8. Februar 2015 Joachim Bischoff: Poker um Griechenland

»Ein Land, das dringend Reformen braucht«

Der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ist kein Populist, der mit oberflächlichen Rezepten die europäische Öffentlichkeit beeindrucken will. Auch zum Erstaunen vieler links gesinnter Zeitgenossen plädiert er für einen weitergehenden, radikaleren Strukturwandel.

Die griechische Regierung will keineswegs wichtige Strukturreformen zurückdrehen – »im Gegenteil, wir wollen sie sogar vertiefen… Wir Griechen haben doch selbst die Nase voll davon, in einem Land zu leben, dass so dringend Reformen braucht und sie nicht hinbekommt.« Das in den vergangenen fünf Jahren gelaufene Programm habe allerdings viele Probleme Griechenlands gar nicht berücksichtigt.

Die Regierung ist mit dem überzeugenden Wählervotum ausgestattet, das Land aus der Verstrickung in eine Schuldenökonomie hinauszuführen. Was auch viele Linke hierzulande nicht beachten: Es geht nicht zu allererst um einen partiellen Schuldnerlass und die Fortführung einer Praxis der Alimentierung durch internationale Finanzmarktakteure. Nein, die griechische Bevölkerung will aus der Bevormundung und Alimentierung heraus, d.h. eine Gesellschaft und damit eine Ökonomie etablieren, in der auf eigener Anstrengung gearbeitet, gewirtschaftet und würdevoll gelebt werden kann.

Dem britischen Fernsehsender BBC erklärte Finanzminister Varoufakis das Projekt der grundlegenden Erneuerung folgendermaßen: In der Tat braucht Griechenland eine Übergangsfinanzierung, aber man wolle keinen Strom weiterer Hilfsgelder. Falls ein Neustart durch die europäische Gemeinschaft ermöglicht werde, sei man auch fähig und willig die früheren »Hilfspakete« zurückzuzahlen.

Varoufakis bedient sich eines Bildes: »Stellen Sie sich einmal vor, eine Freundin kommt zu Ihnen und sagt, sie hat Schwierigkeiten, ihre Hypothek abzuzahlen, weil sie ihre Arbeit verloren hat oder aus einem anderen Grund über ein geringeres Einkommen verfügt. Und dann präsentiert sie Ihnen eine Idee: Sie hätte da die Möglichkeit, eine Kreditkarte zu bekommen und könnte damit in den nächsten Monaten die Raten zahlen. Würden Sie ihr empfehlen, das so zu machen?« Und er fügt hinzu: »Ist das der richtige Umgang für etwas, dass in erster Linie ein Insolvenz-Problem ist? Das ist in Griechenland nun seit fünf Jahren das Problem.«

Wir reden also über das Problem, dass Griechenland in den letzten Jahren über die Kreditkarte des europäischen Finanzfonds und des internationalen Währungsfonds rund 240 Mrd. Euro Kredite erhalten hat, aber wegen einer unfähigen politischen Klasse und kontraproduktiven Sparauflagen seitens der Troika keinen Schritt aus der Schuldenwirtschaft herausgekommen ist.

Deutschlands Finanzminister, der neoliberale Hardliner in der europäischen Machtkonstellation, weist die in Varoufakis Argumentation enthaltene Kritik zurück. Finanzminister Wolfgang Schäuble führt die Front der Gläubiger an: Wirtschaftlich gehe es in Griechenland zwar ganz sachte bergauf, aber Arbeitslosigkeit und Schulden seien viel zu hoch. Er unterstütze zwar die Pläne der neuen griechischen Regierung, die Wohlhabenden in Griechenland stärker zu besteuern. Aber das Land müsse an der Politik der Sparauflagen festhalten bzw. zurückzukehren und wieder mit deren Kontrolleuren, der Troika, sprechen. Die Verträge über Griechenlands Hilfsprogramme seien beschlossen und nicht so leicht zu ändern.

Varoufakis wirbt hingegen für ein Überbrückungsprogramm bis Mai 2015, um dann endgültige Regeln festzulegen: »Wir wollen einen Pakt mit Europa schließen, mit dem wir uns ein für allemal einigen, damit die Schlagzeilen nicht immer von Griechenland bestimmt werden.« Seine Regierung werde einen Vorschlag für einen gangbaren Plan vorschlagen. Europa habe einen großen Fehler gemacht, als es das insolvente Griechenland wie ein Land behandelt habe, das nur zwischendurch nicht flüssig sei.

