7. August 2015 Joachim Bischoff / Björn Radke

Grexit oder »Rettung« des Kapitalismus?

Der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis hatte vor der Übernahme der herausragenden Führungsrolle für die Rettung des Kapitalismus geworben. »Wir müssen den revolutionären Maximalismus vermeiden, der letztlich den Neoliberalen hilft, jeden Widerstand gegen ihre selbstzerstörerische Gemeinheit zu umgehen.«

In der schweizerischen Wochenzeitung (WOZ) vom 26.2.2015 schrieb er weiter: »Und wir müssen uns der inhärenten Hässlichkeit des Kapitalismus bewusst bleiben, während wir, aus strategischen Gründen, versuchen, ihn vor sich selbst zu retten.«

Es ist leider wahr geworden, dass die Anhänger des revolutionären Maximalismus das schmutzige Geschäft des Neoliberalismus übernehmen. Wenn schon die entfesselten KleinbürgerInnen den zeitweiligen »time-out« eines Landes aus der europäischen Gemeinschaft nicht schaffen, kann diese geschichtsmächtige Operation doch durch den linken Radikalismus praktisch wahr werden.

»Grexit« oder »Rettung eines verabscheuungswürdigen Kapitalismus« – das ist in Griechenland und in der europäischen Linken nun die Alternative. In Griechenland eskaliert der Streit innerhalb der Regierungspartei Syriza. Der Sprecher deren linken Flügels, Panagiotis Lafazanis, rief alle Abgeordneten seiner Partei zur Ablehnung eines neuen Reform- und Sparprogramms auf, falls es in den kommenden Tagen von Ministerpräsident Alexis Tsipras vorgelegt werden sollte.

Der linke Flügel der Partei hat im Parlament bereits zweimal gegen Reform- und Sparmaßnahmen gestimmt, die Bedingung für neue Finanzhilfen der internationalen Geldgeber sind. Fast jeder vierte Syriza-Abgeordnete verweigerte seine Zustimmung. Nur mit Hilfe der Opposition kam jeweils eine Mehrheit zustande.

Lafazanis betont, dass der linke Flügel nicht gegen die eigene Regierung, sondern nur gegen die aus Brüssel diktierten Zwänge arbeite. Sie sehen sich ihrem Wahlprogramm – das tatsächlich den Absprachen mit den »Institutionen« Troika fundamental entgegensteht – stärker verpflichtet als den Vereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU-Kommission. Im Zentralkomitee, dem  Entscheidungsgremium zwischen den Parteitagen, hatten sich 109 von 201 Mitgliedern gegen den Kompromiss vom 12. Juli gestellt.

Das zentrale Argument der Mehrheit: Wer gegen die Verhandlungsstrategie der Linksregierung arbeite, wolle letztlich einen »Grexit«, also den Austritt aus der Euro-Zone. Mit der Abschüttelung der finanziellen Repression seien aber ein weiterer Niedergang der griechischen Ökonomie und damit die weitere Verelendung der Griechen verbunden.

Zwar ist ein Syriza-Parteitag für Mitte September geplant, um die Kluft zu überbrücken, doch sind inzwischen Neuwahlen wahrscheinlicher geworden. Eine Entscheidung darüber wird vermutlich kurz nach der Abstimmung über das dritte Hilfspaket fallen, als wahrscheinlicher Termin wird ein Wochenende im Oktober gehandelt.

Die Drohung mit vorgezogenen Neuwahlen setzt Premier Tsipras zur Parteidisziplinierung ein, schließlich wissen viele Abgeordnete, dass sie bei einer »Nein«-Stimme wahrscheinlich nicht für das nächste Parlament aufgestellt würden. Prominente »Nein«-Sager wie die Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou, Ex-Energieminister Lafazanis oder Pro-»Grexit« Ökonom Costas Lapavitsas sehen sich seit Wochen starker öffentlicher Kritik und negativer Presse ausgesetzt.

