23. Januar 2017 Otto König/ Richard Detje: Klassenkampf von oben in Brasilien

Goldgräberstimmung der Rechten

Lateinamerikas Rechte hat nach vielen Jahren der Opposition zum Gegenschlag ausgeholt und bedroht nun politische und soziale Errungenschaften: gerechtere Verteilung der Einkommen, besseres Bildungssystem, Aufarbeitung der Militärdiktaturen und mehr Demokratie. Für ihre restaurative Offensive nutzen sie die enger werdenden Verteilungs- und Handlungsmöglichkeiten der linken Regierungen.

Erringt das bürgerlich-konservative Lager die Macht nicht an der Wahlurne, greift es wie in Brasilien auch zu winkel-advokatischen Mitteln und »putscht« die demokratisch gewählte Präsidentin aus dem Amt.

Bei der Stichwahl im Oktober 2014 hatte sich Dilma Rousseff, Kandidatin der linksorientierten Partido dos Trabalhadores (PT), mit 51,64% der Stimmen gegen den Kandidaten der Partido da Social Democracia Brasileira (PSDB), Aécio Neves, durchgesetzt. Die unterlegene Rechte war jedoch nach vier Niederlagen – seit 2002 – nicht bereit, die souveräne Entscheidung der Bevölkerung zu akzeptieren. Der Koalitionspartner der PT, die Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), kündigte im Frühjahr 2016 die Koalition auf und strengte gegen Rousseff ein Amtsenthebungsverfahren an.

Unter Korruptionsverdacht stehende Politiker warfen der Staatspräsidentin vor, Haushaltszahlen geschönt und ohne Zustimmung des Kongresses Geld ausgegeben zu haben. Dem Bündnis aus Eliten, Medienhäuser und Teilen der Justiz und Politik gelang es, Rousseff aus dem Amt zu putschen.[1] 61 der 81 versammelten Senatsmitglieder besiegelten in der entscheidenden Abstimmung im August 2016 ihr vorläufiges politisches Ende. Michel Temer (PMDB), bis dato Vize-Präsident, wurde zum De-facto Staatsoberhaupt Brasiliens bestimmt. Rousseff twitterte: »Zukünftige Generationen werden wissen, dass, als zum ersten Mal eine Frau Präsidentin wurde, der Machismo und die Misogynie ihre hässlichen Fratzen zeigten«.

Damit wurde vorerst auch ein Zyklus beendet, der mit dem Namen Luiz Inácio Lula da Silva[2] verbunden ist. In dessen achtjähriger Amtszeit vollzog sich in dem südamerikanischen Land ein gewaltiger sozialer Wandel: Millionen Menschen stiegen aus Armut und Elend auf und erhielten erstmals Zugang zu Bildung. Der Mindestlohn erhöhte sich um 70%. Der Anteil der regulären Jobs an der Gesamtbeschäftigung kletterte von 45 auf 60%. Arbeitsmarktreformen stärkten die Gewerkschaften und die damit verbesserte Verhandlungsposition führte zu steigenden Reallöhnen, was die Stärkung der Kaufkraft und eine Belebung der Wirtschaft nach sich zog. Das Bruttoinlandsprodukt wuchs jährlich um fast 3,5%. Rund 20 Millionen Arbeitsplätze entstanden neu, die Arbeitslosenquote sank auf ein historisches Tief.

Das populärste unter den Sozialprogrammen der PT-Regierung ist »Bolsa Família«, ein Sozialtransfer zur Bekämpfung der extremen Armut, von dem 50 Millionen Brasilianer profitieren. Im Zentrum steht eine Familiensozialhilfe, deren Leistungen an den Schulbesuch und Impfnachweis der Kinder gekoppelt sind. Die Regierung investierte in Bildung, Gesundheit und sozialen Wohnungsbau. Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Sozialprodukt stieg von drei auf fast fünf Prozent. Die Armutsquote sank von 25 auf 7%.

