung der Neuwahlen allerdings in einem ungünstigen Zeitpunkt. Obwohl der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn schon unmittelbar nach Mays Kür zur Premierministerin auf vorgezogene Neuwahlen orientiert hatte, müssen jetzt aus dem Stand heraus ein Wahlprogramm präsentiert und BewerberInnen für frei werdende Kandidaturen gefunden werden. Der vor wenigen Wochen gestartete breite Diskussionsprozess zur Erneuerung der Programmatik wird durch den Wahlkampf abrupt unterbrochen.

Da bei dieser vorgezogenen Wahl noch nicht das neue Wahlgesetz zur Geltung kommt, die Wahlkreise also nicht neu zugeschnitten werden und die Abgeordnetenzahl nicht verringert wird, können auch alle jetzigen Mitglieder der Labour-Parlamentsfraktion, sofern sie es wünschen, wieder kandidieren. Sowohl für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten als auch für den Erneuerungsprozess der Labour Party ist es nicht nur von Bedeutung, wie viele Mandate Labour erringt, sondern auch, wie sich die neue Fraktion politisch zusammensetzt. Die Wahlen sind eine erste Bewährungsprobe für die Mobilisierungskraft der 300.000 Neumitglieder der mit einer halben Million Mitglieder größten sozialdemokratischen Partei und für die 30.000 Mitglieder der dem Team Corbyn nahestehenden Aktivistenbewegung Momentum.

Das Bündel komplexer ökonomischer, sozialer und politischer Probleme bleibt im Vereinigten Königreich für die nächste Legislaturperiode überdimensional groß: Der EU-Austrittsvertrag, das neue Handelsabkommen mit der EU inklusive einer Übergangsregelung, die Personenfreizügigkeit von BritInnen und EU-BürgerInnen, die Entwicklung der Migration, die soziale und regionale Spaltung des Landes, die anhaltende Austerität mit desaströsen Auswirkungen im Bildungs- und Gesundheitssystem, Deindustrialisierung und ausbleibender Kurswechsel in Richtung einer Investition- und Infrastrukturpolitik, Vergrößerung des Handels- und Zahlungsbilanzdefizits, anziehende Inflation und Verringerung der Kaufkraft, zusätzliche Belastung des Staatshaushalts durch die beschlossene Erneuerung des Atomwaffenarsenals, der Verfassungskonflikt in Nordirland, das erneute Unabhängigkeits-Referendum in Schottland, die nach wie vor starke Verankerung des Rechtspopulismus, bei dem sich die konservative Premierministerin ihre Anleihen sucht.

Der gordische Knoten kann mit der Wahl eines neuen Parlaments zeitlich etwas gelockert worden. Realistische Vorschläge zur Lösung des Knotens oder zu einer Periodisierung von Lösungsschritten hat keines der politischen Lager parat. Die Teil-Kommunalwahlen Anfang Mai werden einen ersten Fingerzeig geben, wie nach einem Jahr politischer Turbulenzen ab Juni das politische Kräfteparallelogramm in der neuen Legislaturperiode im Vereinigten Königreich aussehen wird: im Parlament, zwischen Regierung und Parlament und zwischen den einzelnen Landesteilen.

Der gordische Knoten besteht im Kern in dem Versuch, die Neugestaltung und Ausweitung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen bei gleichzeitiger Restriktion des nationalen Arbeitsmarkts und mit anhaltender Austerität zu bewerkstelligen. Die Gefahr, ihn durch weitere Appelle an das nationale Ressentiment zu zerschlagen und die auseinanderstiebenden Seilstücke mit weiteren populistischen Ausfallschritten einzufangen, ist nicht kleiner geworden.

Hinrich Kuhls, Düsseldorf, arbeitet in der Sozialistischen Studiengruppe (SOST) mit. In Sozialismus 4-2017 kommentierte er den bevorstehenden Start der Brexit Verhandlungen: Renationalisierung und Desintegration.

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