Zentrales Thema der Verhandlung zwischen Linksregierung und den Gläubigern ist die Lage der Wirtschaft und der Banken. Strittig ist vor allem das zusätzliche Geld, das die griechischen Banken für ihre Rekapitalisierung brauchen werden. Schätzungen zufolge dürften sie ca. 25 Mrd. Euro an frischem Kapital benötigen. Die griechische Wirtschaft wird bis Ende 2015 mindestens um 2,8% schrumpfen. Dies hat Auswirkungen auf die Banken und auf das Volumen des neuen Finanzpakets, ohne das Griechenland dann doch in eine Insolvenz getrieben wird.

Weil aufgrund der großen Differenzen zwischen den Verhandlungspartnern die Zeit für eine Einigung – vorgesehen ist der 20.August – erneut knapp wird, spekulieren griechische Medien bereits über einen neuen Überbrückungskredit.


Der Börsencrash

Die Vorgänge an der Börse haben die Dramatik der Lage transparent gemacht. Eine Überraschung war der Börsen-Crash in Athen nicht wirklich. Nach den wochenlangen Bankenschließungen und den Kapitalverkehrskontrollen war unstrittig, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes weiter beschädigt worden war. Der Kurssturz in Athen ist ein lokales Ereignis und die Wertpapierbörse spiegelt die Situation und die zwiespältigen Aussichten wider.

Schon in den beiden vorangegangenen Quartalen war musste wiederum eine leichte Schrumpfung von jeweils -0,2% konstatiert werden. Der am Montag vom Markit-Institut veröffentlichte Einkaufsmanager-Index fiel auf ein Rekordtief. Mit einem Wert von 30,2 Zählern ist der Wachstumsbereich oberhalb von 50 Punkten weit entfernt.

Einen niedrigeren Stand haben die Forscher seit Beginn der Umfragen im Jahr 1999 in dem Ägäis-Land noch nicht gemessen. Zudem sackten auch die Teil-Barometer für die Produktion und die Auftragseingänge jeweils auf Rekordtiefs ab. Daher die Befürchtung, der Einbruch in der wirtschaftlichen Leistung könnte noch weit stärker ausfallen als die geschätzten 2,8%.

Zuletzt konnte am 26. Juni an der Athener Börse gehandelt werden. Hintergrund für ihre Schließung war eine Zwangsschließung der Banken zwischen dem 29. Juni und dem 20. Juli. Für die griechischen Kontoinhaber gibt es quasi noch immer eine Begrenzung bei den Geldabhebungen, die bei 60 Euro täglich liegt. Zuvor waren die Bankeinlagen im ersten Halbjahr 2015 in den griechischen Geldhäusern auf Grund der unbeständigen politischen Situation und der damit verbundenen Angst vor einem Staatsbankrott um 28% zurückgegangen. Danach traten die Kapitalverkehrskontrollen in Kraft und die Börse blieb fünf Wochen lang geschlossen. Es war die längste Handelsaussetzung seit den 1970er Jahren.

Seit Ausbruch der europäischen Schuldenkrise 2009 haben die 59 in Athen gelisteten Firmen rund drei Viertel ihrer Marktkapitalisierung verloren, eine baldige Erholung ist nicht in Sicht. Die Wiedereröffnung der Börse hat zudem den griechischen Bankensektor schwer unter Druck gesetzt. Seit Montag fallen die Aktienkurse der vier systemrelevanten Banken Eurobank, Alpha Bank, National Bank und Bank von Piräus täglich um 30%. Deren Börsenkapitalisierung ist insgesamt auf unter fünf Mrd. Euro gefallen. Noch im Januar betrug sie total 18,5 Mrd. Euro. Offenbar wollen die Anleger ihre Beteiligungen um jeden Preis loswerden.

Im Niedergang der Wertpapiere für Geldhäuser bündeln sich zwei Trends: Zum einen sind die Perspektiven für die griechische Wirtschaft und damit die Unternehmen aktuell niederschmetternd. Zum anderen fürchten die Eigentümer dieser Wertpapiere eine anstehende Beteiligung an der unausweichlichen Rekapitalisierung der Banken im Rahmen des dritten Memorandums.

