21. Juni 2011 Redaktion Sozialismus: Habermas’ Vorschlag trägt nicht

Ein Europa der StaatsbürgerInnen?

Das europäische Projekt steckt in einer tiefen Krise. Offensichtlich hat sich das ursprüngliche Motiv der Entwicklung einer Europäischen Union erschöpft, Kriege in Europa unmöglich zu machen. Die ökonomischen und fiskalischen Verwerfungen sind heute in der EWU das dynamische Element – wir haben sie auf diesen Seiten ausführlich kommentiert.

In der europäischen Banken-, Finanzmarkt- und Verschuldungskrise zeigt sich das Scheitern einer Integrationspolitik, in der die Anstachelung der Konkurrenz mittelfristig zu einer ausgleichenden Kapitalverteilung auf die verschiedenen sektoralen und nationalen Anlagesphären und damit – gleichsam als Abfallprodukt – auch zu einer generellen Hebung des Wohlstands in Europa führen sollte.

Das EU-Binnenmarktprojekt ebenso wie die Lissabon-Strategie waren Versuche, ein revitalisiertes Europa zu einem überlegenen Standort in der globalen Konkurrenz der kapitalistischen Metropolregionen auszubauen. Seit den 1990er Jahren erfolgt dies verstärkt unter der Hegemonie des Finanzkapitals, was in der beschleunigten monetären Integration seinen Ausdruck fand. Die gemeinsame Währung sollte nicht mehr »Krönung«, sondern nunmehr Motor weiterer realwirtschaftlicher Integration sein. Das Ergebnis ist eine tiefe soziale Spaltung des Kontinents.

Durch politische Vergemeinschaftung das nationalstaatliche Konfliktpotenzial zu minimieren und einen barbarischen, antizivilisatorischen Entwicklungsgang in Europa für immer auszuschließen, war nach dem Zweiten Weltkrieg das erklärte Ziel. Was sich seit längerem unter der Hegemonie des Neoliberalismus aufbaute, ist in Folge der Großen Krise seit 2008 offenbar: Auch das politische Projekt Europa steckt in der Krise – Staatsbankrotte und Abspaltungen nicht ausgeschlossen.

Die wiederholten Fehlsteuerungen in den verschiedenen Integrationskrisen der Europäischen Union hat Jürgen Habermas früh als Folgen eines Eliteprojekts gedeutet. »Die Politische Union ist über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg als ein Eliteprojekt zustande gekommen und funktioniert heute mit jenen demokratischen Defiziten, die sich aus dem wesentlich intergouvernementalen und bürokratischen Charakter der Gesetzgebung ergeben« (in: Ach, Europa, Frankfurt a.M. 2008, S. 98).

Dass die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Eliten keineswegs in eine Richtung arbeiten, sondern – grob gesprochen – in »Integrationisten« und »Euroskeptiker« gespalten sind, führte immer wieder zur Lähmung der europäischen Integration. Habermas sieht seine Rolle darin, auf die Vertiefung der Integration zu drängen. »Die Nationalstaaten könnten ... verlorengegangene Gestaltungskompetenz als Mitglieder einer Europäischen Union nur zurückgewinnen, wenn diese sich zu einer Harmonisierung der Steuer- und Wirtschaftspolitiken, zu einer Angleichung der sozialpolitischen Regime und zu einer gewissen Einbindung der Europäischen Zentralbank entschließen« (ebenda, S. 103). Herstellung des Primats der Politik also gegenüber der Logik kapitalistischer Konkurrenz.

Diese Rolle fällt zunehmend schwer. Nicht nur, weil populistische Euroskepsis von rechts grassiert. Gepaart mit einer exkludierenden, ausländerfeindlichen Sozialpolitik erobert diese zunehmend Teile des bürgerlichen Lagers. Auch im Bürgerblock nimmt der Widerspruch zu. Dieser bündelt sich nicht nur im Begriff der Transferunion: Warum den Konsum anderer Länder finanzieren, wenn man auch zu Hause unter der Knute eines Austeritätsregimes knapsen muss?

Hinzu kommt eine Neuaufwertung des Nationalstaates, nicht mit nationalistischem Unterton, sondern in vermeintlicher Sorge um die demokratische Zukunft. Was bei Joschka Fischer den Duktus der pragmatischen Abgeklärtheit hat – Fortschritt in Europa ist nur durch intergouvernementale Verabredungen möglich –, kommt bei Enzensberger (Robert Menasse zitierend) als grundsätzlicher Gedanke daher, »dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhundert zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja, sie behindert« (in: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas, Berlin 2011, S. 51).

