12. November 2011 Joachim Bischoff/Richard Detje: Die Machtergreifung der »Fachleute«

Italien & Griechenland vor der »Nationalen Rettung«?

Das Ende der Ära Berlusconi war lange herbeigesehnt worden. Zwei Jahrzehnte bestimmte dieser Mann die italienische Politik, drei Mal als Ministerpräsident. Mit einem Zangengriff der Finanzmärkte und der europäischen Nachbarstaaten wurde erledigt, was über Jahre in den komplexen italienischen Machtstrukturen nicht gelang: Das Ende eines Regimes.

Dieses herrschte mehr autoritär als demokratisch mit Gesetzen und Dekreten, die auf klientelistischen Vorteil bedacht waren, mit einer Mehrheitsfraktion, die nach dem Zusammenbruch des alten Parteiensystems als Antipartei medialen Zuschnitts entstanden war, und mit Repräsentanten, die zuhauf der Steuerhinterziehung, Bilanzfälschung, Bestechung, Korruption und des Meineids überführt bzw. beschuldigt sind. Weshalb sich die politische Exekutive auch immer wieder der Judikative als »kommunistisch gesteuert« zu entledigen versuchte. Da müsste eigentlich Freude aufkommen – tut es aber nicht.

Stattdessen drängt sich die Frage auf: Wiederholt sich die Tragödie in der Geschichte? Auch wenn es nur für eine Interimszeit bis zu Neuwahlen Übergangsregierungen geben soll, lautet die Botschaft: Fachleute stehen nunmehr an der Spitze des Landes, abgewirtschaftete Parteien rücken ins zweite Glied.

Das hört sich nach den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland an, ist aber Gegenwart in Italien und Griechenland. Selbst das Regieren ohne Parlament ist Realität: Was früher Präsidialverordnungen waren, sind heute Troika-Reports mit klaren Regieanweisungen. Und um die »Ironie« der Geschichte noch weiter zu treiben: Mario Monti als Ex-EU-Wettbewerbskommissar und Lukas Papademos als Ex-EZB-Vizepräsident[1] werden gerühmt als Vertreter jener europäischen Institutionen, die den Ländern harte Austeritätspolitik auferlegen.

Dass ihre frühere Tätigkeit heute als Ausweis großer Kompetenz gilt, ist nicht nur deshalb mit einem Fragezeichen zu versehen, weil beide ihre Aufgabe darin sehen, eine falsche – und in Griechenland offenkundig gescheiterte – Politik mit größerer Entschlossenheit und Stringenz umzusetzen.[2] Sie waren in der EU-Kommission und in der EZB auch maßgeblich verantwortlich für die Ausgestaltung einer Währungsunion, von der man heute weiß, dass sie auf falschen Fundamenten erbaut wurde. Eine monetäre Integration ohne vorangegangene realwirtschaftliche Angleichung musste zu dem führen, was heute das Kernproblem Europas ist: massive Ungleichgewichte zwischen starken Exportnationen und einer hochverschuldeten Peripherie. Der Euro hat diese Ungleichgewichte noch verstärkt.

Griechenland: kein Cent für zukunftsorientierte Strukturpolitik

In Griechenland ist die Zerstörung demokratischer Willensbildung weit fortgeschritten und weist über die Phase vermeintlich politisch neutraler Expertenregierungen hinaus. Von einem Referendum über die geplante jahrzehntelange Rosskur – so wird der gigantische Umverteilungsprozess genannt, mit dem durch Absenkung des Lebensstandards der Bevölkerungsmehrheit der Wertverlust von akkumulierten Eigentums- und Schuldtiteln ausgeglichen werden soll – ist keine Rede mehr.

Nach tagelangem Ringen über das Übergangskabinett reibt man sich die Augen: der »Regierung der nationalen Rettung« gehören auch ausgewiesene Vertreter der extremen Rechten an. Die rechtsextreme Partei LAOS wird in dem Kabinett mit einem Minister und drei Vizeministern vertreten sein. Nach der veröffentlichten Kabinettsliste bleibt der Sozialdemokrat Evangelos Venizelos Finanzminister und Vizepremier. Der ehemalige EU-Umweltkommissar Stavros Dimas von den Konservativen wird neuer Außenminister. Sein Parteifreund Dimitris Avramopoulos übernimmt das Verteidigungsressort. Ihm zur Seite stehen wird ein von den Rechtsextremisten gestellter Vizeminister.

