16. Februar 2010 Richard Detje

Durch Arbeitslosigkeit in die Deflation?

Auf den ersten Blick schien es eine jener Meldungen zu sein, die man von der Bundesregierung mittlerweile gewohnt ist. Ob im internen Streit, in der politischen Kommentierung oder in der realen Entwicklung: Sie kommt gegenwärtig aus den negativen Schlagzeilen nicht heraus.

Was die schwarz-gelbe Keilerei betrifft, kann man Heiner Geissler nur zustimmen: Es muss schon ein "Esel" sein, der die massiven Strukturveränderungen in der Arbeitsmarktpolitik der letzten zehn Jahre in Richtung eines autoritären Kapitalismus als sozialistische Beglückungspolitik deutet.

In der Kommentierung des Hartz-IV-Gutachtens des Bundesverfassungsgerichts wird gleich der nächste Verfassungsbruch angekündigt: Statt die Leistungen "auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen" (Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, FAZ vom 14.2.), werden bereits Leistungskürzungen beim Regelsatz zur Kompensation von Härtefall-Neuregelungen angekündigt. Und hinsichtlich der Arbeitsmarkt-Perspektiven im laufenden Jahr meint Ursula von der Leyen: "Es werden schwere Monate auf uns zukommen, in denen wir an die vier Millionen herankommen werden." (BamS, 14.2.)

Wie soll das gedeutet werden? Masochismus und Verzagtheit jener, die erst vor knapp vier Monaten – wie weiland Daimler und Chrysler – eine Hochzeit im Himmel gestiftet hatten?

Weit gefehlt. Was als Negativmeldungen erscheint, sind Ausbruchversuche aus einer miserablen Wirklichkeit. Die Erkenntnis der FDP aus ihrem demoskopischen Absturz lautet: Klientelpolitik im Mäntelchen gesellschaftlicher Wohlstandsversprechungen klappt nicht mehr. Deshalb wird die Bereicherung der Wenigen auch dann eingefordert, wenn der Rest der Gesellschaft in Konkurs geht.

Schwieriger ist es in der CDU/CSU, wo der Ausgleich unterschiedlicher sozialer Interessen bewerkstelligt werden muss. Da spielt die frühere Familien- und jetzige Arbeitsministerin eine Schlüsselrolle. Ihre Strategie ist eine Mischung aus klandestiner Missachtung des Bundesverfassungsrechts und realitätstüchtig erscheinendem Optimismus.

Ersteres heißt wohl: Von der Leyen bereitet sich auf wenige Härtefallregelungen vor (ihr hahnebüchendstes Beispiel: Der Rollstuhlfahrer, der das Treppenhaus nicht putzen kann, soll eine Zuzahlung für eine Putzhilfe bekommen), um eine Anhebung des Regelsatzes zu verhindern. In der politischen Taktik erweist sie sich damit ihrem Kabinettskollegen Thomas de Maizière haushoch überlegen, der das Verfassungsgericht wegen "übertriebener Einzelfallbetrachtung" gescholten hatte. Von der Leyen instrumentalisiert Einzelfälle als Mauer gegen die generelle Existenzsicherung von Langzeitarbeitslosen.

Zweitens: Was in der medialen Öffentlichkeit als Negativschlagzeile – knapp vier Millionen Arbeitslose – verbucht wird, ist der reinste Euphemismus. Im Januar zählte die Bundesagentur für Arbeit gut 3,6 Mio. Arbeitslose. Im Februar könnten es – witterungsbedingt – vielleicht schon an die 4 Mio. sein. Von der Leyens Kalkül ist: Das Abschmelzen der saisonalen Arbeitslosigkeit bis zu den Landtagswahlen in NRW ließe sich dann als Erfolg christdemokratischer Arbeitsmarktpolitik verkaufen.

Ob das Kalkül aufgeht, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass von der Leyen bewusst mit falschen beschäftigungspolitischen Folgen der Krise operiert. Im Jahresdurchschnitt 2010 geht sie von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf nicht mehr als 3,7 Mio. aus – 2009 waren es 3,4 Mio. Um dies zu erreichen, wäre im laufenden Jahr ein Wirtschaftswachstum von über 2,5% erforderlich. Dies unterstellt – so die letzte Projektion des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) -, müsse man mit mehr als 3,8 Mio. offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen rechnen. Doch spätestens seit der Stagnation des Bruttonlandsprodukts im letzten Quartal 2009 ist das auch für den letzten Optimisten völlig illusorisch. Was von der Leyen als Jahreshöchststand erwartet, ist für das IAB der Jahresdurchschnitt: 4,1 Millionen Arbeitslose 2010. Für den Höchststand bedeutet das: nicht unter 4,5 Mio.

Doch das ist nur die eine Hälfte der Wahrheit. Wer nicht mehr von der BA, sondern von privaten Vermittlern betreut wird, taucht auch nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik auf (§ 46 SGB III) – ebenso wenig wie ältere Arbeitslose im SGB II, denen binnen Jahresfrist keine sozialversicherungspflichtige Stelle angeboten werden konnte (§ 53a SGB II). Beide Gruppen werden von der BA im Rahmen der so genannten Stillen Reserve in Maßnahmen ausgewiesen, die für 2010 auf rund 600.000 geschätzt wird. In gleicher Größenordnung dürfte sich die Zahl jener belaufen, sie sich – ebenfalls als stille Reserve – nicht mehr als registrierte Arbeitslose melden.

Damit käme man in diesem Jahr auf reale Spitzenwerte von über fünfeinhalb Millionen Arbeitslose. Wären die Instrumente Kurzarbeit und Abbau von Zeitguthaben nicht gewesen, gäbe es heute weitere 1,2 Millionen Arbeitsplätze nicht mehr.

In diesen Zahlen stecken soziale Not und jahrelanges politisches Unvermögen. Und in ihnen steckt das Potenzial einer nachhaltigen Deflation in Folge steigender Arbeitslosigkeit, nicht existenzsichernder Lohnersatzleistungen und sinkender Nettoreallöhne – zumal, wenn Gewerkschaften unter dem Druck der Krise nicht mehr mit kaufkraftsteigernden Lohnforderungen in Tarifrunden gehen, oder nicht in der Lage sind, diese durchzusetzen.

Die Schweinegrippe war ein Konjunkturprogramm für Teile der Pharmaindustrie. Deflation könnte zu einer realen Pandemie werden.

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