5. Juli 2017 Martin Jacques

Jeremy Corbyn hat die Zeichen der Neuen Zeit erkannt

Seit dem Ende der 1970er Jahre ist die Labour Party und mit ihr die Arbeiterbewegung in der Defensive gewesen und hat mit sich gerungen, wie sie einer Welt begegnen soll, in der die politische Rechte hegemonial geworden war. Heute eröffnet sich ein erster Blick auf eine andere Möglichkeit.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in Britannien zwei große politische Wendepunkte gegeben. Der erste Knotenpunkt war 1945 die Wahl der Labour-Regierung mit Premierminister Attlee. Angetrieben von der in der Bevölkerung weitverbreiteten festen Überzeugung, dass das Großbritannien der neuen Friedenszeit sich erheblich von dem Land der 1930er Jahre mit seiner Massenarbeitslosigkeit unterscheiden wird, und aufbauend auf dem solidarischen Impetus der Kriegszeit, brachte die Labour-Regierung Vollbeschäftigung, den Wohlfahrtsstaat (einschließlich des Nationalen Gesundheitsdiensts) und die Verstaatlichung von Basisindustrien, insbesondere der Kohlezechen und der Eisenbahnen. Sie war eine Reform-Regierung, die Großbritannien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so noch nicht erlebt hatte. Die Reformen waren derart populär und erfuhren eine so breite Unterstützung, dass der sich daraus ergebende sozialdemokratische Konsens bis Ende der 1970er Jahre hielt, wobei nicht nur Labour-, sondern auch Tory-Regierungen weitgehend in diesem Rahmen operierten.

Während der 1970er Jahre wuchs jedoch die Opposition gegen den sozialdemokratischen Konsens stetig an, angeführt vom Aufstieg der radikalen Rechten. Die Opposition kulminierte im Wahlsieg Margaret Thatchers, dem zweiten großen Wendepunkt. Die Thatcheristen definierten die politische Debatte neu und erweiterten sie über den doch ziemlich fest institutionalisierten und begrenzten Rahmen hinaus: Sie orchestrierten eine starke populistische Kampagne für den Individualismus und gegen den Kollektivismus, für den Markt und gegen den Staat, für Freiheit und gegen gewerkschaftliche Organisation, für Recht und Ordnung und gegen Kriminalität.

Diese politischen Ideen wurden von der Linken vollkommen falsch interpretiert. Sie hielt sie einfach nur für eine extreme Variante des alten Konservatismus und hatte die Neuartigkeit und die damit verbundene Bedrohung nicht erkannt. Mit der Wahl von 1979 und der Wahl von Ronald Reagan zum US-Präsidenten im folgenden Jahr begann das Zeitalter des Neoliberalismus, der in Britannien und in anderen Ländern des Westens über drei Jahrzehnte die Hegemonie behielt. Tory- und Labour-Regierungen agierten gleichermaßen in der Begrifflichkeit und der Logik des Neoliberalismus. Was allein neu war an New Labour, war die willfährige Zustimmung zum Neoliberalismus. Also selbst in dieser Hinsicht war New Labour nichts Neues, sondern nur ein Derivat des Thatcherismus.

Die Finanzkrise 2007-2008 markierte den Beginn des Endes des Neoliberalismus. Anders als der sozialdemokratische Konsens, der durch die ideologische Herausforderung des Thatcherismus untergraben worden war, wurde der hegemoniale Neoliberalismus nicht durch eine alternative Ideologie in die Knie gezwungen, sondern durch die größte Finanzkrise seit 1931. Es war die Konsequenz der Fragilität des Finanzsektors, der wegen der radikalen Deregulierung sich selbst überlassen worden war, und der Korruption und der Spekulation, die dadurch befördert worden waren.

Die Krise hatte ihren Grund nicht im Handeln der damaligen Labour-Regierung – so sehr sie auch in die neoliberale Huldigung des Finanzsektors eingebunden war –, sondern in der Deregulierung des Bankensektors auf beiden Seiten des Atlantiks seit den 1980er Jahren. Der Neoliberalismus schleppte sich noch in die Zeit nach 2007-2008 hinein, aber als die Realeinkommen stagnierten, die Erholung der Ökonomie sich als Fata Morgana erwies und die Bankenvorstände durch ihr Verhalten desavouiert hatten, zeigte sich in der Gesellschaft eine tiefe Desillusion. In den beiden Jahren 2015/2016 schwappte dann über große Teile Europas und über die USA eine Welle des Populismus hinweg.

