31. Oktober 2013 Bernhard Müller: Stagnierende Beschäftigung und wachsende Armut

Herbstbelebung am Arbeitsmarkt fällt aus

Im September stieg die Zahl der Erwerbstätigen erstmals seit der Wiedervereinigung auf über 42 Mio. Zugleich gab es im Oktober 2,801 Mio. Arbeitslose, 48.000 weniger als im Monat zuvor. »Die Beschäftigung wächst in fast allen Bundesländern und in fast allen Branchen«, strahlt der Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) Frank Weise.

Aber im Vergleich zum Oktober des Vorjahres ist die Arbeitslosigkeit doch leicht angestiegen. Womit haben die Bundesbürger also zu rechnen? Wird die Politik –sprich die große Koalition – die gute Ausgangsbasis für weitere Reformen nutzen?

Unbestreitbar das Faktum: Im September 2013 waren insgesamt 42,1 Millionen Personen mit Wohnort in Deutschland erwerbstätig. Allerdings hat die Dynamik beim Aufbau neuer Arbeitsplätze deutlich nachgelassen. So erhöhte sich die Zahl der Erwerbstätigen im September gegenüber dem Vormonat August nur mehr um 201.000 oder um 0,5%. Rechnerisch bereinigt von jahreszeitlich bedingten Schwankungen erhöhte sich die Zahl der Erwerbstätigen um lediglich 2.000 Personen.

Schlussfolgerung aller Experten: Die konjunkturelle Dynamik ist schwach. So rechnet etwa das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung für das dritte Quartal nur mit einem Wachstum von 0,2%. Zwar hat das »verarbeitende Gewerbe etwas Fahrt aufgenommen«. Doch man kann weiterhin nur mit geringen Zuwächsen rechnen, weil »die Ausgangslage mager und die Stimmung in der Wirtschaft gedämpft« sind. Allerdings hoffen die Konjunkturforscher auf einen Schub, da sich in den USA und im Euro-Raum ein Ende der Rezession andeutet.

Die Herbstbelebung sei diesmal schwächer als üblich ausgefallen, muss deshalb auch BA-Chef Frank-Jürgen Weise konstatieren. Daher habe es nur einen moderaten Rückgang gegeben. Die Arbeitslosenquote sank im Monatsvergleich von 6,6 auf 6,5%. Weise sieht derzeit keine Dynamik am deutschen Arbeitsmarkt. Beschäftigte hätten zwar ein geringes Risiko, ihre Arbeit zu verlieren. Doch »gleichzeitig sind die Vermittlungschancen für Arbeitslose geringer geworden«, sagte der BA-Chef. Ein stabiler Arbeitsmarkt sei zwar gut. »Aber ein dynamischer Arbeitsmarkt muss unser Ziel sein.«

Saisonbereinigt stieg die Arbeitslosenzahl sogar um 2.000 auf 2,973 Mio. Dieser Trend dürfte vorerst weitergehen. So hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) vor kurzem prognostiziert, dass es bis zum Jahresanfang 2014 nur wenig Bewegung auf dem deutschen Arbeitsmarkt geben werde. Nach Abzug von Saisoneinflüssen werde die Arbeitslosigkeit sogar leicht steigen.

Die Stagnation am Arbeitsmarkt ist gegenwärtig eine dominierende Entwicklungstendenz. Eine andere Tendenz ist, dass trotz eines relativ hohen Beschäftigungsstands die Armut in der Berliner Republik stetig wächst. So war nach den jetzt veröffentlichten Ergebnissen der Erhebung LEBEN in EUROPA im Jahr 2011 fast jede sechste Person – das entsprach 16,1% der Bevölkerung oder rund 13 Mio. Menschen – in Deutschland armutsgefährdet.

BürgerInnen gelten nach der EU-Definition für EU als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügen (Schwellenwert für Armutsgefährdung). 2011 lag der Schwellenwert für eine allein lebende Person in Deutschland bei 980 Euro im Monat (11.757 Euro im Jahr), für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.058 Euro im Monat (24.690 Euro im Jahr). Staatliche Sozialleistungen sind in den Einkommen bereits enthalten, Steuern und Sozialabgaben sind abgezogen. Referenzzeitraum für den Bezug der Einkommen ist bei LEBEN IN EUROPA (EU-SILC) das der Erhebung vorangegangene Kalenderjahr (hier: 2011).

 

Die Untergliederung nach Haushaltstypen zeigt, dass weit mehr als ein Drittel (38,8%) der Personen, die in Haushalten von Alleinerziehenden lebten, im Jahr 2011 armutsgefährdet waren. Diese soziale Gruppe wies damit unter allen Haushaltstypen das höchste Armutsrisiko auf. Stark betroffen war mit insgesamt 32,4% aber auch fast jede dritte allein lebende Person. Dagegen war das Armutsrisiko von Personen in Haushalten von zwei Erwachsenen mit Kindern deutlich niedriger: Beispielsweise lagen die Quoten für zwei Erwachsene mit einem Kind bei 10,6% und mit zwei Kindern bei 7,7%.

