20. Dezember 2010 Joachim Bischoff: »Einigung« der EU?

Ende des europäischen Provisoriums

Die EU-Staats- und -Regierungschefs haben sich auf die Einführung eines dauerhaften Rettungsschirms für die Gemeinschaftswährung geeinigt. Bundeskanzlerin Merkel hat ihre zögerliche Haltung hinsichtlich einer koordinierten Wirtschaftspolitik aufgegeben: »Wir müssen nicht nur stabile Haushalte haben. Es ist genauso wichtig, dass wir auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik entwickeln; Schritt für Schritt, das ist ein langer Prozess«.

Die entscheidende Frage: Reicht die Beendigung des provisorischen Rettungsschirms, die Verbesserung der Kapitalausstattung der EZB und der Druck zur Sanierung der Haushalte aus, um genügend Zeit für die Entwicklung einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik zu schaffen?

Es wird eine Veränderung des Lissabon-Vertrages und eine Mithaftung der Privatwirtschaft geben. Der Vertrag soll um zwei Sätze ergänzt werden: »Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert werden kann, wenn dies für die Bewahrung der Stabilität der Euro-Zone als Ganzes unabdingbar ist. Die Bewilligung jedes finanziellen Beistands unter diesem Mechanismus wird unter strikte Bedingungen gestellt.«

Hinter dieser Formulierung verbirgt sich die Mithaftung der verschiedenen Finanzmarktakteure. Der künftige Mechanismus »European Stability Mechanism (ESM)« könnte Euro-Staaten in Schuldennöten unter strikten Auflagen mit Krediten unter die Arme greifen, wobei er ähnlich funktionieren würde wie die derzeitige, im Falle Irlands zum Einsatz kommende »European Financial Stability Facility« (EFSF). Der ESM soll Mitte 2013 die beiden europäischen Teile des derzeitigen provisorischen Euro-Rettungsschirms ablösen, darunter die EFSF. Das Volumen des ESM ist noch nicht festgelegt.

Neu definiert werden soll die Rolle der Gläubiger: Hat ein Mitgliedstaat nicht »nur« ein Liquiditäts-, sondern ein Solvenzproblem, kann er den ESM nur anzapfen, wenn er mit seinen privaten Gläubigern bereits einen Plan zur Umstrukturierung seiner Schulden aushandelt. Dies soll zusammen mit harten wirtschaftspolitischen Auflagen sicherstellen, dass die Nutzung des ESM möglichst vermieden wird.

Diese Beschlüsse sollen den aktuellen Druck seitens der Finanzmärkte mildern. Denn in 2010 haben die Märkte die politischen Akteure beständig vor sich hergetrieben. Aber auch jetzt sind die Bruchlinien in der Währungsunion unübersehbar: einerseits zwischen der EZB und den Euro-Staaten, die sich gegenseitig zu mehr Einsatz auffordern; daran ändert auch die zugleich beschlossene Kapitalaufstockung der Europäischen Zentralbank wenig. Anderseits zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten, unter denen sich eine Kluft abzeichnet zwischen finanzpolitisch stabileren Kernländern und den finanziell und wirtschaftlich angeschlagenen Ländern an der Peripherie, d.h. Irland, Griechenland, Portugal, Spanien.

Die EZB will aus dem Aufkauf von Staatsanleihen aussteigen. Aber bis zur Aufstockung des Rettungsschirms vergeht noch einige Zeit. Das Kreditpaket für Irland beansprucht nur etwa 10% der Kapazitäten des Schirms. Ein Programm zugunsten von Portugal, das derzeit als am ehesten gefährdet gilt, wäre noch problemlos zu finanzieren. Sollte die Krise indessen weit über Portugal hinausgreifen, stößt das ganze Modell an Grenzen: Es müssten immer weniger Staaten für Darlehen an immer mehr Kreditnehmer bürgen. Erkannt worden ist auch, dass es nicht um Liquiditätsprobleme geht, sondern dass die unterschiedlichen Wirtschaftspotenziale und die divergierende Verteilungspolitik der einzelnen Staaten für die verstärkte Ausprägung der Bruchlinien verantwortlich sind.

Die beteiligten Euro-Länder wollen weitere Währungskrisen vermeiden. Daher jetzt die einhellige Schlussfolgerung: Die Währungsunion erfordert eine politische Union und der französische Präsident Sarkozy will nach Abstimmung mit der deutschen Bundesregierung Vorschläge für eine Wirtschaftsregierung vorlegen.

Aber ob die Märkte der Politik die notwendige Zeit für diese Veränderungen einräumen werden, ist skeptisch zu beurteilen. Die Rating-Agentur Moody's hat die Kreditwürdigkeit Irlands drastisch herabgestuft. Obwohl die Europäische Union und der Internationale Währungsfonds (IMF) das Land mit einer Milliardensumme stützen, senkte Moody's die Bewertung des Landes gleich um fünf Stufen von Aa2 auf Baa1. Begründet wurde der Schritt mit den hohen, durch die Bankenrettung übernommenen Verbindlichkeiten.