Außer an den Rändern – das bemerkenswerteste Beispiel ist wohl Griechenland – hatte die Linke hierdurch keine Vorteile. Im Gegenteil: Sie wurde von den Leuten genauso hart bestraft wie die Mitte-Rechts-Parteien. Der Grund liegt auf der Hand. Fast überall hatten die sozialdemokratischen Parteien, wenn auch in unterschiedlichem Maße, die neoliberale Politik betrieben. Bill Clinton und Tony Blair wurden – und präsentierten sich auch als solche – führende Verfechter des Neoliberalismus und glühende Verfechter einer Strategie der Super-Globalisierung, die zu einer wachsenden Ungleichheit führte. In diesem fundamentalen Punkt waren diese Parteien mehr oder wenig nicht von der Rechten zu unterscheiden.

 

Corbyn – ein Kandidat der Moderne

Die ersten Anzeichen einer offenen Revolte gegen New Labour – den Repräsentanten und Predigern neoliberaler Wertvorstellungen in der Labour Party – zeigten sich nach der Wahl 2015 und dem völlig unvorhergesehen und überwältigenden Sieg von Jeremy Corbyn bei der Wahl zum Parteivorsitzenden. Es war etwas in Bewegung geraten. Doch viele Linke wie auch die Medien missdeuteten das als eine Wiederbelebung des linksradikalen Entrismus, als eine Aktion einer kleinen Gruppe von Trotzkisten. Das Neue und Ungewohnte ist eben weitaus schwieriger zu verstehen als das Alte und Vertraute. Es erfordert eine ernsthafte intellektuelle Anstrengung und ein offenes und forschendes Herangehen. Dieses Syndrom ist nicht allein bei der Linken zu finden. So hat die Rechte das Wahlprogramm der Labour Party von 2017 als eine Kopie des Wahlprogramms von 1983 verteufelt. Sie hätte nicht stärker irren können.

Dass Corbyn schon über lange Zeit hinweg ein Veteran der Linken war, gab Anlass zu der Annahme, dass er nur ein Wiedergeher der Vergangenheit sei: Er verkörperte für fast alle nichts Neues. In einem brillanten Wahlkampf hat Corbyn sie nicht nur widerlegt, sondern er hat auch demonstriert, dass er mehr als jeder andere Parteivorsitzende mit der Gegenwart im Einklag steht – ein Kandidat der Moderne.

Krisen, große Wendepunkte, neue Zeitläufe, neue Formen des Bewusstseins sind per Definition die Inkubatoren des Neuen. Das macht ihre Faszination aus. Wir sehen jetzt die Verbindungslinie zwischen den Tausenden junger Leute, die Corbyn zu seinem überwältigenden Sieg bei der Wahl zum Parteivorsitzenden verholfen haben, und den Millionen junger Leute, die von seinem Wahlkampf bei der Parlamentswahl begeistert waren. Es ist kein Zufall, dass es die jüngeren Jahrgänge und nicht die mittleren und älteren waren, die vorangeschritten sind. Ihre neue Aufgeschlossenheit ist das Wetterleuchten des Wandels. Die älteren Generationen sind dagegen in alte Denk- und Handlungsmuster verwoben, nachdem sie über 30 Jahre in den Werten und Normen des Neoliberalismus gelebt und diese verinnerlicht haben.

Aber es gibt noch einen anderen, weit wichtigeren Aspekt für das Neue, nämlich die Art und Weise, wie wir die Politik sehen und wie Politik wahrgenommen wird. Bisher ist auf Wahlen basierende repräsentative Politik stark institutionalisiert und zugleich auf bestimmte Klientel zentriert. Wie schon erwähnt: Es waren zwei große Wendepunkte, die die britische Nachkriegspolitik geprägt haben: das sozialdemokratische Zeitalter, das von der Labour-Regierung 1945 eingeleitet worden war, und das neoliberale Zeitalter, das von der Tory-Regierung 1979 etabliert worden ist.

Der durchschnittliche Tory-Abgeordnete oder Parteiaktivist betrachtet die Geschichte eher als eine Abfolge von Tory- und Labour-Regierungen; bei der Labour Party ist das nicht anders. Aber das ist eine oberflächliche Lesart und ignoriert die unterliegenden Kräfte, die die verschiedenen Epochen prägen, Krisen hervorrufen und die in neuen Paradigmen resultieren.

Auch die meisten für das Ressort Politik arbeitenden Journalisten und Kolumnisten sind kaum in der Lage, den Wald (die im Verborgenen wirkenden historischen Kräfte) von den Bäumen (die täglichen Manöver der Parteien und Politiker) zu unterscheiden. In Zeiten, in denen das Leben seinen normalen Gang geht, mag das nicht so wichtig sein, aber in Momenten großer Paradigmenwechsel ist dieser Unterschied doch von wichtiger Bedeutung.