Hauptvertreter von LAOS in der Regierung ist Makis Voridis, der das Ministerium für Infrastruktur und Verkehr leitet. Er war Gründer der Jugendorganisation der faschistischen Militärjunta und Vorsitzender der 2005 aufgelösten rechtsextremen Jugendorganisation »Hellenische Front«, die durch Hetzjagden auf MigrantInnen in der Athener Innenstadt politische Aufmerksamkeit gewann. International profilierte sich der Politiker durch gemeinsame öffentliche Auftritte mit dem rechtsextremen französischen Front National und dem belgischen Vlaams Block. Voridis’ Parteifreund Adonis Georgiadis, der auch als Mitherausgeber eines antisemitischen Pamphlets aufgefallen ist, wird Staatssekretär für Entwicklung und die Handelsmarine.

Über Griechenland sagt Paul Krugman, dass das Land »fundamental insolvent« ist. Das scheint die EU-Kommission ähnlich zu sehen: In ihrer Herbstprognose beziffert sie den Anstieg der Gesamtverschuldung (am BIP) von 143% (2010) auf 198,8% im kommenden Jahr. Die Organisation des Schuldenschnitts ist die vordringliche Aufgabe der Übergangsregierung. Doch dass die Verschuldung weiter gestiegen ist, liegt nicht an der Haushaltspolitik der alten Regierung – das Defizit ist von 15,4% in 2009 auf rd. 9% gedrückt worden –, sondern daran, dass das BIP einbricht, die Einkommen gekürzt werden (15% bei den Löhnen im öffentlichen Dienst, 30% bei den öffentlichen Unternehmen) und die Arbeitslosigkeit rasant ansteigt (von 16,5% im Juli auf 18,4% im August). Deshalb wird heute bereits systemimmanent kalkuliert, ob der Schuldenschnitt statt bei 50% nicht eher bei 70% liegen müsste, um den Würgegriff der Austeritätspolitik zu lockern.

Mit der Schuldenkrise und der vermeintlich »nationalen Rettung« wird ganz offenkundig, was und wer in der Vergangenheit über seine Verhältnisse gelebt haben soll. Die Nominallöhne sanken 2010 um 4,5% und 2011 um geschätzte 4,5-5%.[3] Die Nationalbank von Griechenland schätzt, dass damit erst rund 40% des zwischen 2001 und 2009 kumulierten Unterschieds zwischen dem Lohnwachstum in Griechenland und jenem in der Euro-Zone kompensiert werden. Mit der inneren Abwertung, zu der Griechenland gemäß den Vorgaben des IWF und der EU verpflichtet wurde, ist ein Anfang gemacht, was auf eine »Verbesserung« der Wettbewerbsfähigkeit hinausläuft. Nach dem auf wenigstens ein Jahrzehnt angelegten Sanierungsprozess würde am Ende eine massive Absenkung des Lebensstandards für die breite Bevölkerungsmehrheit herauskommen.

Zu dem Bild der »nationalen Rettung« passt eine überschlägige Aufschlüsselung, was aus den nach Athen überwiesenen Finanzmitteln wird: Rund vier Fünftel der Hilfe müssen für Zins- und Tilgungszahlungen verwendet werden, während nur knapp ein Fünftel zur Finanzierung des laufenden Haushalts übrig bleibt. Weit über die Hälfte der Tranche fließt dabei zurück ins Ausland, wobei auch jene 23%, die griechischen Finanzhäusern zugeschlagen werden, wieder zum großen Teil bei der EZB landen, weil Griechenlands Banken das Geld für die Refinanzierung bei der Notenbank verwenden müssen. Für eine zukunftsorientierte Strukturpolitik, damit Griechenland die Erpressung durch die Finanzmärkte wenigstens tendenziell abschütteln könnte, ist im laufenden »Rettungspaket« kein Euro vorgesehen. Die Aufschlüsselung verdeutlicht, weshalb der politische Druck aus der Euro-Zone besonders hoch ist: Längst kommt die von den Steuerzahlern der Geberländer finanzierte Hilfe größtenteils den Finanzhäusern dieser Geberländer zugute.

