5. Oktober 2016 Otto König/ Richard Detje: Ausnahmezustand in der Türkei verlängert

Erdoğans Säuberungen

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.« So beginnt der Roman »Der Prozess« von Franz Kafka. Und so müssen sich die 32.000 Verdächtigen fühlen, die im Zusammenhang mit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei in Untersuchungshaft sitzen. Die Militäraktion in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 dauerte nur wenige Stunden. Dennoch hat sie das Land verändert.

Der Coup, den der türkische Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan »ein Geschenk Gottes« nannte, lieferte den Vorwand für die Verfolgung aller BürgerInnen, die die Narrative der AKP-Regierung infrage stellen. Eine Welle der Denunziation und Verfolgung wurde in Gang gesetzt. »Die Gedankenfreiheit existiert nicht mehr. Wir bewegen uns mit großer Geschwindigkeit von einem Rechtsstaat zu einem Terrorregime«, empört sich der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk.

Seit der Verhängung des Ausnahmezustands[1] regiert der türkische Staatspräsident per Dekret. In den ersten Wochen richtete sich die Säuberung des Staatsapparates insbesondere gegen vermeintliche Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, der als Drahtzieher des Putschversuchs beschuldigt wird. Tatsächlich war die Gülen-Bewegung lange Zeit ein tragendes Element der AKP.

Nun spricht Erdoğan von Fehlern und bittet »Allah und die türkische Nation um Vergebung«, weil er sich von dieser Bewegung »täuschen« ließ. Es folgte die Abrechnung: Rund 100.000 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes, darunter ca. 50.000 Lehrer, Dozenten und Professoren sowie Tausende Soldaten und Polizisten wurden aus dem Staatsdienst entfernt.

Nach dem 15. Juli versuchte Erdoğan die beiden Oppositionsparteien MHP und CHP in sein Boot zu holen. Der türkische Präsident sprach davon, dass alle Parteien, außer der »Terrorunterstützerin HDP«, nun »geeint mit der türkischen Nation« die Demokratie retten werden. Beharrlich wird seitdem im »1000-Zimmer-Palast« in Ankara an der Legende der »nationalen Einheit« gestrickt. Gleichzeitig ließen AKP-Repräsentanten durch die der Regierung unterstellten oder ihr hörigen Medien – oppositionelle Berichterstattung ist weitgehend kriminalisiert – das Bild einer von allen gesellschaftlichen Schichten unterstützten, aber von »ausländischen Mächten« bedrängten »nationalen Kraft« verbreiten.

Höhepunkt des vermeintlichen »Versöhnungskurses« war die Kundgebung Anfang August in Istanbul-Yenikapi mit mehr als einer Million TeilnehmerInnen, auf der nicht nur der Chef der ultranationalistischen MHP, sondern auch der sozialdemokratische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sprachen. Es ist fraglich, wie lange die noch von Atatürk 1923 gegründete und mit laizistischen Wurzeln versehene CHP den Kurs der Unterwürfigkeit fortsetzen und die Politik der Säuberungen bis hin zur Kriminalisierung der HDP – deren mit Klagen überzogene Parlamentarier bereits mit einem Fuß im Gefängnis stehen – tolerieren wird.

Erdoğans »Spiel« ist durchschaubar. Aktuell verleiht dem Präsidenten das Regieren per Dekret eine weit größere Machtfülle, als sie durch ein Präsidialsystems ermöglicht würde. Doch hinter dieser temporalen Herrschaftsform steht weiterhin das Projekt einer Präsidialverfassung, mit der ihm die gesamte exekutive Macht übertragen und das Parlament entmachtet würde. Mit Max Weber könnte man sagen, dass Erdogan das Momentum des Putsches gezielt zum Aufbau eines über den Parteien stehenden »außeralltäglichen« Charisma zu nutzen sucht – deshalb der Zuschnitt des gesamten politischen Geschehens auf seine Person.

Umso verheerender ist die Aufwertung, die er in diesen Monaten durch die Entscheidungszirkel der Europäischen Union erfährt. Allein die Wiederaufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einer sich auf den Ausnahmezustand berufenen Regierung ist ein demokratischer Skandal – und Wasser auf die Mühlen des Projekts charismatischer Herrschaft in Ankara.

