3. April 2011 Joachim Bischoff:

Japans Katastrophe und die Folgen

Die Aussichten für die Globalökonomie haben sich mitten im Erholungsprozess von der »Großen Krise« deutlich eingetrübt. Eine der Ursachen ist das Inferno in Japan und in dessen Folge die Reaktorkatastrophe in Fukushima. Die wichtigsten Gründe der instabiler gewordenen Gesamtlage:

  • Im Euro-Raum ist die Wirtschafts- Banken und Währungskrise nicht ausgestanden. Die Wettbewerbsfähigkeit der im Währungsraum zusammengeschlossenen Länder driftet auch infolge der Austeritätsprogramme immer stärker auseinander. Während in Deutschland die Akkumulation durch eine starke Dynamik geprägt ist, zeichnen sich für Griechenland, Portugal, Irland und Spanien rezessive Tendenzen ab. Auch in Großbritannien ist es aufgrund der massiven Kürzungsoperation der Regierung Cameron zu einer deutlichen Abschwächung des wirtschaftlichen Aufwärtsprozesses gekommen.
  • Die in den letzten Monaten explodierenden Lebensmittelpreise haben vor allem im Nahen Osten zu massiven Protesten und Unruhen beigetragen, die selbst wiederum auf die Globalökonomie zurückwirken.
  • Auch der kräftige Anstieg des Rohölpreises belastet die weltwirtschaftliche Erholung. Entscheidend für den Ölpreis in naher Zukunft wird sein, ob die politischen Unruhen in Nahost auf Saudi Arabien und andere wichtige Erdöllieferanten übergreifen oder nicht.
  • Das Erdbeben und der nachfolgende Tsunami in Japan mit den katastrophalen Auswirkungen auf das Atomkraftwerk in Fukushima haben nicht nur die BürgerInnen in Japan, sondern auch für die Globalökonomie Konsequenzen. Entscheidend für die konkreten Perspektiven Japans ist der weitere Verlauf des außer Kontrolle geratenen Atomkraftwerks.

Die japanische Wirtschaft war im Durchschnitt des Jahres 2009 um 5% eingebrochen. Zugleich hatte sich die kapitalistische Metropole mit 675 Mrd. Euro eines der großzügigsten konjunkturellen Anreizprogramme geleistet. Doch trotz besserer Wachstumszahlen in den letzten Quartalen, verlangte die wirtschaftliche Elite eine Fortsetzung der Konjunkturausgaben, um den Aufschwung zu sichern.

Alle Versuche, die Konjunktur mit staatlichen Geldspritzen wieder flottzubekommen, hatten bisher nur dazu geführt, dass die Schulden auf immer neue Höchststände geklettert sind, so dass die internationalen Finanzmärkte inzwischen die Kreditwürdigkeit der drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt in Frage stellen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzte 2010, Japan werde in den kommenden Jahren das geringste Wirtschaftswachstum unter den G7-Staaten haben. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) würde zwischen 2011 und 2017 nur mit einer Rate von 0,9% wachsen, während die japanische Regierung ein Niveau von 2% pro Jahr anstrebte.

In dieser schwierigen Situation ereigneten sich das Erdbeben, der Tsunami und die nachfolgende Katastrophe der unkontrollierten Atommeiler. Japans letztes großes Erdbeben, das 1995 in Kobe über 6.400 Todesopfer forderte und 300.000 Personen um ihre Häuser brachte, kostete das Land über 100 Mrd. US-Dollar, rund 2,5 % des Bruttoinlandprodukts. Diesmal ist die Verwüstung noch größer. Dass in dieser Situation auch noch die Stromversorgung beeinträchtigt ist und eine Diskussion über den Ausstieg aus Atomenergie bevorsteht, spitzt die Lage zusätzlich zu.

Die japanische Regierung schätzt nach der Katastrophe den Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Leistung für 2011 auf 0,2% bis 0,5%. Nach Einschätzung der Weltbank wird sich der Schaden durch die Naturkatastrophe um 250 Mrd. US-Dollar bewegen. Das entspricht rund 4% der jährlichen Wirtschaftsleistung Japans. Umgerechnet 12 Mrd. US-Dollar stehen bereits im laufenden Haushalt zum Wiederaufbau zur Verfügung. Im Haushaltsjahr 2011, das am 1. April beginnt, wird ein großes Aufbauprogramm beginnen.

