9. Januar 2015 Joachim Bischoff / Björn Radke

Griechenland: Austerität oder Reform

Gut 14 Tage vor dem Wahltermin in Griechenland liegt nach jüngsten Umfragen das Linksbündnis SYRIZA unter Alexis Tsipras mit gut 3% vor der konservativen Nea Dimokratia (ND) von Regierungschef Antonis Samaras. Bei einem Wert um die 30% wäre das linke Parteienbündnis auf Koalitionspartner angewiesen, da im Parlament nicht die absolute Mehrheit der Sitze erreicht würde.

Die Sozialisten der bislang mitregierenden PASOK unter Evangelos Venizelos kommen demnach weit abgeschlagen auf 3,9%. Als drittstärkste Kraft  erscheint in der Umfrage mit 4,5% eine neue Partei der politischen Mitte, To Potami (Der Fluss). Dichtauf folgen die Neonazis der Goldenen Morgenröte und die Kommunisten mit 4,4 und 4,1%.

Die neugegründete Bewegung der Demokraten und Sozialisten des früheren Regierungschefs Giorgos Papandreou scheitert der Umfrage zufolge an der Drei-Prozent-Hürde. Der Ausgang der Wahlen entscheidet darüber, ob es bei der Fortsetzung der für die griechische Gesellschaft zerstörerischen Austeritätspolitik bleibt, oder der Weg für einen anderen Entwicklungsprozess geöffnet wird.

Vier Jahre eines brutalen Konsolidierungskurses unter strikter Kontrolle der Troika von EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) sowie sechs Jahre Rezession liegen hinter Griechenland. Nach einer Schrumpfung der Wirtschaftsleistung von ca. 25% rechnet die Regierung mit 0,6% Wachstum für 2014. In den Verhandlungen zum Jahresende 2014 wollte die Koalitionsregierung aus ND und PASOK neben der Auszahlung einer weiteren Kredittranche von 1,8 Mrd. Euro auch eine Zusage für ein Überbrückungsprogramm ab 2015 erreichen.

Die Troika bestand auf der Umsetzung weiterer Sozialkürzungen, was die Regierung angesichts der ins Haus stehenden Neuwahlen auf keinen Fall zugestehen wollte. Im Gegenzug hätte Griechenland weitere 1,8 Mrd. Euro an Hilfen ausgezahlt bekommen. Und noch viel wichtiger: Es wäre auch klar gewesen, wie es nach dem Ablauf des zweiten Hilfsprogramms weitergegangen wäre. Mit dem Vorziehen der Wahlen sieht zumindest die ND die Chance eines Wahlsieges und damit der Fortsetzung ihres Kurses: mit EU-Kommission, EZB und IWF ein Übergangspaket zu verhandeln, bei der allerdings keine weiteren Sparauflagen mehr akzeptiert würden.

Während SYRIZA mit einem Ende des brutalen Austeritätsprogramms wirbt, behauptet der konservative Regierungschef Antonis Samaras, das Linksbündnis werde »das Land zum Austritt aus der Eurozone führen«. Besonders die deutsche Bundesregierung baute in der letzten Woche – auch über die Medien – starken Druck auf: Griechenland habe sich an die geschlossenen Verträge und den verabredeten Reformkurs zu halten. Ein Schuldenschnitt sei inakzeptabel. Ein Ausstieg Griechenlands aus dem Euro würde die Eurozone nicht mehr so stark belasten wie 2012 und somit sei Europa nicht mehr erpressbar.

Nachdem die öffentlichen Spekulationen über ein »Grexit« für Unruhe auf den Finanzmärkten sorgten, wurden die Spekulationen gedämpft: Die Bundesregierung dementierte eine politische Kursänderung. Auch der lettische Vizechef der EU-Kommission, Valdis Dombrovskis, unterstreicht, dass Griechenland nicht nur zur Einhaltung seiner Verpflichtungen verpflichtet, sondern auch Mitgliedschaft des Landes in der Euro-Zone »unwiderruflich« sei. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik eines Euro-Landes sei nicht mehr nur eine interne Sache. Mit Blick auf eine mögliche Kurswende in Griechenland machte der EU-Vize klar, jedes Mitgliedsland müsse sich an seine in der Vergangenheit getroffenen Vereinbarungen halten und auf Reformkurs bleiben. Reformkurs heißt aber: Fortsetzung der Sparpolitik, was SYRIZA keinesfalls akzeptieren kann.