Differenziert nach dem überwiegenden Erwerbsstatus im Einkommensjahr 2011 zeigen die Ergebnisse aus LEBEN IN EUROPA (EU-SILC) 2012, dass mit 69,3 % weit mehr als zwei Drittel der Menschen armutsgefährdet waren, die in Haushalten von überwiegend Arbeitslosen lebten. Personen in Haushalten von überwiegend Erwerbstätigen waren dagegen nur zu 7,8% betroffen. Bei der Bevölkerung in Haushalten, deren Einkommen überwiegend aus Renten oder Pensionen bestand, lag die Armutsgefährdungsquote mit 15,1% etwas unter dem Bundesdurchschnitt.

Armuts- und Wirtschaftsentwicklung haben sich offensichtlich voneinander gelöst:[1] Ging im Jahr 2006 ein signifikantes Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 4% noch mit einem Rückgang der Armutsgefährdungsquote von immerhin 0,7% einher, so kann 2011 überhaupt kein positiver Zusammenhang mehr zwischen Wirtschafts- und Armutsentwicklung festgestellt werden. Ganz im Gegenteil: Obwohl das BIP um 3,9% wuchs, stieg auch die Armut um 4,1%. Damit hat sich die soziale Spaltung in den kapitalistischen Gesellschaften verstärkt. Im Klartext heißt das: Die Beschäftigung ist gut, aber nicht mehr alle BürgerInnen können von dem Einkommen auch armutsfrei leben.

Die Armut wächst seit 2006, obwohl die SGB-II Quote leicht zurückgegangen ist. Dies ist ein unübersehbarer Hinweis auf Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang zwischen Armuts- und Arbeitsmarktentwicklung, wenn man die Entwicklung der Arbeitslosenquote im Berichtszeitraum betrachtet: Die guten statistischen Erfolge in der Arbeitsmarktpolitik werden mit einer »Amerikanisierung« des Arbeitsmarktes, dem Phänomen der »working poor«, erkauft.

Dieser Zusammenhang von Wirtschafts- und Armutsentwicklung lässt sich auch für andere europäische Länder nachweisen, in denen noch eine relativ stabile Arbeitsmarktsituation gegeben ist – vor allem in den skandinavischen Ländern. Ganz anders die Situation in den europäischen Krisenländern Griechenland, Spanien etc., wo in denen dramatische wirtschaftlichen Einbruch seit 2008ff. und die massiv steigende Arbeitslosigkeit den Anteil der von Armut betroffenen Teile der Bevölkerung deutlich haben ansteigen lassen. So waren in 2011 (Erhebungsjahr 2012 – abgefragt werden die Einkommensverhältnisse des Vorjahres, also von 2011) in Griechenland 23,1% und in Spanien 22,2% der Bevölkerung »armutsgefährdet«. Dieser Anteil hat sich in 2012 und 2013 vor allem auch in Folge der zusammengestrichenen Sozialprogramme noch einmal deutlich erhöht.

Bei dem innereuropäischen Vergleich der Armutsgefährdungsquoten muss zudem berücksichtigt werden, dass die Bezugsgrößen jeweils national bestimmt sind. Unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt, wer 60% oder weniger des jeweiligen nationalen mittleren Einkommens bezieht. In Deutschland lag diese Schwelle 2011 für eine alleinstehende Person bei 11.398 Euro im Jahr, in Spanien dagegen bei 7.392 Euro. Bemerkenswert ist nun, dass diese Schwelle etwa in Spanien seit 2007 von 8.161 Euro auf nunmehr 7.392 Euro (in Griechenland 7.521 Euro auf 5.969 Euro) gesunken ist, weil die mittleren Einkommen infolge drastischer Lohn- und Sozialeinkommenskürzungen und massiv steigender Arbeitslosigkeit z.T. um 30% und mehr zurückgegangen sind. Die »Erosion der gesellschaftlichen Mitte«, über deren Existenz hierzulande noch gestritten wird, ist in diesen Ländern schon weit fortgeschritten – mit den entsprechenden Folgen im und für das politische System.


Für Deutschland wäre mit der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, wie er jetzt in den Verhandlungen zur Bildung einer großen Koalition zur Diskussion steht, ein wichtiger Schritt in Richtung Einhegung der Prekarisierung der Lohnarbeit getan. Um die Entkoppelung von Wirtschafts- und Armutsentwicklung zu stoppen wären allerdings weitere Schritte notwendig, etwa die Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen sowie eine deutliche Anhebung des Mindestniveaus in der sozialen Sicherung. Dies ist allerdings nur finanzierbar über entsprechende Eingriffe in die Verteilungsverhältnisse, die von einer großen Koalition (Schwarz-Rot) nicht zu erwarten sind.

Um die ökonomisch-sozialen Zersetzungsprozesse vor allem in den europäischen Krisenländern zu stoppen, müsste deren nationalen Reproduktionsprozesse über ein massives gesamteuropäisches Investitionsprogramm (Marshall-Plan) stabilisiert und die ökonomisch kontraproduktiven Austeritätsprogramme beendet werden. Das aber wird ganz sicher nicht die Handlungsperspektive einer schwarz-roten Bundesregierung sein. Die politische Konstellation ist nicht dramatisch, aber mit einer bloßen Verwaltung wird die neue Bundesregierung nur schlecht über die Runden kommen.

[1] Die Ergebnisse von LEBEN IN EUROPA bestätigen die Entwicklungstrends, die das Statistische Bundesamt auf Basis der Mikrozensus (Armutsgefährdungsquote 2012: 15,2%) wie auch die Bundesagentur für Arbeit auf Basis der Beschäftigungsstatistik ausweisen.

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