Nach Auffassung der Weltbank könnte sich Japans Wirtschaft im dritten und vierten Quartal 2011 wieder erholt haben, und die Wirtschaftsleistung nicht allzu lange unter der Katastrophe leiden werde. Zwar beeinflusse diese das Wachstum bis Mitte 2011 zwar negativ, in den folgenden Quartalen sollte es sich dann – auch wegen der Wiederaufbauanstrengungen – aber wieder steigern. Die Wiederaufbauprogramme werden einen erheblichen Wachstumsimpuls und eine Stützung der Konjunktur auslösen. Die japanische Regierung geht in Auswertung der Erdbebenschäden 1995 in der Region Kobe davon aus, dass in den nächsten drei Jahren rund 250 Mrd. US-Dollar für eine Rekonstruktion von Infrastruktur und Wohnungen aufgebracht werden müssten. Die Weltbank rechnet damit, dass der Wiederaufbau der zerstörten Regionen bis zu fünf Jahre dauern wird.

Vor allem für die Bauindustrie wird dies einen erheblichen Impuls mit den entsprechenden Folgewirkungen für Wirtschafts- und Einkommenskreisläufe auslösen. Dazu kommt eine Förderung des Ausbaus erneuerbarer Energien sowie Steuererleichterungen für die Menschen und Betriebe im Krisengebiet, was gleichfalls dazu führen wird, dass sich die Wirtschaft dann dynamischer entwickelt. Die Ratingagentur Moody's schätzt angesichts dieser Programme, dass Japan spätestens 2012 deutlich über dem Wachstumstrend der letzten Jahre liegen werde und geht von einem Wirtschaftswachstum für 2011 von 1% und 2012 dann von 2,3% aus.

Japan war mit einer Bevölkerung von knapp 128 Mio. Menschen in den vergangenen Jahrzehnten die dominierende Wirtschaft Asiens. Bis 2009 rangierte das Land hinter den USA weltweit auf Rang zwei in der Wirtschaftskraft. Im Krisenjahr 2009 erwirtschaftete es immer noch gut 8% des Welteinkommens. Erst 2010 verdrängte das rasch wachsende China den regionalen Konkurrenten in der Weltrangliste der größten Wirtschaftsmächte auf Rang drei, wobei beide Länder inzwischen sehr wichtige Handelspartner füreinander sind.

Dank der spektakulären wirtschaftlichen Entwicklung in der Nachkriegszeit verfügt Japan über einen bedeutenden Wohlstand, von dem es noch lange zehren kann. Das reale jährliche Wirtschaftswachstum betrug in den 1960er Jahren durchschnittlich 10%, in den 1970er Jahren 5% und in den 1980er Jahren noch 4%. Im darauffolgenden Jahrzehnt fiel das durchschnittliche Wachstum als Folge der geplatzten Immobilien- und Aktienmarkt-Blase auf 1,7%, und auch im neuen Jahrtausend gab es kaum Besserung. Gleichzeitig wuchs die Weltwirtschaft kräftig, so dass Japans Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung kontinuierlich gesunken ist. Betrug dieser 1990 noch mehr als 9%, dürfte er in der Zwischenzeit weniger als 6% betragen.

Abgesehen von einer moderaten Wachstumsphase in den Jahren 2002 bis 2007 hat Japans Wirtschaft seit den 1990er Jahren mit Stagnationstendenzen zu kämpfen, begleitet von einer wachstumshemmenden Deflationsentwicklung. Mehr noch als in Deutschland ist eine Überalterung der Gesellschaft und deren Folgen für den Sozialstaat ein Problem. Der Wirtschaft des Landes wird ein hoher Anpassungsdruck bescheinigt, es ist eher rohstoffarm und damit von externen Bezugsquellen abhängig. Mit Staatschulden von bald 200% des Bruttoinlandsprodukts gehört es zu den am höchsten verschuldeten Industriestaaten.