Auch der IMF räumt ein, dass die Sanierung Irlands mit beträchtlichen Risiken verbunden ist. Sollte beispielsweise die Ökonomie Irlands in den nächsten Jahren stagnieren statt wie angenommen mit 2,25% wachsen, würde die Schuldenquote 2015 155% erreichen. Es sieht eher danach aus, dass Irland ein Solvenz-, statt nur ein Liquiditätsproblem hat.

Auch der Fall Griechenland stellt sich – genauer betrachtet – ähnlich dar. Als Griechenland im Frühjahr 2010 die Finanzhilfe in Anspruch nahm, geschah dies nicht, weil der Staat am nächsten Tag überhaupt keine liquiden Mittel mehr gehabt hätte. Auslöser war vielmehr, dass Griechenland eine Anleihe zurückzahlen und sie über den Markt hätte refinanzieren müssen – zu sehr teuren Konditionen. Wären die hohen Zinsen bei immer mehr neuen Anleihen fällig geworden, hätte das den finanziellen Spielraum des Landes extrem eingeschränkt. Bei einem durchschnittlichen Zins von 6,5% (über alle Laufzeiten) hätte Griechenland im Jahr 2012 immerhin 41% seiner Staatseinnahmen für Zinsen ausgeben müssen.

Dank des Finanzpakets von IMF, EU und Euroländern, die Zinssätze von rund 5% ermöglichen, werden es »nur« 32% sein. Aber auch hier ist unterstellt, dass der massive Sparkurs nicht die Akkumulationsdynamik abwürgt, denn dann wäre Griechenland bald wieder in der Größenordnung von einer Zinslast von über 40%. Muss ein Land über längere Zeit hohe Zinsen für neu ausgegebene Anleihen zahlen, verschlingt die Zinslast einen immer größeren Teil der Einnahmen.

Ab welchem Zins ein Land in ein Finanzierungsproblem gerät, ist aufgrund der unterschiedlichen Laufzeiten und Volumina der Staatsanleihen schwer zu berechnen. Angenommen wird: Eine Zinslast für Staaten ist kritisch, wenn sie ca. 30% der Staatseinnahmen übersteigt; ab 40% bis 50% ist eine positive Wende praktisch ausgeschlossen.

Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich taxiert die Gesamtforderungen an die Länder Griechenland, Irland, Portugal und Spanien im Dezember 2010 bei 2,2 Billionen Dollar. Für Deutschland ergeben sich laut BIZ Forderungen von 513 Mrd. Dollar (388 Mrd. Euro)  Griechenland 65,5 Mrd. Dollar, Portugal 44,2, Irland 186,5 und Spanien 216,6 Mrd. Dollar. Eine Absenkung der Zinslast hilft diesen Ländern gewiss, aber dauerhaft ist dies nur, wenn auch die Wirtschaftskraft entwickelt wird.

Irland und Portugal wenden gegenwärtig rund 19% ihrer Einnahmen für den Zinsdienst auf, Spanien etwa 12%. Spanien hat also noch Luft bis zu jener »Gefahrenzone«, in der die Zinslast 30% übersteigt. Die weitere Entwicklung hängt also davon ab, ob die Ökonomie auf mittlere Sicht in allen Euroländern stabilisiert werden wird und davon, ob das allgemeine Zinsniveau eingefroren bleibt und die Anleger wenig Anlass für hohe Risikoaufschläge sehen.

Dass die Staaten nach dem Kollaps von Lehman Brothers das Abgleiten der Finanzmarkt-Infrastruktur in das »Steinzeitalter« verhindern konnten, war positiv. Aber der Prozess ist noch längst nicht zu Ende. Staatspapiere sind über die letzten sechs Monate unsicherer bewertet worden. Die Bevorzugung von Staatspapieren geht auch zu Lasten jenes »Risikokapitals«, das langfristig orientierte institutionelle Anleger der realen Wirtschaft zur Verfügung stellen.

Wie schwierig das jetzige Umfeld ist, zeigt sich nicht nur an Europas Peripherie, sondern auch in dessen Zentrum. Der Risikoaufschlag für die »PIIGS«-Staaten hat sich seit Anfang Jahr bis November – vor der Ankündigung des Rettungspakets für Irland – um mehr als 200% verteuert, gemessen an dem arithmetisch gewichteten Credit-Default-Swap (CDS) auf Staatspapiere mit fünfjähriger Laufzeit . Im Vergleich damit hat sich der CDS auf deutsche Staatsanleihen um rund 50% verteuert. Die Schuldenkrise wird uns noch längere Zeit beschäftigen.

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