Die griechische Regierung hat zwar mit den Gläubigern ausgehandelt, dass die Banken mit dem neuen 86 Mrd. Euro schweren Kredit des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) rekapitalisiert werden. Aber die Skepsis ist groß, ob der dafür vorgesehene Betrag von ca. 25 Mrd. Euro ausreichen wird. In Zusammenarbeit mit der griechischen Zentralbank führt die EZB eine Untersuchung über den Zustand der vier Banken durch. Bis Anfang September soll der effektive Kapitalbedarf der vier Institute ermittelt werden.

Zwischen 2013 und 2015 wurde das Kapital der griechischen Banken über zwei Kapitalerhöhungen mit insgesamt 35 Mrd. Euro aufgestockt. Dies erwies sich allerdings als nicht ausreichend. Finanzkreise rechnen damit, dass die vier Banken weitere 10 bis 25 Mrd. Euro an Kapital benötigen.

Wie viel genau das sein wird, wird vor allem von den Annahmen der EZB abhängen sowie von der Entwicklung der faulen Kredite und der Behandlung der aktiven latenten Steueransprüche. Die faulen Kredite wurden vor der Einführung der Kapitalkontrollen auf 35% des Kreditvolumens geschätzt. Finanzkreise gehen davon aus, dass die Kredite wegen der Lahmlegung der Wirtschaft in den letzten Monaten auf 52% des Kreditvolumens angestiegen sein könnten.

Gleichwohl gibt es auch positive Einschätzungen: Wegen verbesserter Liquidität werde Griechenland voraussichtlich in den nächsten Wochen bei der EZB nicht um höhere Nothilfen für die Institute nachfragen. Aus Furcht vor dem »Grexit« wurden in den Tagen und Wochen zuvor Konten leer geräumt und die heimischen Geldhäuser an den Rand des Ruins getrieben. Diese konnten sich nur mit Hilfe von ELA-Notkrediten der Notenbank über Wasser halten.

Der Liquiditätspuffer der Geldhäuser sei inzwischen auf rund 5 Mrd. Euro angewachsen. Als es in der Krise Spitz auf Knopf stand, seien es lediglich ein bis zwei Mrd. Euro gewesen. Erhöhungen der ELA-Bankenhilfen, Steuerzuflüsse sowie Zuflüsse aus dem Tourismus hätten für eine Verbesserung der Lage gesorgt.


Linksradikale Fehleinschätzungen ...

Für die Syriza-Mehrheit konstatierte Alexis Tsipras, es sei »surreal«, wenn Abgeordnete nicht für die Regierungspolitik stimmten, aber trotzdem erklärten, diese Politik zu unterstützen. Sollte dies nicht aufhören, sehe er keine andere Möglichkeit als Neuwahlen.

Es in der Tat surreal, dass der linke Flügel daran arbeitet, die politische Strategie eines befreienden »Grexits« praktisch umzusetzen. Seine politischen Erwartungen toppen die Phantasien der neoliberalen Politiker und Ökonomen: Schon nach wenigen Monaten würden eine Zunahme der Exporte, eine Abnahme der Importe, eine Erhöhung der Produktion im Primärsektor (Rohstoffe oder z.B. Landwirtschaft), eine explosionsartige Zunahme des Tourismus und die Wiederherstellung der notwendigen Liquidität in der Wirtschaft eintreten. Dies würde dazu führen, dass große öffentliche und private Investitionen getätigt werden könnten, die wiederum die Entwicklung und die Beschäftigung verstärken.

Zugleich wissen die linken Flügelvertreter, dass keine Finanzressourcen für öffentliche Investitionen und kaum Machtressourcen für eine staatliche Steuerung vorhanden sind. Vor diesem Hintergrund ist das Vertrauen in die Gestaltungsfähigkeit der Märkte in der Tat surreal.

Vermutlich lässt sich die aufgebrochene Spaltung nicht mehr kitten. Wenn es zum Abschluss eines dritten Memorandums kommt, bleibt der Linksregierung nur übrig, im Parlament erneut auf eine Unterstützung durch die Abgeordneten des bürgerlichen Lagers und der sozialistischen Pasok zu hoffen. Der linke Flügel von Syriza wird gemeinsam mit der kommunistischen Partei KKE für einen »Grexit« stimmen.