Das Versagen der EU, und damit ihrer Mitgliedstaaten, ist nicht nur demokratietheoretisch zu fassen – obgleich damit die Legitimation von Institutionen, die für sich den Begriff einer »Wertegemeinschaft« beanspruchen, in den Staub getreten wird. Was die EU in ihrer Türkei-Politik gegenwärtig praktiziert (abgesehen von einigen Schaufensterreden), ist Missachtung von Menschenrechten. Es ist eben keine Sinn ergebende und Demokratie schaffende Doppelstrategie, wenn auf der einen Seite Verhandlungen angesetzt und auf der anderen Seite Protestnoten abgegeben werden – letzteres ist belanglos, wenn der autokratische Verhandlungspartner aufgewertet wird.

Intellektuelle, Gewerkschafter, Sozialisten, Demokraten sind Zielscheibe der Repression. Die Angriffe auf linke und kurdische Institutionen wurden wieder aufgenommen und 11.285 Lehrer in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Landesteilen entlassen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Verbindungen zur PKK vor. Mehr als 2300 Professoren, Dozenten und weiteres akademisches Personal wurden suspendiert und zum Teil verhaftet – darunter befinden sich die UnterzeichnerInnen des Appells »Akademiker für den Frieden«, um die militärischen Angriffe gegen Kurden zu beenden.

»Dieses vorsätzliche und geplante Massaker stellt einen ernsten Verstoß gegen türkische Gesetze und gegen internationale Verträge dar«, schrieben 2.118 Intellektuelle in dem Aufruf. Bereits im Januar ließ der Präsident gegen 1.200 UnterstützerInnen Ermittlungen wegen »Beleidigung des Staats« einleiten.

Wer nicht im Gefängnis ist, darf die Türkei nicht verlassen – und wer im europäischen Ausland weilte, wurde aufgefordert, in die Türkei zurückzukehren. Wo waren die europäischen Demokraten in den Bildungs- und Wissenschaftsministerien, die diese Politik mit großzügigen Stipendien, Gastdozenturen usw. kritisiert, bloßgestellt und teilweise unterlaufen hätten? Sicherlich: eine symbolische Aktion – aber das Gros heutiger Politik ist doch Symbolpolitik!

In das Kapitel Einschüchterung gehört die Verhaftung des Schriftstellers Ahmet Altan, Kolumnist für Zeitungen wie »Hürriyet« und »Milliyet«, sowie seines Bruder Mehmet Altan, Professor der Ökonomie. Ihre Festnahme ist Teil eines staatlich verordneten geistigen Kahlschlags gegen regierungskritische Intellektuelle und demokratisch gesinnte Journalisten, die als »Terroristen« oder »Terrorsympathisanten« bezeichnet werden. Dazu zählen wortstarke Verteidiger der Demokratie wie der Kolumnist Sahin Alpay und Nazli Ilicak sowie die Autorin Alsi Erdogan, der eine langjährige Haftstrafe wegen Volksverhetzung droht, weil sie als Nichtkurdin Partei für die Anliegen der kurdischen Minderheit und gegen die Militäroperationen in der Südosttürkei ergriffen hat.

Die türkische Schriftstellerin Elif Safak sagte unlängst in einem Gespräch mit der »Neuen Zürcher Zeitung«: »Jeder türkische Dichter, Schriftsteller oder Journalist weiß, dass er wegen eines Gedichts, eines Artikels, eines Romans, wegen eines Tweets oder Retweets Probleme bekommen kann. Wir sind in der Türkei nicht frei.« Laut der Internetseite »Turkey Purge« sitzen derzeit 119 Journalisten in der Türkei im Gefängnis, die meisten von ihnen in Silivri nahe Istanbul, »einem Ort, an dem alle landen, die der Präsident loswerden will«.[2] Für den Journalisten Bülent Mumay wurde der Traum der 1990er Jahre, »dass die Gefängnisse sich leeren würden, um Platz für das organisierte Verbrechen zu schaffen«, zum Alptraum, denn nun »nehmen Journalisten den Platz der Banden ein.«

Per Notstandsdekret, mit dem Medien und Verlage, die »die nationale Sicherheit gefährden«, ohne Gerichtsbeschluss geschlossen werden können, wurden 16 TV-Kanäle und 23 Radio-Stationen eingestellt, 45 Zeitungen und 15 Magazine geschlossen. 29 Verlage dürfen nicht mehr publizieren. Aktuell schaltete der Kabel- und Netzbetreiber zwölf überwiegend pro-kurdische Fernseh- und elf Radiosender »wegen Beihilfe zum Terrorismus« ab.