Italien: Verminderung von Lebensstandard und Leistungsfähigkeit

Mit Italien steht die Frage im Raum, ob der »worst case« bereits eingetreten ist, ob aus der Ansteckungsgefahr Realität geworden ist. Die kann man nach verschiedenen Seiten beleuchten. Geht es nach der Fähigkeit zur Kreditaufnahme, hängt alles davon ab, in welchem Umfang die EZB italienische Staatsanleihen kauft und der erweiterte EFSF-Rettungsschirm »präventiv« mit Krediten einspringt – um die Renditen auf den Kapitalmärkten nach unten zu drücken. Dass die Renditen auf den Kapitalmärkten dennoch zwischen 6-7% pendeln, macht deutlich, dass Italien ohne diese Interventionen selbständig zur Finanzierung seiner Schuld nicht mehr in der Lage ist.[4]

Das war im vergangenen Jahrzehnt anders und Italien in der Lage, auch höhere Zinsen zu zahlen. Dies verweist auf einen anderen Punkt: Damals (1997) wartete das Land mit guten Wachstumsraten (4,5%) auf, während 2011 Stillstand und 2012 möglicherweise Rückgang angesagt ist (EU-Herbstprognose: 0,5% und 0,1%).[5] Dabei droht eine Verschuldungs- und Bankenkrise auf die Realwirtschaft überzugreifen: Eine Kreditklemme ist in Teilbereichen bereits heute Realität.

Und Realität ist in Zeiten der Wirtschaftsschwäche – einer Rezession allemal –, dass die entwickelte industrielle Basis des Landes unter einer Ansteckungsgefahr nichtfinanzieller Art leidet: Während nämlich die deutsche Exportindustrie von der expandierenden Nachfrage der lateinamerikanischen und vor allem der asiatischen Märkte profitiert(e), sind italienische Exportunternehmen sehr viel stärker auf den stagnierenden europäischen Markt fokussiert – und leiden dementsprechend unter Ansteckung via europäischer Austerität.

Auch in Italien geht die »nationale Rettung« in die bekannte Richtung. Nach Angaben der italienischen Zentralbank erhöht ein Anstieg der Kreditkosten auf den Finanzmärkten um 1 Prozentpunkt die Zinskosten in drei Jahren um 0,2% bis 0,5% des Bruttoinlandprodukts pro Jahr. Bis Jahresende muss Italien noch geschätzt 37 Mrd. Euro umschulden; 2012 werden es rund 307 Mrd. Euro sein. Als kritischer Zinssatz für zehnjährige Anleihen gilt ein Wert von 5,5%. Liegen die Zinskosten neuer Bonds (die sich an der Marktrendite orientieren) darüber, wächst der Schuldenstand schneller als die aktuelle Wirtschaftsleistung. Logischerweise bleibt bei einer harten Austeritätspolitik die Wirtschaftsleistung nicht gleich, was in der Konsequenz zum Anstieg der Lasten führt.

Auch hier müsste die Konsequenz lauten: Wie kann ein Mix aus Wirtschaftsförderung und Konsolidierung so gestaltet werden, dass in den kommenden Jahren Wachstumseinbussen bei der ohnehin schon stagnierenden Wirtschaft Italiens vermieden werden? Aber auch hier ist im »Rettungspaket« kein Euro für eine Struktur- und Konjunkturpolitik vorgesehen. Die EZB verordnet in bekannter Übereinstimmung mit der EU-Führung und dem IWF, die staatliche Neuverschuldung schneller als geplant zu reduzieren. Dies zielt auf den Abbau des Finanzierungsdefizits durch Reduktion der Staatsausgaben.