Die »staatsstreichartige« Übernahme des höchsten Staatsamtes durch Michel Temer löste im bevölkerungsreichsten Land auf dem südamerikanischen Kontinent unter den Rechten eine Goldgräberstimmung aus. Das von der Regierung der weißen Millionäre – Vertreter der alten Eliten, darunter viele, die selbst der Korruption beschuldigt werden – forcierte neoliberale Programm »Eine Brücke in die Zukunft« setzt auf Einschränkung der Rolle des Staates, also Privatisierungen, Vergabe von Konzessionen an internationale Unternehmen, die Abschaffung bestehender Arbeitsrechte sowie Kürzungen der Sozialprogramme und der Renten.

Die Öffnung des »brasilianischen Markts« – der Liberalisierungsschub zugunsten der Wirtschaft und ausländischer Investoren – hat die Privatisierung von 34 staatlichen Unternehmen in den strategischen Bereichen Verkehr, Energie, Erdöl und Gas zum Ziel. Das Paket enthält neben dem Verkauf der Flughäfen von Florianópolis, Salvador, Fortaleza und Porto Alegre an Privatunternehmen auch das Verscherbeln von Vermögenswerten des staatlichen Stromerzeugers Eletrobrás und des halbstaatlichen Erdölunternehmens Petrobrás.

Im Oktober 2016 entschied das Parlament, dass die Beteiligung von Petrobras von mindestens 30% an der Ausbeutung und Förderung der Erdölvorkommen vor der brasilianischen Küste nicht länger verpflichtend ist. Laut der Temer-Regierung sei der staatliche Erdölkonzern durch den »Lava-Jato« genannten Korruptionsskandal schwer angeschlagen und nicht mehr in der Lage, die Förderung des Pré-Sal voranzutreiben. Doch letztlich geht es um den Zugang internationaler Konzerne zu den mehreren Billionen US-Dollar schweren Erdölvorkommen.

Die linke Opposition schätzt, dass dem Staat allein durch diese Gesetzesänderung umgerechnet rund 82 Milliarden Euro verloren gehen werden. Bisher wurden die Milliardeneinnahmen aus der Erdölförderung, die sogenannten royalties, nach einem gesetzlich festgelegten Schlüssel unter den Bundesstaaten und Gemeinden mit Erdölvorkommen sowie an den Bundeshaushalt verteilt. Seit 2011 werden sie vor allem genutzt, um die staatlichen Ausgaben für Bildung und für die Gesundheitsversorgung zu finanzieren.

Fakt ist: Derzeit befindet sich die brasilianische Wirtschaft auf Talfahrt. Der Ölpreis stagniert, der Exportsektor bleibt schwach. Die Wirtschaftsleistung wird voraussichtlich um 3,5% nachlassen, das Budgetdefizit erreicht beängstigende zehn Prozent und die Arbeitslosigkeit stieg auf fast zwölf Prozent. Nun soll das Wundermittel der »Haushaltsbremse« die Wende zum Besseren bewirken.

Nachdem die PT bei der Kommunalwahl Anfang Oktober 2016 die schlimmste Schlappe ihrer Geschichte einfuhr, brachte Temer den Gesetzantrag PEC 55 »Proposta de Emenda Constitucional« ins Parlament ein. Mit dem Verfassungszusatz, der im Dezember nach Zustimmung der Abgeordnetenkammer auch vom Bundessenat in Brasilia verabschiedet wurde, werden die Staatsausgaben, die nur noch im Rahmen der Inflation des Vorjahres angehoben werden dürfen, für 20, mindestens aber für die kommenden neun Jahre eingefroren.