Es gibt zu Recht in Teilen der Linken viel Sympathie für das Agieren der Syriza-Regierung unter Alexis Tsipras; andere, denen das alles nicht revolutionär genug bzw. wenig realistisch erscheint, wittern Verrat. Wir plädieren für eine nüchterne Analyse der Problemlage, auf deren Grundlage Solidarität entwickelt werden muss. Dazu drei Thesen:

These 1: Privatisierung stoppen, Investitionen in moderne Wertschöpfung

In Griechenland geht es zwar nicht weiter abwärts, der Schrumpfungsprozess der Ökonomie ist auf einer Talsohle angekommen, aber von einer Aufwärtsbewegung kann noch keine Rede sein. Bei einem Schrumpfungsprozess von ca. 25% sind die Bedingungen einer Reproduktion zu leidlich akzeptablen Bedingungen nicht gegeben. Nach wie vor krankt Griechenland an dem alten Problem: Die Wirtschaft ist nicht wirklich wettbewerbsfähig. Zwar sind die Preise für viele Produkte gegenüber dem Jahr 2010 gesunken. Dies wurde jedoch nicht durch Produktivitätssteigerungen und Produktinnovationen erreicht, sondern durch Entlassungen.

Folge ist eine höhere Produktivität der am Markt verbliebenen Unternehmen, die jedoch durch die resultierende Arbeitslosigkeit konterkariert wird. Noch immer sind die griechischen Produktionskosen um ca. 10% zu hoch, um international wettbewerbsfähig zu sein. Griechenland ist trotz aller Sparauflagen und Reformen so schwach wie 2010, dem Jahr, in dem das erste Rettungspaket geschnürt wurde. Das Land ist heute genauso wenig in der Lage, seine Schulden zurückzuzahlen, wie damals.

Zwar konnte Griechenland sein problematisches Leistungsbilanzdefizit abbauen und 2013 sogar einen Leistungsbilanzüberschuss erzielen. Diese Entwicklung ist jedoch nicht auf gestiegene Exporte zurückzuführen, wie es bei einer verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Fall wäre. Der Leistungsbilanzüberschuss ist in erster Linie auf gesunkene Importe zurückzuführen. Es ist zu befürchten, dass die Importe zunehmen, wenn das Land wieder Zugang zum Kapitalmarkt hat. Die Leistungsbilanz würde dann erneut ein deutliches Defizit aufweisen.

Ähnlich sieht das das nicht unbedingt linker Sympathie verdächtige Kieler Institut für Weltwirtschaft:[1] »Die griechische Wirtschaft ist europaweit und international nicht konkurrenzfähig.« Aktuell sei die Industrie im Land auf rohstoff- und arbeitsintensive Produkte ausgerichtet und stehe damit im Preiswettbewerb mit Schwellen- und Entwicklungsländern. Nötig für nachhaltiges Wirtschaftswachstum seien eine deutlich höhere Wertschöpfung in der Produktion und eine wettbewerbsfähige Exportwirtschaft. Griechenland müsse den Anschluss an die hochentwickelten Industrieländer schaffen, um an der internationalen Wertschöpfungskette teilzuhaben. Bei Hightech-Produkten herrsche weitgehend Fehlanzeige. Zwar seien in den letzten Jahren spürbar mehr Touristen in das Land gereist und haben so für Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor gesorgt. Doch gerade hier sind traditionell kaum höherwertige Qualifikationen erforderlich, die Bezahlung ist dementsprechend auf niedrigem Niveau. »Griechenland muss zu einem hochentwickelten Industrieland werden«, lautet deren Schlussfolgerung.

Zugleich ist zu konstatieren, dass das Land trotz Krediten, Sparpolitik und Privatisierung öffentlicher Infrastruktur verarmt. Die kapazitätssteigernden Investitionen in Griechenland sind seit 2011 negativ. Im ersten Halbjahr 2014 schrumpfte der Kapitalstock um weitere 12% des Bruttoinlandsprodukts. Das wirtschaftliche Potenzial des Landes schrumpft weiter.