Japans Stellung ist auch im Handel bedeutend. Gemäss WTO-Statistiken hat das Land der aufgehenden Sonne 2009 Waren für 580 Mrd. US-Dollar (11,5% des BIP) exportiert. Seit der Jahrtausendwende sind die Exporte um jährlich 2% gewachsen. Mit einem Anteil an den Weltexporten von 4,65% ist Japan der viertgrößte Exporteur weltweit, seit 2005 ist der Anteil allerdings um 1% gefallen. Importiert hat das Land 2009 Waren für 552 Mrd. US-Dollar (10,9% des BIP), die Importe wuchsen zuletzt jährlich um 4%. Mit einem Anteil an den Weltimporten von 4,35% ist Japan ebenfalls auf der vierten Position, bei den Dienstleistungen im Außenhandel liegt der Weltmarktanteil mit 3,76% (Exporte) bzw. 4,67% (Importe) allerdings niedriger.

Traditionell gehört Japans Wirtschaft auf den Weltmärkten zu den großen internationalen Konkurrenten von Exportländern wie Deutschland. Seine hohe Exportlastigkeit bringt es mit sich, dass das Land von der weltweiten Wirtschaftskrise im Gefolge der tiefsten Finanzkrise seit Jahrzehnten sogar noch stärker als Deutschland getroffen wurde. Japans Wirtschaft brach 2009 um mehr als 5% ein – der höchste Rückgang unter den sieben größten Industriestaaten. Die Exporte sackten um rund ein Viertel ab, allerdings war das Bankenwesen von der Finanzkrise weniger betroffen als in anderen G7-Staaten.

Japan ist aufgrund seines großen Außenhandels in hohem Masse in die Weltwirtschaft eingebunden, ist stark von ihr abhängig, beeinflusst sie seinerseits aber auch deutlich. 54% der japanischen Ausfuhren fließen inzwischen in den asiatischen Raum. Von dort kommen 45% der Importe. Allein nach China gehen 19% der Aus-, von dort kommen 22% der Einfuhren.

 

Japan im Welthandel (2009)

 

Exporte

Importe

 

 

580 Mrd. $

551 Mrd. $

 

Anteil an Weltexporten

4,65%

4,35%

Anteil an Weltimporten

Wichtigste Abnehmerländer:

 

 

Wichtigste Herkunftsländer:

China

18,9%

22,2%

China

USA

16,4%

11,0%

USA

EU

12,5%

10,7%

EU

Südkorea

8,1%

6,3%

Australien

Taiwan

6,3%

5,3%

Saudi-Arabien






Auch wenn die asiatischen Nachbarmärkte in den letzten Jahren für Japan immer mehr an Gewicht gewannen, bleibt Europa ein zentraler Partner. Das Handelsvolumen zwischen beiden Regionen am gesamten Außenhandel Japans lag zuletzt bei 11,6%, während der Anteil Japans am EU-Handel gerade 4% ausmacht – was das Land nicht zufrieden stellt. Dass Japan auch für die Zukunft auf Europa setzt, machte das Land gerade in der europäischen Schuldenkrise deutlich: Es erwarb Anleihen aus dem Euro-Rettungsfonds für Hilfen an Irland im Umfang von 1,25 Mrd. Euro.

Ein Risiko für den ehrgeizigen Aufbau- und Konjunkturprogrammen besteht in der Schuldenlast, die sprunghaft ansteigen wird. Japan ist bereits mit mehr als dem Doppelten seiner jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet ist. Allerdings erwarten die meisten Wirtschaftsexperten, dass das Land die anschwellende Schuldenlast bewältigen wird. Die rapide alternde Gesellschaft und eine deutlich zurückgegangene Sparquote lassen dennoch die Frage aufkommen, wie lange es noch gelingen wird, den Schuldenberg ohne deutliche Gegenmaßnahmen zu verlängern. Immerhin ist Japans Staatshaushalt 2010 mit mehr als 50% über neue Schulden finanziert worden.

Das größte Risiko geht auch nach Einschätzung der Weltbank aber nicht von der steigenden Staatsverschuldung aus. Wenn es Japan nicht gelingt, die Lage im schwer zerstörten Atomkraftwerk Fukushima unter Kontrolle zu bringen, wären die Auswirkungen auf die japanische Wirtschaft wesentlich dramatischer. Schätzungen gehen davon aus, dass bei einer Verstrahlung im Umkreis von rund 300 km um Fukushima – das umfasst auch das rund 220 km entfernte Tokio – Regionen betroffen wären, die rund 40% der japanischen Wirtschaftsleistung erbringen.