Wenn die Politik-Journalisten und eben auch die Mehrheit der Labour-Parlamentsfraktion die tiefgreifenden Veränderungen verstanden hätten, dann hätten sie sich bei ihrer Beurteilung Corbyns niemals im Kanon der allgemeinen Fehleinschätzung so über das hinwegsetzen können, was trivial und leicht vorauszusagen war: Eine historische Ära, nämlich die des Neoliberalismus, liegt in ihren letzten Zügen. Alte Gewissheiten haben ihre Gültigkeit verloren, wir betreten Neuland. Die feinen Anzüge, die bei den New-Labour-Größen lange hoch im Kurs standen, gelten nicht mehr als Ausweis für Erfolg und Ehrgeiz, sondern sind zum Symbol geworden für die Entfremdung und die Missachtung all jener, die zurückgelassen worden sind. Die, die ignoriert und beiseitegeschoben worden waren, sind jetzt dabei, sich das Zentrum der politischen Bühne zurückzuerobern.

Corbyn gegenüber begegnete man – es liegt noch nicht lange zurück – sofort mit Abneigung, man verspottete ihn wegen seines Kleidungsstils. Doch selbst seine Kleidung – jetzt fürs Fernsehen etwas aparter – vermittelt Authentizität und Affinität zu einer anderen Zeit, sodass sein Kleidungsstil während des Wahlkampfs kaum noch kritisiert wurde. Die Mode und die dress codes sind Zeichen einer Entwicklung, die tiefer reicht.

Das Ende des einst so hegemonialen und gebieterischen Neoliberalismus stellt Britannien vom Kopf auf die Füße. Alle Versuche der Rechten, Corbyn als einen Vertreter der extremistischen Linken zu verunglimpfen, sind kläglich gescheitert – was schon außergewöhnlich ist, je länger man darüber nachdenkt. Sie haben sich sogar als kontraproduktiv erwiesen, weil sie nicht dem entsprachen, was die Leute vom ihm hörten und wie sie ihn sahen. Er sprach die Probleme an, mit denen sich viele Menschen eines breiten gesellschaftlichen Spektrums identifizieren konnten, und das in einer Sprache, die sie verstanden.


Abschied vom Neoliberalismus

Der Grund, warum eine große Mehrheit der Labour-Abgeordneten gegen Corbyn opponierte und verzweifelt versuchte, ihn wieder loszuwerden, war, dass sie noch in der Ära des Neoliberalismus leben, immer noch Sklaven seiner Ideologie, immer noch seiner Logik unterworfen sind. Sie kannten keine andere Denkweise und kein anderes politisches Dasein. Sie beschuldigten Corbyn, aus der Zeit gefallen zu sein, wo es doch gerade die Mehrheit der Labour-Parlamentarier war – ganz zu schweigen von den Mandelsons und Blairs –, die noch in einer früheren historischen Ära gefangen war. Das Ende des Neoliberalismus markiert den Tod von New Labour. Im Gegensatz dazu bewegt sich Corbyn in der neuen Realität von heute, nicht in der alten von gestern. Welch wunderschöne Ironie.

Nach Corbyns Wahlerfolg lässt es sich nicht umgehen, noch einmal die Unterstellungen zu überprüfen, auf denen in den letzten Jahren viele politische Kommentare aufgebaut waren. Die Tumulte bei Labour und die Verhöhnung Corbyns veranlassten viele – auch bei den Linken – zu glauben, dass die Labour Party am Rande des Abgrunds stände und dass die Tories weiterhin bis in die ferne Zukunft die dominante politische Kraft blieben. Mit Corbyns Initiative sind die Tories jetzt in ein neues Licht gerückt worden. Mit einer Labour Party, die dabei ist, das Vermächtnis von New Labour zu begraben und die neue Situation anzugehen, stellt sich das Ende des Neoliberalismus für die Konservative Partei als weitaus größere Bedrohung dar als für die Labour Party.

Die Konservative Partei unter der Führung von Cameron und Osborne war noch stark vom neoliberalen Geist geprägt, vor allem weil sie den Nachdruck auf Austerität gelegt hatte. Im Lichte der neuen öffentlichen Meinung sieht es jedoch so aus, als ob die Regierung jetzt dazu gezwungen wird, die Austeritätspolitik aufzugeben. Theresa May hatte bei ihrem Regierungsantritt davon gesprochen, zu einem Konservatismus zurückzukehren, der die gesamte Nation umsorgt, und von der notwendigen Hilfe für die Verlierer, aber ihren Worten folgten keine Taten – jetzt hat sie totalen Schiffbruch erlitten.