Deren Vorsitzender Alexis Tsipras hält nichts von einer Debatte über einen »Grexit«, also einen Euro-Austritt Griechenlands. Er wirft dem griechischen Regierungschef und der deutsche Bundesregierung vor, dieses Schreckgespenst zu nutzen, um die WählerInnen zu terrorisieren. Ohnehin gehe es nicht um einen Bruch mit Partnern, sondern um den »Bruch mit der Barbarei«. Gewinne seine Partei die Wahlen werde die humanitäre Krise in Griechenland beendet. »Diese Sparpolitik kann nicht weiterverfolgt werden. Das wissen sogar schon unsere EU-Partner.«

Die WählerInnen scheinen in einem Punkt in ihrer großen Mehrheit einig: Mehr als drei Viertel der Griechen sind dafür, ihr Land »um jeden Preis« in der Eurozone zu halten. Auf eine entsprechende Frage antworteten 75,7% der Befragten mit »ja« oder »eher ja«. Mit »nein« oder »eher nein« antworteten 22,3%.

Viele griechische BürgerInnen sind auf Notmaßnahmen angewiesen, dennoch reicht dieses Unterstützungssystem nicht aus. Unter der Krise leiden vor allem Arbeitslose, Selbstständige, Kranke und Kinder. In einem Unicef-Bericht ist Armut und soziale Ausgrenzung von 700.000 Kindern festgestellt worden. Die Hälfte davon lebe in Familien, in denen kein Erwachsener Arbeit habe, man könne und dürfe einer »humanitären Katastrophe solchen Ausmaßes« nicht allein mit Großzügigkeit und privater Solidarität begegnen.

Die Arbeitslosigkeit liegt in Griechenland bei 27%, bei Jugendlichen nahezu 60%. Die Erhöhung der Steuern hat zu einem drastischen Rückgang der Kaufkraft geführt. Und das derzeitige Insolvenzrecht erlaubt es verschuldeten BürgerInnen nicht, sich aus ihrer Not zu befreien.

Die Dämonisierung des Linksbündnisses ist nicht zu übersehen. Den politischen Klassen in der EU und in Deutschland geht es darum, die Fortsetzung der Austeritätskurs durchzusetzen – dabei können sie sich auch auf Teile der Bevölkerung in Deutschland stützen. SYRIZA wird massiv angegriffen, weil das Parteienbündnis eine Abkehr von der bisherigen Sparpolitik fordert, die das griechische Volk in eine noch nie da gewesene Tragödie geführt habe.

Mit einem Sofortprogramm will sich das Linksbündnis gegen die »humanitäre Krise« stemmen. Dies sieht laut Alexis Tsipras in erster Linie steuerpolitische Gerechtigkeit vor, die dadurch erreicht werden soll, dass die »finanzielle Oligarchie«, die bislang unberührt blieb, »endlich zahlen« müsse. Darüber hinaus bedarf es – so Tsipras weiter – eines Konjunkturprogramms, mit dem die Arbeitslosigkeit bekämpft und die Wirtschaft wieder in Schwung gebracht werden kann.

SYRIZA schlägt Neuverhandlungen der Troika-Auflagen vor. Hauptziel ist die Ermöglichung eines Programms zur Bekämpfung der humanitären Krise im Land: Versorgung der ärmsten Familien mit Elektrizität, Nahrungsmittelsubventionen, verbilligter Wohnraum zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit und eine Senkung der Besteuerung von Heizöl auf Vorkrisen-Niveau. Dieses Programm würde jährlich 1,8 Mrd. Euro kosten. Angesichts der 40 Mrd. Euro, die Deutschland im Falle eines »Grexit« verlieren könnte, wäre es nicht nur zynisch und unmenschlich, sich diesem Verhandlungsansatz zu verweigern. Es wäre auch ökonomisch vollkommen unsinnig.

