16. Februar 2018 Joachim Bischoff/Bernhard Müller

Die Radikalisierung der AfD – Wacht der Michel auf?

Foto: André Poggenburg (rufusmovie | Wikimedia Commons, CC BY 3.0)

Auf dem Politischen Aschermittwoch aller ostdeutschen AfD-Verbände (mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommerns) hat die AfD eine neue Stufe in ihrer Hass-Politik gezeigt.[1] Der Landesvorsitzende von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, hatte die Kritik der Türkischen Gemeinde an der geplanten Schaffung eines Heimatministeriums aufgegriffen.

Der Politiker sagte wörtlich: »Diese Kümmelhändler haben selbst einen Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern am Arsch... und die wollen uns irgendetwas über Geschichte und Heimat erzählen? Die spinnen wohl! Diese Kameltreiber sollen sich dahin scheren, wo sie hingehören.« Neben Poggenburg traten am Mittwochabend auch die AfD-Landeschefs aus Sachsen, Thüringen und Brandenburg, Jörg Urban, Björn Höcke und Andreas Kalbitz auf. Höcke beschwor einen Aufbruch, den seine Partei bei den Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern zu spüren bekomme. Er sprach vom »bürgerbewegten« Osten. Der »gute Geist von 1989 ist aus der Flasche ... Der Michel wacht jetzt auf.« Eine große Hilfe dabei sei das islam- und fremdenfeindliche Pegida-Bündnis, ohne das die AfD »nur halb so stark« wäre. Pegida »ist Teil unserer Bewegung«. »Ihr als Pegida seid der manchmal so notwendige Tritt in den Hintern der Partei«, sagte er in Richtung des Pegida-Chefs Lutz Bachmann.

Frauke Petry, längere Zeit das Gesicht der AfD, wirbt nach dem Austritt aus der Rechtspartei für ein neues politisches Projekt: die »blaue Wende«. Es gehe um ein konservatives Bürgerforum mit einer kleinen Partei im Hintergrund. Petry skizziert ihre neue Bewegung als konservativ und distanziert sich energisch von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Das Projekt der »Blauen« stößt so wenig auf politisch-gesellschaftliche Resonanz wie die erste Abspaltung in der AfD von Bernd Lucke, Hans-Olaf Henkel u.a., die sich als Liberalkonservative definierten und den Kurs der damalige AfD-Mehrheit in Richtung nationalkonservativer Ausrichtung nicht mittragen wollten.

AfD-Gründer Lucke war ein vom Euro enttäuschter Wirtschaftsliberaler. Entstanden war die AfD 2013 als sogenannte Professorenpartei, die vor allem den Euro-Kurs der damaligen Bundesregierung kritisierte. Mitte 2015 wurde auf dem Essener Parteitag Bernd Lucke durch den rechten Flügel um Höcke und Gauland isoliert und Petry und Meuthen an die Spitze gewählt. Schon damals hat die eigentliche Führungsfigur der modernen Rechten, Alexander Gauland, die rechte Protestbewegung Pegida als natürliche Verbündete der AfD bezeichnet und systematisch mit dem völkisch-rechtsradikalen Björn Höcke kooperiert. Die Partei hat dann im Rhythmus ihrer Parteitage eine Rechts-Radikalisierung vorgenommen: zuerst mit dem Sturz von Bernd Lucke Mitte 2015 durch Petry und den rechtsradikalen Flügel.

Die AfD hat unbeschadet der Absplitterungen und der massiven parteiinternen Turbulenzen bei den Bundestagswahlen einen Erfolg errungen. Die Durchsetzung rechtspopulistischer, rechtsradikaler oder rechtsextremer Bewegungsparteien, wie sie in der Mehrzahl der kapitalistischen Länder erfolgt ist, ist auch in Deutschland nach einer Kette von Landtagswahlen mit dem Einzug der AfD in das nationale Parlament auf einem Höhepunkt angelangt. Trotz des anhaltenden Drangs zu weiteren Radikalisierungen kann diese Rechtspartei ihren gesellschaftlichen Rückhalt ausbauen.



Die Radikalisierung der AfD nach rechts schreitet ungebrochen voran. So demonstrierten ostdeutsche Landesverbände auf einer Aschermittwochsveranstaltung unter dem Motto: gegen »Volksverräter«, »linke Spackos« und »Kameltreiber« ihre Radikalität – und ihre Einigkeit mit Pegida. Gut tausend AnhängerInnen folgten der Einladung zum Politischen Aschermittwoch aller ostdeutschen AfD-Verbände (mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommerns) – und Björn Höcke war der Star. Das Niveau unterbot an diesem Abend, auch sprachlich, zuverlässig Sachsen-Anhalts AfD-Chef André Poggenburg, der in fünf Minuten sein Soll erfüllte, indem er nicht nur fast alle Politiker querbeet beleidigte, sondern auch die Deutsch-Türken rassistisch herabwürdigte.