Griechenland kann nur wieder auf die Beine kommen, wenn es seine teils hochqualifizierten Arbeitskräfte wieder in Beschäftigung setzen kann. Dazu gehört, dass die Privatisierungen gestoppt, öffentliche und private Investitionen gefördert werden und die Tendenz der Auswanderung der Bevölkerung abgebremst werden kann.

In dem Land gibt es heute eine Million weniger Erwerbstätige als 2008. Die Misere hat dazu geführt, dass Tausende GriechInnen in den letzten Jahren ihre Heimat verlassen haben, laut einem Bericht der EU-Kommission im Jahr 2013 insgesamt 52.000 Menschen. Im Gegenzug hat die Armut stark zugenommen. Jeder dritte Grieche ist armutsgefährdet, im Jahr 2012 gaben von den einkommensschwächsten Griechen (unterstes Quintil der Bevölkerung) 11% an, auf eine medizinische Behandlung verzichtet zu haben, 2008 betrug dieser Wert 7% (übrige EU in beiden Jahren 4,5%).

Griechenland muss ökonomisch wieder auf die Beine kommen. Nur wenn die Beschäftigung über moderne Wertschöpfung rekonstruiert wird – und ohne öffentliche Investitionen und Programme kann dies nicht gelingen –, kann die humanitäre Krise (Armut und Unterentwicklung) beendet werden.

These 2: Schuldenschnitt beseitigt die Probleme nicht

Ein Schuldenschnitt zielt auf den Bestand der bestehenden Staatsverschuldung. Ein solcher Schnitt könnte die zentrale Ursache der griechischen Misere, nämlich die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit und die Tendenz zur weiteren Schrumpfung, nicht beseitigen und würde das griechische Kernproblem des beschädigten und geschrumpften gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses nicht direkt tangieren. Im Zentrum muss die Wiederbelebung der Ökonomie stehen. Solange die griechische Wirtschaft nicht erholt und wettbewerbsfähig ist, benötigt das Land allerdings in der Tat eine Übergangsfinanzierung, um über öffentliche Investitionen und Schaffung von zusätzlicher Kaufkraft (Mindestlohn, Renten) den Arbeitsmarkt und die Binnenökonomie zu beleben. Die Wirkung des ersten Schuldenschnitts von 2012 ist verpufft, eine bloße Neuauflage hätte denselben Effekt.

These 3: Solidarität muss dazu beitragen, eine Brückenlösung zu erreichen

Auch die neue griechische Regierung benötigt Überbrückungskredite, die die bisherigen Hilfspakete der Troika aus EU, EZB und IWF ersetzen und Zeit verschaffen, denn das aktuelle Hilfsprogramm läuft nur noch bis Ende Februar. Eine bloße Verlängerung des alten mitsamt der darin enthaltenen Spar- und Reformauflagen lehnt die neue Regierung ab. Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselblom setzte gleichwohl eine Frist bis 16. Februar, sich den Sparvorgaben der Geldgeber zu unterwerfen.

Die Überlegungen der neuen Regierung zu einer Übergangslösung beziehen sich einerseits auf die noch ausstehenden Zahlungen – konkret auf die 1,9 Mrd. Euro, die die Zentralbanken der Eurozone mit dem Handel griechischer Staatsanleihen eingenommen haben. Zum anderen soll Griechenland nach dem laufenden Hilfsprogramms der Troika noch 7,2 Milliarden Euro erhalten, wenn es sich an die Vorgaben hält. Allerdings will die Regierung, dass die Geldgeber auf die verlangten weiteren Sozialkürzungen verzichten. Außerdem will die Regierung das Zugeständnis der anderen Mitgliedsländer und der EZB erreichen, weitere Mini-Anleihen (so genannte T-Bills, Staatsanleihen mit kurzer Laufzei)t, ausgeben zu dürfen – bisher war Griechenland eine Obergrenze von 15 Mrd. Euro verordnet.

Diesem Wunsch nach Ausweitung der kurzlaufenden Anleihen für Kassenkredite wurde bislang nicht entsprochen. Der EZB-Rat hat außerdem beschlossen, griechische Staatsanleihen nicht länger als Sicherheiten für Kredite des Euro-Systems zu akzeptieren. Damit haben die Banken des Landes nur noch eingeschränkten Zugang zu EZB-Mitteln, da sie in der Regel nur begrenzt über andere Sicherheiten verfügen, die den Rating-Anforderungen der EZB genügen.