Eine von SYRIZA geführte Regierung würde – so programmatische Äußerungen des Linksbündnisses – nach solchen Sofortmaßnahmen zur Linderung der humanitären Krise umgehend ein »nicht verhandelbares« soziales Investitionsprogramm auf den Weg bringen. Ein solches »mittelfristiges« Programm soll rund 11,5 Mrd. Euro kosten und aus inländischen Mitteln finanziert werden, etwa durch Verbesserung der Steuererhebung, und keine zusätzliche Kreditaufnahme erfordern.

SYRIZA glaubt, diese Ziele ohne weitere Kredite erreichen zu können, weil Griechenland nicht einen so hohen Primärüberschuss erwirtschaften müsse. Zudem würden höhere Sozialausgaben und eine Restrukturierung privater Kredite, finanziert aus ursprünglich für Banken vorgesehene Rettungskredite, die Verbrauchernachfrage und das Wachstum ankurbeln. Das deutsche Finanzministerium hat diese Überlegungen kritisiert. Die Wahlziele von SYRIZA würden 17,2 Mrd. Euro kosten und eine sofortige Haushaltskrise auslösen, das Haushaltsdefizit auf 9% vom BIP ansteigen. Mit dieser durchsichtigen Schreckensvision stellt sich der deutsche Finanzminister auf die Seite der griechischen Oligarchie.

SYRIZA plädiert dagegen für einen Bruch mit diesem wirtschaftlichen und politischen System: Im Falle eines Wahlsieges soll der Einfluss der Oligarchen, die im Bündnis mit korrupten Politikern Teile der Wirtschaft kontrollieren, beschnitten werden. Alexis Tsipras erklärte gegenüber Huffingtonpost: »SYRIZA ist kein Ungeheuer und keine große Bedrohung für Europa, sondern die Stimme der Vernunft. Es ist der Weckruf, der Europa aus seiner Lethargie und seinem Schlaf reißen wird. Deshalb wird SYRIZA nicht länger als eine Bedrohung wahrgenommen wie noch 2012, sondern als eine Aufforderung zum Wandel.

Von allen? Nicht von allen. Eine kleine Minderheit, versammelt um die konservative Führung der deutschen Regierung und ein Teil der populistischen Presse besteht darauf, die Ammenmärchen und Geschichten vom Austritt Griechenlands weiterzuerzählen… Herr Samaras bietet kein anderes Programm außer die gescheiterte Sparpolitik fortzuführen. Er hat sich und andere zu neuen Lohn- und Rentenkürzungen und Steuererhöhungen verpflichtet, alles im Rahmen von Einkommenskürzungen und übertriebenen Besteuerung, die es nun seit sechs langen Jahren gibt…

Unser Ziel ist es, mit durchschlagenden Reformen im modus operando des Staates und des öffentlichen Sektors nicht ins Jahr 2009 zurückzukehren, sondern alles zu verändern, was dieses Land an den Rand einer wirtschaftlichen und moralischen Pleite geführt hat. Klientelwirtschaft, ein Staat, der seinen Bürgern gegenüber feindliche eingestellt ist, Steuerumgehung und Steuerflucht, Schwarzgeld, Treibstoff- und Tabak-Schmuggel – das sind nur einige Aspekte des Machtgefüges, das unser Land viele Jahre lang beherrscht hat.«

Diesen Argumenten kann sich selbst der SPIEGEL nicht entziehen: »Die Kampfansage an die Oligarchen dürfte aber sowohl bei der griechischen Bevölkerung als auch bei den EU-Partnern gut ankommen. Die Superreichen stehen für Korruption und Steuerhinterziehung und werden für den Reformstau in Athen mit verantwortlich gemacht.«

Demgegenüber treffen Äußerungen aus der Union und SPD, die bei einem Wahlsieg des Linksbündnisses SYRIZA einen Euroaustritt des Landes an die Wand malen, offenbar bei der bundesdeutschen Bevölkerung auf Zustimmung. Im letzten ARD-Deutschlandtrend sind 61% der Befragten dafür, dass Griechenland die Euro-Zone verlassen müsse, wenn die mit den internationalen Geldgebern verabredeten Spardiktate nicht eingehalten würden. Ein Schuldenerlass für Griechenland kommt nur für 28% in Betracht, 68% lehnen das ab.