Das staatliche Wirtschaftsforschungsinstitut IPEA warnte vor sozialen Einschnitten bei der Finanzierung des staatlichen Gesundheitswesens in Folge der Verabschiedung des Gesetzes. Durch die beschlossenen Haushaltseinschränkungen werden vor allem Sozialprogramme wie »Bolsa Família«, aber auch der gesetzliche Mindestlohn betroffen sein. Zusätzlich soll mit der geplanten Rentenreform im Frühjahr dieses Jahres das Rentenalter für Frauen und Männer heraufgesetzt und das Rentenniveau abgesenkt werden – ausgenommen sind Militärs, Politiker und hohe Staatsdiener. Für den UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut, Philip Alston, ist das Gesetz PEC 55 ein »historischer Fehler«, der »ganze Generationen wieder zurück in die Armut treiben wird«.

Seit Bekanntwerden der Kürzungen und der Festsetzung des Haushalts durch die De-facto-Regierung nimmt der Protest im ganzen Land zu. Fast täglich kommt es zu Demonstrationen, Straßenblockaden und Arbeitsniederlegungen gegen die von der Regierung geplanten Lockerungen im Arbeitsrecht und Kürzungen in der staatlichen Altersversorgung. Schülerinnen und Schüler protestieren gegen das Einfrieren der Ausgaben für öffentliche Bildung und halten über 1.000 Schulen besetzt. Die Aktivitäten werden von der Linken und den sechs größten Gewerkschaften organisiert.

Die massenhaften Proteste gegen den »parlamentarischen Putsch« haben sich jedoch nicht in einem Stimmenzuwachs für die Arbeiterpartei PT bei der Kommunalwahl Ende Oktober 2016 niedergeschlagen. Im Gegenteil: Die PT verlor im Vergleich zu 2012 rund 60% der Städte und die Hälfte der Stimmen bei den Stadtratswahlen. Wurden bei den Wahlen vor vier Jahren noch 638 PT-Mitglieder zu Bürgermeistern gewählt, so sind es ab 2017 nur noch 263. Besonders schwer wiegt, dass in den Hauptstädten der Bundesstaaten und Städte mit mehr als 200.000 Stimmberechtigten, in denen 40% der brasilianischen Wahlberechtigten leben, nun die PSDB vorne liegt.

Es ist offensichtlich, dass die Verwicklung führender PT-Mitglieder in den Petrobras-Skandal die schlechten Wahlergebnisse der Arbeiterpartei mitverursacht hat. Der Kampf gegen die Korruption wird von den selbst verwickelten Eliten der Rechte in eine politische und mediale Verfolgung der PT umgemünzt und zur Abrechnung mit der Epoche der Linken genutzt. So erhebt die Ermittlungsgruppe im »Lava-Jato«-Korruptionsskandal hanebüchene Anklagen gegen Lula und bezeichnete ihn als »Oberkommandierenden einer kriminellen Organisation«.[3]

Es grenzt an Ironie, dass die Bekämpfung durch Maßnahmen der PT-Regierungen schlag-kräftiger und effizienter wurde. Auch deshalb haben nun rechte Politiker, um sich selbst vor Strafverfolgung zu schützen, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das von der Rousseff-Regierung eingebrachte Gesetzespaket nicht nur verwässert, sondern mit dem Zusatz versehen, »wonach unbedacht und übereifrig gegen gewählte Amtsträger vorgehende Strafverfolger ihrerseits mit Strafverfolgung rechnen müssen« (FAZ,8.12.2016). Die Verkehrung des Anti-Korruptions-Gesetzes in sein Gegenteil ist der Versuch, sich eine Pauschalamnestie auszustellen

Die gesamte PMDB-Spitze und die meisten Parlamentarier haben zu Recht Furcht vor der Justiz.[4] Gegen 60% der Kongressmitglieder laufen Gerichtsverfahren oder Ermittlungen. Staatspräsident Michel Temer, der bereits sechs Minister wegen Korruptionsvorwürfen entlassen musste, bewegt sich selbst auf dünnem Eis. Ihn bedroht die Aussage von Marcelo Odebrecht, Präsident des größten Baukonzerns des Landes, im »Lavo Jato«-Skandal. Bei einer Hausdurchsuchung des ehemaligen Unternehmenschefs wurden Unterlagen mit Angaben zu 240 Politikern von 22 Parteien gefunden, die Schmiergelder erhalten hatten. Laut der Zeitung »Folha de Sao Paulo« taucht der Name von Temer 43 mal im Zusammenhang mit versteckten Geldübergaben und illegaler Wahlkampffinanzierung auf.