Selten in der Geschichte des modernen Rechtspopulismus verwandelte sich in den letzten Jahrzehnten in Europa eine Rechtspartei so erfolgreich und so radikal von der Spitze aus in eine rassistisch-völkische Rechtspartei. Heute richtet sich die Partei mit ihrer Flüchtlings- und Islamfeindlichkeit gegen Gleichheits- und Gleichwertigkeitsvorstellungen und tritt – wie die extreme Rechte – für die Ideen des Ethnopluralismus, also die »Reinhaltung« von Staaten und Gesellschaften nach »Ethnien« als völkische Nation ein. Sie »kämpft« für eine Republik, die sich weit weg von den Standards rechtsstaatlich freiheitlicher Demokratie befindet. Sie ist in Ideologie und Handeln der Spitze und der strikt islamfeindlichen Mehrheit des Programm-Parteitags eine rechtsradikale Partei geworden.

Allerdings: Auch nach zwei beträchtlichen Absplitterungsprozessen ist die Partei noch immer ein »gäriger Haufen«: Die ideologischen und organisatorischen Auseinandersetzungen dominieren in etlichen Landesverbänden – es geht dabei auch um den Zugriff auf Parlamentsdiäten. Die AfD betont gegenwärtig in ihrer politischen Strategie weiterhin die »bürgerliche Normalität«, gleichwohl ist sie – wie der letzte Parteitag in Hannover gezeigt hat – in ihrer politischen Substanz eine völkisch-nationalistische Partei, die den öffentlichen Diskurs radikal verändern will. Die AfD ist zu einer völkisch-nationalistischen Rechtspartei mutiert. Mit ebenso radikalen oder radikalisierten Anhängern.

Seit den Bundestagswahlen im Herbst 2017 hat sich in Deutschland eine Partei der modernen Rechten in der politischen Arena festgesetzt. Die AfD will eine andere Republik. Sie greift zentrale Positionen des Grundgesetzes, wie das der Religionsfreiheit, an, und verfolgt eine Politik ethnischer Reinheit und der Aburteilung und Abwertung von Flüchtlingen, Migranten, Muslimen und Deutsch-Türken. Ihre Sprache ist gewaltförmig.

Dem Aufstieg des Rechtspopulismus voraus ging die Krise der Volksparteien. In den 1970er Jahren entfielen zusammen mehr als 90% der gültigen Stimmen auf CDU/CSU und SPD. Bei der Bundestagswahl 2017 waren es noch 53,5%, die die Volksparteien auf sich vereinten. Berücksichtigt man zudem den Rückgang der Wahlbeteiligung, dann wird deutlich, dass sich der Stimmenanteil der Volksparteien in diesem Zeitraum halbiert hat. Beide großen Parteien in Deutschland – CDU/CSU und SPD – sind dabei, ihren Status als Volkspartei zu verlieren.

Die europäische Sozialdemokratie wie die bürgerlich-liberalen Kräfte haben vor dem Hintergrund einer sich mehr und mehr abzeichnenden Überakkumulationskrise mit einer Politik der Prekarisierung und sozialen Exklusion eine Veränderung der Klassenverhältnisse befördert, die sich als Sprengsatz in ihrer Mitglieder- und Wählerbasis erwiesen hat. Die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts bringen eine epochale Transformation der kapitalistischen Produktionsweise zum Ausdruck.

Der Niedergang der einstigen Volksparteien ist mit den Bundestagswahlen im September 2017 noch nicht zu Ende, wie die Umfragen signalisieren: Die Unionsparteien fallen unter die 30%-Marke, die SPD bewegt sich um die 17% und die AfD kann einige Prozentpunkte gegenüber dem Wahlergebnis vom September zulegen.

Neben der verloren gegangenen Stabilität der »Volksparteien« hat sich auch der charakteristische Cordon sanitaire gegenüber der politischen Rechten aufgelöst. Bislang hatte in Deutschland die Kombination aus einer ökonomisch günstigen Lage, der hohen Hürde der 5%-Klausel und auch der Erinnerungskultur an die NS-Vergangenheit – also ökonomische, politikstrukturelle und politisch-kulturelle Faktoren – dazu beigetragen, den Konsens der Demokraten zu verteidigen, eine weithin rechtsradikale Partei nicht in den Bundestag wählen zu wollen.

Diese tiefgreifenden Veränderungen des überlieferten Parteiensystems sehen wir in nahezu allen Gesellschaften des demokratischen Kapitalismus. Es handelt sich nicht um Oberflächenphänomene, sondern um tektonische Verwerfungen in der Statik der Gesellschaften. Die Kluft, die seit Längerem zwischen dem Establishment, den politischen Eliten und Teilen der Bevölkerung aufgerissen ist, wird immer breiter.

Die wachsende soziale Polarisierung, das Gefühl, dass harte Anstrengung nicht mehr angemessen honoriert wird und die Zukunftsperspektiven der Kinder verbaut sind, und der Eindruck, dass die politische Klasse sich darum nicht kümmert, sind wesentliche Faktoren für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Gesellschaftliche Basis für den Rechtspopulismus ist ein historisch-spezifisches Ressentiment, d.h. den Einstellungen und Handlungen liegt das Gefühl chronischer Ohnmacht gegenüber erlittener Benachteiligung zugrunde. Die neoliberale Politik hat einerseits eine Aufwertung der Subjektivität in der gesellschaftlichen Wertschöpfung gefördert und gefordert; andererseits sind weder die Leistungsansprüche noch Selbstwert befriedigt worden.