Die nationale Notenbank kann jedoch Notfallkredite vergeben, so genannte Emergency Liquidity Assistance (ELA). Allerdings hat der EZB-Rat in diesem Fall wiederum ein Veto-Recht. Und ein wichtiger Nachteil der ELA-Darlehen ist, dass die Konditionen deutlich schlechter sind als die der bisherigen Kredite. Ob die weitere Liquidität der griechischen Banken sichergestellt ist, liegt nur bedingt im Handlungsparameter der Regierung in Athen.

Wenn es nicht gelingt, ein »Brückenabkommen«, das die strengen Spar- und Liberalisierungsauflagen überwindet, zu vereinbaren, müsste die griechische Regierung im Februar noch rund 2 Mrd. Euro Zinszahlungen leisten und dem IWF im März 1,5 Mrd. Kredit zurückzahlen. Angesichts des deutlichen Unwillens der europäischen Mitgliedsländern, einem solchen Brückenabkommen zuzustimmen, sowie der anhaltenden Kapitalflucht aus den griechischen Banken, haben die internationalen Rating-Agenturen die Einstufung der Krediwürdigkeit des Krisenlandes weiter reduziert. Es bestehe »erhebliche Unsicherheit« über das mögliche Ergebnis der anhaltenden Verhandlungen zwischen Griechenland und seinen europäischen Partnern.

Die griechische Regierung weist dies zurück. Sie habe genug Geld, um die Staatsausgaben für die Dauer mehrmonatiger Verhandlungen mit den Euro-Partnern zu sichern, ein Liquiditätsproblem während der Gespräche werde es nicht geben, sagte Vize-Finanzminister Dimitris Mardas. »Das heißt nicht, dass es nicht danach zum Problem werden könnte.« Er gehe zwar nicht davon aus, dass die Verhandlungen bis Mai dauerten, »aber selbst in dem Fall würden wir das Geld auftreiben.«

Auch die Repräsenten der EU erhöhen den Druck, Dijsselbloem erteilte den griechischen Wünschen eine deutliche Absage: »Wir machen keine Überbrückungskredite.« Athen habe nur bis 16. Februar Zeit, die Einhaltung der Troika-Auflagen zuzusichern. Ansonsten wäre es wegen der fälligen Zustimmung mehrerer nationaler Parlamente äußerst schwierig, die mit Ende des Monats auslaufenden Hilfskredite zu verlängern.

Das Zeitfenster für einen Kompromiss ist eng. Aktuell kann sich das Land mit Hilfskrediten der Zentralbank über Wasser halten und es gibt noch Reserven im Haushalt und den Sozialkassen. Eine weitere Maßnahme bestünde darin, nach dem Muster Zyperns Kapitalverkehrskontrollen einzuführen, um den Kapitalabfluss ins Ausland zu stoppen. All dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere der deutschen aber auch anderen EU-Ländern Übergangslösungen abgerungen werden müssen. Die dramatische Situation und das deutliche Wählervotum vieler GriechInnen erfordern tragfähige Lösungen, die eine Perspektive eröffnen.

Ein »Ende mit Schrecken« wäre nicht nur für die Menschen in Griechenland, die sich auf den Weg gemacht haben, eine Alternative zu Austeritätspolitik und Demokratieabbau im autoritären Kapitalismus zu eröffnen (im Übrigen nicht nur für ihr Land!), eine weitere Katastrophe, sondern würde auch die Bemühungen, in Deutschland und in anderen Ländern Westeuropas in absehbaren Zeiträumen einen Politikwechsel zu erreichen, unterminieren.

Grund genug, durch Analyse und Aktionen den politischen Druck zu erhöhen, damit tragfähige Lösungen für Griechenland – als Minimallösung eine Fristverlängerung und ein Überbrückungsabkommen – zustande kommen.

[1] Klaus Schrader, David Benček and Claus-Friedrich Laaser; Greece: How to Take a Turn for the Better, Kiel Institute for the World Economy, Januar 2015

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