Zwar würden viele Produktionsstätten dann in den Süden der japanischen Insel verlagert – ein Schritt, den manche Unternehmen bereits jetzt erwägen –, der wirtschaftliche Einbruch würde in diesem Fall so stark ausfallen, dass eine massive Rezession eintreten würde, in deren Folge auch eine Abschwächung des globalen Wachstums um 1% nicht auszuschließen ist.

Die Automobilindustrie hat mit ihrer herausragenden Position auf den Weltmärkten für das Land eine zentrale Bedeutung. Daneben halten japanische Unternehmen starke Weltmarktpositionen im Maschinenbau, in der Elektronik und im Chemiebereich. Die Weltbank befürchtet, dass die Schäden in der Automobil-, vor allem aber in der Elektronikindustrie Japans dem asiatischen Wirtschaftsraum erhebliche Probleme bereiten könnten. Einige Fabriken in Japan haben bereits jetzt Versorgungsprobleme, weil Zulieferungen aus den Fabriken im zerstörten Nordosten ausbleiben. Auch drei Wochen nach dem verheerenden Erdbeben ist es der Auto- und der Elektronikindustrie noch nicht gelungen, die Produktion uneingeschränkt wieder aufzunehmen. Da rund 36% der weltweiten Chipproduktion aus Japan stammt, ist diese für die weltweiten Wertschöpfungsketten wichtige Produktion faktisch unterbrochen. In einigen Bereichen sind die Preise daher bereits um 20% gestiegen.

Selbst wenn alle Schäden beseitigt sein sollten, mangelt es den Unternehmen an einer gesicherten Energieversorgung. Im Großraum Tokio und in den verwüsteten Regionen des Nordostens ist wegen des Ausfalls der sechs Atomreaktoren in Fukushima bis in den Winter 2011/2012 hinein immer wieder mit Engpässen in der Energieversorgung zu rechnen. Für die energieintensiven Produktionsstätten der Elektronik- und der Autoindustrie birgt das erhebliche Risiken in sich, auch wenn genaue Zahlen derzeit nicht verfügbar sind.

Schon im Februar 2011 mussten Japans Autounternehmen wegen der schwächer werdenden Nachfrage einen Rückgang der Produktion vermelden. Toyota teilte beispielsweise mit, dass seine Produktion in Japan im Februar im Vergleich mit dem Vorjahr um 8,5% auf 283.556 Autos zurückgegangen ist. Nach dem Beben produzieren die acht großen japanischen Automobilunternehmen inzwischen erst teilweise wieder. Sie rechnen damit, dass es wegen des Bebens und seiner Folgen Produktionsausfälle von mehr als 385.000 Fahrzeugen geben könnte. Das entspricht etwa 5% der Jahresproduktion. Zu schaffen machen den Unternehmen nicht nur Schäden an den eigenen Produktionsstätten und die anhaltenden Engpässe in der Stromversorgung. Probleme bereitet zunehmend auch, dass wichtige Zulieferungen ausbleiben, weil die Hersteller in den vom Erdbeben stark verwüsteten Regionen des Nordostens von Japan ansässig sind und ihre Produktion nur sehr schleppend wieder hochfahren können.

Es wäre nicht verwunderlich, wenn durch die Naturkatastrophe und den nachfolgenden Super-GAU in der Atomenergie auch in Japan ein größerer gesellschaftlich-mentaler Änderungsprozess einsetzt, der Auswirkungen auf die gesamte Produktions- und Lebensweise des Landes in im Gefolge auch auf die Globalökonomie haben kann.

Die Katastrophe in Japan ist nach dem Anschlag am 11. September 2001 in den USA, dem Tsunami in Südostasien und dem unvorstellbar großen Erdbeben in Haiti die vierte von den Medien ausgerufene »Jahrhundertkatastrophe« der letzten zehn Jahre. Gesellschaftliches Denken nachhaltig verändert hat bisher nur der 11. September, hier stand allerdings der politische Aspekt im Vordergrund. Die Katastrophe in Japan könnte erneut die kapitalistisch-technologische Zivilisation nachhaltig verändern. Dies zu verstehen, wird aber nur gelingen, wenn wir nicht in alte Deutungsmuster fallen.

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