Inzwischen befinden sich die Tories auch beim Brexit auf dem Rückzug. Das EU-Referendum brachten sie aus engstirnigen parteipolitischen Gründen auf den Weg, aus Sicht des Landes war es vollkommen überflüssig. Wegen des Brexit-Votums musste Cameron zurücktreten und die Brexit-Befürworter übernahmen faktisch das Ruder. Aber jetzt nach der Parlamentswahl wenden sich die Tories Hals über Kopf vom »harten Brexit« ab. Kurzum, sie haben die Kontrolle über die politische Agenda völlig verloren und werden von den Ereignissen getrieben. Vor allem fürchten sie eine weitere Wahl, aus der Corbyn aller Voraussicht nach als Gewinner hervorgehen wird mit einer Agenda, die in keinem Punkt mehr dem Neoliberalismus verpflichtet sein wird.

Corbyn hat sich als ein Parteivorsitzender erwiesen, der die Imperative der neuen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen und die Notwendigkeit eines neuen politischen Paradigmas nicht nur versteht, sondern damit auch bestens umgehen kann. Das ist in den Augen der Öffentlichkeit der eine Schlüssel für den Wandel der Labour Party. Der andere ist das aktuelle Wahlprogramm, das wohl das beste und wichtigste Manifest der Labour Party seit 1945 ist. Denn über drei Jahrzehnte hinweg waren die dominierenden Themen Ausdehnung und Stärkung des Marktes, Privatisierung, Brosamen-Ökonomie, Verschwendung und Ineffizienz des Staates, die Unumstößlichkeit der forcierten Globalisierung, die Bankenvorstände und Finanzhaie als die neuen Götter.

Das Wahlprogramm der Labour Party zeichnet eine ganz andere Vision: Eine gerechtere Gesellschaft, die die Mauern der Ungleichheit einreißt; ein auf größere Umverteilung setzendes Steuersystem; die Zentralität des Sozialen; die ausreichende Finanzierung der öffentlichen Dienstleistungen; die Vergesellschaftung der Eisenbahnen und der Wasserversorgung; die Menschen stehen im Mittelpunkt, und nicht mehr die Banken und Finanzfonds. Der Titel des Wahlprogramms hat seinen Gehalt gut getroffen: For the Many Not the Few – für uns, die Mehrheit, und nicht für sie, die kleine Minderheit. Es hätte auch heißen können: Nach dem Neoliberalismus. Die Vision selbst ist noch nicht die Antwort auf alle neuen Fragen, aber sie ist der Entwurf für die Beantwortung dieser Fragen.

Seit dem Ende der 1970er Jahre ist die Labour Party und mit ihr die Arbeiterbewegung in der Defensive gewesen und hat mit sich gerungen, wie sie einer Welt begegnen soll, in der die politische Rechte hegemonial geworden war. Heute eröffnet sich ein erster Blick auf eine andere Möglichkeit; eine, in der die politische Linke beginnen kann – zumindest in einem gewissen Umfang – eine neue, post-neoliberale Ordnung mitzugestalten. Aber wir sollten die enormen Probleme nicht unterschätzen, die vor uns liegen. Die ökonomischen Perspektiven des Landes sind – relativ gesehen – so schlecht wie nie seit 1945. Das Brexit-Votum hat uns gezeigt, dass die Kräfte des Konservatismus, des Nationalismus, des Rassismus und der imperialen Nostalgie nach wie vor sehr stark sind. Das Land hat nicht nur die Mitgliedschaft in der Europäischen Union verworfen, sondern es ist auch – ebenso wie die anderen Länder des Westens – weit davon entfernt, sich mit der neuen Welt zu arrangieren, die gerade vor unseren Augen entsteht und in der die aufstrebenden Entwicklungsländer wichtiger als je zuvor sein werden und in der China die globale Vormachtstellung ausüben wird.

Trotzdem: Einen neuen Optimismus für das eigene Land zu spüren, das ist ein neuartiges Erlebnis nach 30 Jahren mit wenig Hoffnung. Kein Wunder also, dass so viele wieder mit Zuversicht neue Energien mobilisieren.


Martin Jacques ist Publizist und China-Experte. Sein Bestseller »Wenn China Rules the World« (zuerst 2009) ist in mehreren Auflagen und etlichen Übersetzungen erschienen. Von 1977 bis 1991 war er Redaktionsleiter der britischen Monatszeitschrift Marxism Today. Ende 1998 gab er zusammen mit Eric Hobsbawm eine einmalige MT-Sonderausgabe heraus, in der die neoliberale Politik des ersten Jahres der Regierung Blair kritisch beleuchtet wurde.

Die Druckfassung des Kurzessays erschien im New Statesman vom 21.6.2017 unter dem Titel »Why Jeremy Corbyn is a new leader for the New Times«. Die Übersetzung von Hinrich Kuhls folgt der Online-Version, die Martin Jacques auf seiner Website publiziert hat: www.martinjacques.com/articles/why-jeremy-corbyn-is-a-new-leader-for-the-new-times/

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