Die PT, die derzeit bemüht ist, sich neu aufzustellen, setzt mit Blick auf mögliche vorgezogene bzw. die im Jahr 2018 regulär anstehenden Parlamentswahlen erneut auf den Expräsidenten Lula da Silva, dessen Popularität trotz aller Diffamierungskampagnen bis heute hoch ist. Bei Umfragen liegt er regelmäßig vor anderen möglichen Bewerbern. Lula und seine UnterstützerInnen sehen die falschen Anschuldigungen weniger gegen ihn gerichtet, als auf »das politische Projekt, für das ich stehe: das eines gerechteren Brasiliens mit Möglichkeiten für alle«, so Lula..

Die Verengung der politischen Perspektive allein auf seine Person als Kandidaten für die kommenden Wahlen ist nicht ausreichend. Es bedarf einer breiten Oppositionsbewegung, die der brasilianischen Bevölkerung Orientierungen anbieten kann und sie durch Mobilisierung in die Auseinandersetzungen einbezieht. Anfang September 2015 wurden in Belo Horizonte mit der Bildung der »Frente Brasil Popular« (Brasilianische Volksfront) erste Schritte dazu eingeleitet Daran beteiligten sich die Gewerkschaft CUT, die Studentenorganisation UNE, die Landlosen-bewegung MST, die Consulta Popular, die Via Campesina, Frauenorganisationen, die Bewegung der Staudammgeschädigte (MAB), die Juristenvereinigung und Vertreter linker Parteien einschließlich der PT.

Es ist eine Auseinandersetzung von unten aus den Wohnvierteln, den Fabriken, den Gewerkschaften, aus den Universitäten für eine progressive politische Alternative notwendig, die neben strukturellen Veränderungen in Wirtschaft und Politik und einer Agrarreform auf eine gestärkte Souveränität und die Integration Lateinamerikas setzt.

[1] Solche Aktionen eines »sanften Putsches« oder der »smart power«, erarbeitet vom US-Ideologen Joseph Nye, unterscheiden sich von den bisherigen Methoden der Umstürze vergangener Jahre. Nach den Staatsstreichen in Honduras 2009 und Paraguay 2012 wurde 2016 auch in Brasilien diese »sanfte« oder »smarte« Variante angewandt (Achim Wahl).
[2] Am 27. Oktober 2002 wurde der ehemalige Vorsitzende der Metallarbeitergewerkschaft, Lula da Silva, zum Präsident Brasiliens gewählt. Lula war einer der Köpfe des Widerstands gegen die zivil-militärische Diktatur und einer der Gründer der linken Arbeiterpartei (PT). 2010 folgte ihm seine Parteifreundin Dilma Rousseff.
[3] Der Menschenrechtsanwalt Geoffrey Robertson QC, der Lulas Verteidigung übernahm, konnte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte dazu bewegen, die brasilianische Regierung ultimativ aufzufordern, innerhalb von zwei Monaten Informationsmaterial und Belege für die Anschuldigungen gegen seinen Mandanten vorzulegen.
[4] Der abgesetzte Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Cunha (PMDB), soll nach Überzeugung der Ermittler allein 35 Millionen Euro erschlichen und auf Konten in der Schweiz geschafft haben. Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat inzwischen beschlossen, auch gegen Senatspräsident Renan Calheiros (PMDB) wegen Veruntreuung staatlicher Gelder den Prozess zu eröffnen.

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