In den Verhandlungen über ein drittes Hilfsprogramm erwartet EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine Einigung bis zum 20. August. Er machte erneut seine politische Option deutlich: »Hätten wir das schwächste Land rausgeschmissen, hätten die Finanzmärkte das nächstschwächste aufgespürt … Ich habe niemals jemanden getroffen, der mir im Detail richtig erklären konnte, was die realen Konsequenzen eines Grexit sein würden.«


… und vertauschte Sichtweisen

Die europäische politische Landschaft ist wirklich verquer. Während der linke Flügel von Syriza für einen »Grexit« kämpft und auf die wohltuenden Effekte des Marktes setzt, kämpft ein Mitglied der bürgerlich konservativen Parteienfamilie gegen den »Grexit«, gegen die Strategie der neoliberalen Ideologen und öffentliche Interventionen. Juncker hat damit – zum Ärger der politischen Klasse in Berlin – auch einen kleinen Weg zur Stärkung öffentlicher Investitionen in Europa zusammen mit der europäischen Investitionsbank eröffnet.

Und er hat die Regierungen der EU-Mitgliedsländer aufgefordert, in der Flüchtlingsfrage nicht vor Populisten und Ausländerfeinden einzuknicken. Wer Populisten folge, werde am Ende selbst zum Populisten. »Ihr dürft Euch nicht durch populistische Gedanken blenden lassen, die in allen Ländern präsent sind.« Der konservative Politiker hat also eine Ahnung von der gewachsenen Bedrohung durch den Rechtspopulismus, der bei den linken Freunden eines »Grexit« so gut wie keine Rolle spielt.

Der frühere griechische Finanzminister Varoufakis hatte bereits 2013 erklärt, warum man in der zugespitzten Krisensituation zunächst das System vor sich selber schützen muss. Er ging wie Keynes von einem krisengeschüttelten, zutiefst unvernünftigen und abstoßenden europäischen Kapitalismus aus, dessen Zusammenbruch, trotz all seiner Fehler, unter allen Umständen vermieden werden sollte.

Mit seinem Bekenntnis wollte er helfen, Radikale von einem widersprüchlichen Auftrag zu überzeugen: den freien Fall des europäischen Kapitalismus zu stoppen, damit die progressiven Kräfte Zeit bekommen, um eine Alternative zu formulieren. Denn die Krise in Europa würde kaum eine bessere Alternative zum Kapitalismus hervorbringen, sondern viel eher gefährliche rückwärtsgewandte Kräfte entfesseln, die ein Blutbad verursachen und gleichzeitig jede Hoffnung auf gesellschaftliche Fortschritt über Generationen hinaus vernichten könnten.

Die Bekenntnisse eines unorthodoxen Marxisten inmitten der europäischen Krise lauteten bereits damals: »Europas Eliten verhalten sich heute so, als ob sie weder die heutige Krise verstünden, die sie verantworten, noch deren Konsequenz für sich selbst, geschweige denn für die europäische Zivilisation. Urtümlich primitiv, entscheiden sie, die schwindenden Reserven der Schwachen und der Beraubten zu plündern, um die klaffenden Lücken im Finanzsektor zu stopfen, und sie weigern sich, die Unmöglichkeit der Aufgabe anzuerkennen.

Aber obwohl Europas Eliten die Augen verschließen und sich in Auflösung befinden, muss die Linke eingestehen, dass sie schlicht nicht bereit ist, jenen Graben, der sich durch den Kollaps des europäischen Kapitalismus auftun würde, mit einem funktionierenden sozialistischen System zu überbrücken. Deshalb sollte unsere Aufgabe in zweierlei bestehen: erstens, eine Analyse der gegenwärtigen Situation zu liefern, die auch NichtmarxistInnen, wohlmeinende EuropäerInnen, die vom Sirenengesang des Neoliberalismus verführt wurden, hilfreich finden. Zweitens, dieser vernünftigen Analyse Vorschläge folgen zu lassen, um Europa zu stabilisieren – damit die Spirale des Niedergangs gestoppt werden kann, der letztlich nur die Bigotten stärkt.«

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