Mehr noch: Technologischer Wandel, Globalisierung, sowie die Schwächung von Arbeitnehmerrechten haben in den letzten Jahrzehnten mit all ihren zerstörerischen Folgen – Selbstentmachtung der Nationalstaaten durch den Verzicht auf die staatliche Regulierung der globalisierten Finanzmärkte – die Basis für die Entstehung und Verbreitung sozialer Ungleichheit geschaffen , die sich in ein antistaatliches, gegen das Establishment gerichtetes Ressentiment umsetzt.

Das Ressentiment ist kein spontaner Reflex auf ein erlittenes Unrecht. Das Gefühl der Kränkung ermöglicht die Ausprägung und das Bedienen ethnozentrisch-fremdenfeindlicher, nationalistischer oder antisemitischer Ideologieelemente und politisch-psychologischer Bedürfnisse. Die rechtsnationale Mobilisierung gründet in der unzureichenden Partizipation an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung; sie ist auch ein Backlash gegen die Veränderungen des kulturellen Kapitals und gegen die Machtlosigkeit der Staatsapparate. Die Ursachen dieses kulturellen Wandels liegen in der gesellschaftlichen und ökonomischen Modernisierung: Bildungsexpansion, Tertiarisierung und die zunehmende Gleichstellung der Frau in Bildung und Arbeitsmarkt – zusammengefasst wird dies von der AfD in dem Bild vom »Wir wollen weg vom links-rot-grün-versifften 68er-Deutschland ... hin zu einem friedlichen, wehrhaften Nationalstaat.« Die Entfesselung des Ressentiments erstreckt sich über bewusst miteinander verknüpfte Themen wie Einwanderung, Kriminalität, Globalisierung, innere Sicherheit und nationale Identität.

Die etablierten Parteien haben bis heute keine überzeugende Antwort darauf, wie die sozial-kulturellen Spaltungstendenzen in den heutigen modernen kapitalistischen Gesellschaften bekämpft werden können. Das monatelange Koalitionsbildungstheater der Parteien zeigt deutlich, dass immer noch die Sonntagsreden gegen den Rechtspopulismus und Rechtsextremismus dominieren.

Aktuelle Studien[2] belegen, dass obwohl ein Jahrzehnt zuvor die wirtschaftliche Lage deutlich schlechter war und wir uns heute in einer wirtschaftlich prosperierenden Zeit befinden, die Sicht eines Großteils der Bevölkerung auf ihre jeweils persönliche Lebenswelt und deren gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine negativere geworden ist. Gefühle von Ohnmacht, Frustration und Enttäuschung haben insgesamt zugenommen. Knapp 60% der wahlberechtigten Bevölkerung sind von der Politik verunsichert oder enttäuscht.



Wie die Menschen den Strukturwandel erfahren und mit welchen Strategien der Umstellung sie ihn zu bewältigen suchen, ist nach Lage, Geschichte und gesellschaftspolitischen Orientierungen sehr verschieden. Tatsächlich ist die Einflusszone der Rechtspopulisten immer noch begrenzt. Sie sind auf bestimmte Milieus beschränkt. Und sie konkurrieren in den unteren sowie mittleren Schichten mit Parteien, die dort lange wahlpolitisch verankert waren. Diese haben dort inzwischen so viel an Bindungskraft verloren, dass zwar nicht alle, aber doch (mit örtlich-regionalen Unterschieden) starke Minderheiten rechtspopulistisch gewählt haben. Und dieser Prozess ist noch nicht zu Ende und wird nur durch politische Antworten zu stoppen und umzukehren sein.

Die SympathisantInnen und WählerInnen rechtspopulistischer Parteien sind vielfach nicht von den Lösungsangeboten und der praktischen Energie ihrer neuen Akteure überzeugt. Sie hoffen auch auf die Änderung der Positionen etablierter Parteien. Da die Parteien der Mitte, aus Angst vor dem weiteren Aufschwung des Rechtspopulismus, in zentralen Punkten – Flüchtlings- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Distanz zu »Multikulti« – einlenkten, bestätigten und verfestigten sie die politischen Angebote der rechtspopulistischen Parteien.


[1] Eine ausführliche Analyse zur AfD und den gesellschaftlichen Hintergründen ihres Erfolgs erscheint in Sozialismus 3/2018.
[2] Rita Müller-Hilmer, Jérémie Gagné: Was verbindet, was trennt die Deutschen? (pdf) Forschungsförderungs-Report der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 2, Februar 2018; Dieter Sauer/Ursula Stöger/Joachim Bischoff/Richard Detje/Bernhard Müller, Rechtspopulismus und Gewerkschaften. Eine arbeitsweltliche Spurensuche, Hamburg 2018 (im Erscheinen).

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