Und erneut dient das griechische Sanierungskonzept als Vorbild: Die Abschaffung der Anciennität-Renten, die eine frühe Pensionierung erlauben, wird gefordert sowie eine Reduktion der Lohnkosten bei den Staatsangestellten. Eine Verbesserung des Steuervollzugs, die Bekämpfung der Kapitalflucht und eine stärkere Beteiligung der Vermögen bleiben marginal. Ferner forderte die Troika von Italien tiefgreifende Liberalisierungen am Arbeitsmarkt, vor allem im Dienstleistungssektor; als reformbedürftig wurden vor allem der bestehende Kündigungsschutz und das bisherige System der Tarifverhandlungen ausgemacht. Auch hier also ein Programm zur Verminderung von Lebensstandard und Abschwächung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit.

Die größte Herausforderung kommt im Jahr 2012 – dann sind italienische Staatsanleihen in Höhe von 303,9 Mrd. Euro fällig (2011: 37,3 Mrd.) – Italien ist nach den USA und Japan der größte Anleiheschuldner der Welt. »Spannend« wird es, wenn in den ersten vier Monaten 2012 allein 156 Mrd. Euro rekapitalisiert werden müssen – in einer Zeit, in der der Wahlkampf tobt und eine neue Regierung gebildet werden soll. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich den Druck der Finanzmärkte und der Troika vorzustellen. Bleibt das Zinsniveau tendenziell hoch – also um die 6% – und sackt die Wirtschaftsleistung deutlich ab, besteht die Gefahr, dass sich Marktrendite und Zinskosten gegenseitig aufschaukeln. Diese Dynamik und der Druck der Finanzmärkte sind nur schwer zu durchbrechen, wie die Beispiele Griechenlands, Irlands und Portugals belegen. Politisch ist von den etablierten Kräften kein Ausbruch aus dieser Dynamik zu erwarten.

[1] Papademos war zudem von 1994-2002 Gouverneur der griechischen Nationalbank, also auch zu jener Zeit, als Griechenland mit »kreativer Buchhaltung« in den Euro-Club aufgenommen wurde.
[2] Insbesondere Monti wird die Aufgabe haben, die Austeritätspolitik zu verstärken: frühere Einführung der Rente mit 67, stärkere Verpflichtung der Kommunen zu Haushaltskürzungen, beschleunigte Privatisierung u.a. des öffentlichen Immobilienbesitzes, weitere Einschränkungen des Kündigungsrechts und – was ebenfalls in einigen Branchen bereits eingeleitet wurde – teilweise Aufhebung des Mindestlohns.
[3] Die Financial Times hat einen so genannten Financial Pain Index – einen finanziellen Schmerz-Index – errechnet. Danach belaufen sich die Belastungen eines durchschnittlichen griechischen Haushalts durch Einkommenskürzungen und Steuererhöhungen im Jahr 2011 auf 13,7% - weit mehr als in Irland (6,7%) und Spanien (4,8%). Siehe SVR-Jahresgutachten 2011/2012, S. 89.
[4] Im Herbstgutachten des deutschen Sachverständigenrates heißt es: »Es wird sich zeigen müssen, ob die ›Maximierung‹ des EFSF die Märkte gleichwohl so stabilisieren kann, dass sich Spanien und Italien zu akzeptablen Konditionen refinanzieren können. Bei einer ungünstigeren Entwicklung würde die Strategie einer zunehmenden Ausweitung der EFSF an Grenzen stoßen. Es drohte dann entweder ein unkontrolliertes Auseinanderfallen der Währungsunion oder ein ordnungspolitisch höchst bedenklicher unbegrenzter Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB.« (SVR-Jahresgutachten 2011/12, S. 77)
[5] EU-Währungskommissar Olli Rehn: »Das Wachstum in Europa ist zum Stillstand gekommen, und es besteht das Risiko einer erneuten Rezession«. Schlusslicht in der aktuellen EU-Prognose für 2012 ist Portugal mit -3%, gefolgt von Griechenland mit -2,8%

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