Was aber würde mit dem riesigen Schuldenberg passieren, der auf Griechenland lastet? Das sei kein griechisches Problem, stellt Alexis Tsipras dar, sondern ein europäisches und brauche daher eine nachhaltige europäische Lösung. Im Rahmen einer europäischen Vereinbarung müsse der größte Teil des nominalen Werts der öffentlichen Schulden abgeschrieben werden. Darüber hinaus fordere seine Partei ebenso wie die europäische Linke ein Moratorium für die Rückzahlung und eine Wachstumsklausel, auf deren Basis die verbleibenden Schulden sinnvoll getilgt werden könnten.

Nach den Wahlen am 25. Januar werde eine von SYRIZA geführte Regierung über eine Lösung innerhalb der Währungsunion verhandeln – mit dem Ziel, eine Lockerung der Troika-Programme und einen Teil-Schuldenerlass zu erreichen. Die deutsche Bundesregierung wäre sehr schlecht beraten, auf stur zu schalten, solche Verhandlungen zu verweigern und einen »Grexit« zu forcieren.

Denn ein Ausstieg aus der Währungsunion würde fast automatisch zu einem erheblichen Zahlungsausfall führen, die alle Gläubiger Griechenlands betreffen werden. Im Jahr 2010 hielt der Privatsektor noch rund 94% aller Forderungen an Griechenland. Heute reagieren die Banken ziemlich entspannt auf die Grexit-Debatte. Warum? Weil ihr Anteil an den Forderungen mittlerweile auf rund 11% geschrumpft ist. Ein Zahlungsausfall träfe sie heute nur noch in einem sehr bescheidenen Umfang von insgesamt maximal 35 Mrd. Euro.

Im Jahr 2010 beliefen sich die griechischen Staatsschulden auf 320 Mrd. Euro. Seither wurden dem Land bilateral, sowie über die »Rettungsfonds« EFSF und ESM so genannte Hilfskredite in Höhe von insgesamt 237 Mrd. Euro gewährt. Auflage war dabei stets, dass der Schuldendienst bei der Mittelverwendung höchste Priorität haben muss. Dies führte dazu, dass die Gelder zu über 90% direkt an die damaligen Gläubiger – also die Banken – weitergegeben wurden.

Griechenland hat sich also bei der EFSF und beim ESM verschuldet, um die Forderungen der Banken zu bedienen. Die Gesamtverschuldung des Landes hat sich nur geringfügig verändert. Verändert hat sich stattdessen die Gläubigerstruktur. Der Anteil öffentlicher Gläubiger ist von 6% auf 88% gestiegen. Heute liegen 228 Mrd. Euro Forderungen an Griechenland in öffentlicher Hand.

Deutschland trägt aufgrund seiner Bürgschaften bei den »Rettungsfonds«, seiner Anteile im EZB-System und seiner bilateralen Kredite den größten Teil dieser Schulden. Allein die EFSF/ESM-Bürgschaften Deutschlands belaufen sich auf 56 Mrd. Euro. Insgesamt stehen bei einem Zahlungsausfall für den Bundeshaushalt bis zu 80 Mrd. Euro auf dem Spiel.

Für den Vorsitzenden des Linksbündnisses SYRIZA geht es bei der Wahl um folgendes: »Heute können wir zwei gegensätzliche Strategien für Europas Zukunft unterscheiden. Auf der einen Seite haben wir die Sicht, die von Herrn Schäuble angeführt wird: Die Gesetze und Prinzipen, auf die man sich geeinigt hat, werden weiter durchgesetzt, egal ob sie funktionieren.

Auf der anderen Seite ist die Strategie: ›was immer nötig ist‹, um den Euro zu retten – dieser Satz wurde zuerst vom Chef der EZB gesagt. In Wirklichkeit sind die bevorstehenden griechischen Wahlen eine Mischung dieser beiden unterschiedlichen Strategien.«

Es geht bei der Wahl darum, die »humanitäre Krise« zu beenden. Und das ist nichts weniger als die Wiedererlangung einer Lebens- und Zukunftsperspektive für die Menschen in Griechenland. Da sind Augenmaß und Realitätssinn gefragt.

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