In beiden Fällen Absetzbewegung von einer Politik, die in Europa auf eine umfassendere demokratische Steuerung der sozialen Verhältnisse setzen würde. Realpolitisch ausgedrückt: Festschreibung des »Demokratiedefizits« der europäischen Konstruktion und damit Absage an Wirtschaftssteuerung jenseits nationaler Interessen; Reaktivierung der Gefahr des Rückfalls in eine nicht-zivilisatorische, nationalistische Entwicklungsvariante.

Habermas versucht dagegen zu halten und die sich von einem demokratischen Europa absetzenden Teile des Bürgertums wieder einzufangen. Sein Angebot: »Souveränitätsteilung« (in: Handelsblatt vom 17.6.2011, S. 12). Die Nationalstaaten behalten als EU-Mitgliedstaaten das Gewaltmonopol, ordnen sich aber europäischem Recht unter. Dieses bedarf nicht nur der Legitimation durch verabredete Verfahren; es bedarf darüber hinaus eines Formwandels staatsbürgerlicher zu europäischer Solidarität. Nicht populistische Denunziation von Solidarität als räuberischer Transferunion-Mechanismus, sondern gemeinsame Problemlösung und Zukunftsgestaltung.

Habermas vertraut hier auf einen Lernprozess: »Je mehr den nationalen Bevölkerungen zu Bewusstsein kommt und von den Medien zu Bewusstsein gebracht wird, wie tief die Entscheidungen der EU in ihren Alltag eingreifen, umso mehr wird ihr Interesse zunehmen, auch als Unionsbürger von ihren demokratischen Rechten Gebrauch zu machen.«

Gerade wenn Jürgen Habermas auf die Doppelstruktur des Citoyen als Staats- und als europäischen Unionsbürger abhebt, dürfte die Unterscheidung von Citoyen und Bourgeois und damit die soziale Klassenexistenz nicht verschütt gehen. Damit wären wir bei den sozialen Spaltungsprozessen, die Habermas benennt, aber selbst nicht weiter analysiert, und bei den ökonomischen Gegensätzen, von denen er sagt, dass sie sein Thema nicht seien. Damit schneidet er den Kern der Krise aus seiner Betrachtung heraus.

Mit der jüngsten Verabredung der politischen Eliten sieht Habermas eine »Schwelle überschritten«. Der am 25. März dieses Jahres von den Regierungschefs der EU verabschiedete Euro-Plus-Pakt bedeutet einen Transferschub zuvor in nationaler Verantwortung getroffener Entscheidungen in EU-Vorgaben, sollen doch künftig EU-Institutionen über nationale Verteilungspolitik (Lohnkosten), Sozialstandards (Rentenalter) und parlamentarische Prozesse befinden. Selbst der urdemokratische Grundsatz »no taxation without representation« wird mit EU-Vorgaben zur Steuerpolitik hinfällig.

Habermas’ Plädoyer: Wenn derart weitgehende Eingriffe Praxis werden, dann müssen sie der Legitimation durch demokratische Willensbildung unterworfen werden und dem Ziel der »Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse« folgen. Es gilt Mehrheiten zustande zu bringen, um Europa aus dem destruktiven Prozess einer wirtschafts-, sozial- und staatspolitisch krisenverschärfenden »Rettungspolitik« der herrschenden Eliten herauszulösen.

Doch um das zu erreichen, ist Habermas’ »Europa der Staatsbürger« ein zu enger Zugriff. Gegen die rechtspopulistischen Angriffe bedarf es eines politischen Programms, das die »Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse« manifestartig umreißt. Ein Manifest, das die Debatten in den progressiven Teilen der europäischen Zivilgesellschaften zusammenbringt und die Spannungen zwischen den »WutbürgerInnen« und den Europa-SkeptikerInnen auch auf der Linken in einen Diskussionsprozess bringt. Und insbesondere ein Manifest, das die ökonomischen und politischen Interessen der herrschenden Eliten benennt, um tatsächlich aufklärend wirken zu können.

Jene Interessen, die sich heute höchst effizient einer politischen Rhetorik bedienen, die die Zukunft Europas beschwören, obgleich sie nur die Verwertungsinteressen der eigenen Kapitalanlage im Auge haben. Und damit jene Interessen, die die Forderung nach einem European Recovery Programme immer wieder von der politischen Tagesordnung absetzen. Und schließlich und zentral jene Interessen, die die Debatte um die Ursachen der Großen Krise zu verhindern trachten – die Investmentbanken, Versicherungen, großen Vermögensverwalter, die Ratingagenturen sowie die im Sinne des Shareholder Value gesteuerten Unternehmen.

Europäische Willensbildung, Transparenz, Öffentlichkeit ist nur herstellbar, wenn ökonomische und politische Interessen dechiffriert und bezeichnet werden.

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