»Jeder einzelne Übergriff soll nicht nur die jeweils betroffenen Kolleginnen und Kollegen mundtot machen, sondern alle kritischen Stimmen einschüchtern«, kritisiert der dju-Vorsitzende Ulrich Janßen die Unterdrückung der Pressefreiheit in der Türkei. Wer dies in politisch verantwortlicher Position durch Nicht-Tun hinnimmt, sollte den Begriff der Zivilgesellschaft aus seinen/ihren Reden löschen. Es sind Presse, Rundfunk, Fernsehen und alle Internet-Medien, die den Begriff der Zivilgesellschaft substantivieren.

Für die kurdische Bevölkerung hat der Ausnahmezustand nichts verändert. In den kurdischen Städten im Südosten der Türkei gilt weiterhin das Kriegsrecht und in einigen Orten sind weiterhin Ausgangsverbote in Kraft. Die Ersetzung von 24 von der prokurdischen HDP geführten Kommunalverwaltungen durch staatliche Zwangsverwalter ist eine weitere Drehung der Eskalationsschraube. Hinzu kommt die Aufhebung der Immunität des Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş, der, wenn es nach der der Regierungspartei AKP hörigen Staatsanwaltschaft geht, für fünf Jahre ins Gefängnis soll.

Für Demirtaş ist es der Versuch der regierenden AKP, die Türkei in einen Einparteienstaat zu verwandeln. Die gefährliche Entwicklung lasse den Menschen nur die Wahl: »Entweder sind sie türkische Rassisten bzw. Nationalisten – oder ihnen wird ein Platz im Staatsapparat, an den Universitäten oder in der Bürokratie verwehrt.« Die AKP-Regierung versuche, die letzte Oppositionskraft im Parlament zum Schweigen zu bringen.

Mehr noch: Ebenso wie die Unterdrückung zivilgesellschaftlicher Kräfte werden Gewerkschaften und spontaner Arbeiterwiderstand kriminalisiert. Per Dekret wurden wirtschaftsfreundliche Gesetzespakete verabschiedet und damit die parlamentarische Kontrolle oder der Rechtsweg, etwa bei Privatisierungsvorgängen, außer Kraft gesetzt. Zusätzlich werden die heimische Bourgeoisie und internationale Konzerne mit umfangreichen Vergünstigungen umworben. Schließlich schafft die gesetzliche Entmachtung der ohnehin schwachen Gewerkschaften durch das Verbot von Streiks für die Unternehmen wahrlich paradiesische Zustände.

Auch wenn »eine faschistisch-islamistische Diktatur vorerst abgewendet scheint und dies durchaus als positiv zu bewerten« sei, ergeben sich für Murat Cakir die »Chancen für emanzipatorische Kämpfe, Demokratisierungsschritte und Frieden nicht von selbst«.[3] Diese müssen erkämpft werden: Die linken und demokratischen Kräfte in der Türkei und in Kurdistan stehen vor der gewaltigen Herausforderung, ein neues gesellschaftliches Bündnis für Demokratisierung, soziale Gerechtigkeit und für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage aufzubauen.

Und für die Linke in der EU – im weitesten Sinn zivilgesellschaft progressiver Kräfte – lautet die Aufgabe: kritische Berichterstattung darüber, was passiert in einer Zeit, in der der mediale Fokus längst auf andere Themen und Events »zappt«: in der Türkei und in der Türkei-Politik in Europa. Aufklärung gepaart mit »blaming and shaming«!

[1] Der Ausnahmezustand wurde am 21. Juli mit einer Parlamentsmehrheit von 356 Stimmen der AKP, der MHP und einigen Abgeordneten der CHP beschlossen. Die HDP-Fraktion stimmte geschlossen gegen die Ausschaltung des Parlaments. Der Ausnahmezustand sollte 18. Oktober 2016 auslaufen, wurde inzwischen jedoch vom Nationalen Sicherheitsrat erneut um 90 Tage verlängert.
[2] Vgl. Can Dündar: Lebenslang für die Wahrheit. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis. Hamburg 2016
[3] Vgl. Murat Cakir: Die neuen Stützen des AKP-Regimes, RLS-Standpunkte 23/2016

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