3. Juli 2011 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Die Arbeitsmarktzahlen im Juni

Job-Boom?

Die gute wirtschaftliche Entwicklung hat die Arbeitslosigkeit weiter gedrückt. 2,9 Mio. Menschen waren im Juni ohne Arbeit. Das waren 66.000 oder 2,3% Menschen ohne Arbeit weniger als im Mai und 8,1% (255.000) weniger als im Juni vergangenen Jahres. Saisonbereinigt errechnet sich für den Juni ein Minus von 8.000. Die Arbeitslosenquote lag mit 6,9% um 0,6% unter dem entsprechenden Wert des Vorjahresmonats.

Nach einer vorläufigen Hochrechnung erhielten im Juni 2011 insgesamt 5.346.000 erwerbsfähige Menschen Lohnersatzleistungen nach dem SGB III oder Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Arbeitsuchende nach dem SGB II. Davon erhielten 738.000 Personen das Arbeitslosengeld (Alg) I und 4.677.000. Alg II.

Allerdings hat sich das Tempo beim Beschäftigungszuwachs wie beim Abbau der Arbeitslosigkeit in den letzten Monaten deutlich verlangsamt, weil die Konjunktur an Schwung verliert. Der Beschäftigungsaufbau erreicht zudem längst nicht alle Arbeit suchenden BürgerInnen. So ist der Abbau der Arbeitslosigkeit bei langzeiterwerbslosen Lohnabhängigen im Vorjahresvergleich mit 75.817 oder 3,5% deutlich schwächer ausgefallen als bei den Kurzzeitarbeitslosen (-18,2%) . Zu denen, an denen der »XXL-Aufschwung« völlig vorbei geht, gehören insbesondere ältere Langzeiterwerbslose (50 und älter; +32.631 oder 6,1%) und Menschen mit Behinderung (+6.084 oder 3,5%).

Die Arbeitsmarktpolitik hat diese Tendenzen der Ausgrenzung wesentlich mit verstärkt. Die von der Bundesregierung auf den Weg gebrachten drastischen Kürzungen bei den arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen sind von der Bundesagentur für Arbeit in »vorauseilendem Gehorsam« in den letzten Monaten teils schon praktisch umgesetzt worden. So befanden sich im Juni 1,26 Mio. Personen in einer von Bund oder Bundesagentur für Arbeit geförderten arbeitsmarktpolitischen Maßnahme. Das waren 21% oder 330.000 weniger als im gleichen Monat des Vorjahrs.

Der Effekt in einer Situation, in der gerade Langzeiterwerbslose dringend darauf angewiesen sind: deutlich weniger Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung, ersatzloses Herunterfahren der Beschäftigungsförderung in allen ihren, z.T. auch durchaus problematischen Formen.

Besonders drastisch wurde bei der Förderung der Langzeitarbeitslosen gekürzt. Im Juni wurden 568.000 Personen mit arbeitsmarktpolitischen Instrumenten gefördert. Im Vergleich zum Vorjahresmonat war dies ein Rückgang um 27% (absolut: 210.000 weniger Geförderte). Vor allem die 1-Euro-Jobs wurden massiv zusammengestrichen. So befanden sich im Juni 203.000 Personen in Arbeitsgelegenheiten, 35% weniger als noch vor einem Jahr. Knapp 46.000 Personen haben einen Ein-Euro-Job neu angetreten – seit Jahresbeginn waren es 281.000 Arbeitssuchende. Das waren 31% weniger Eintritte als im Vorjahreszeitraum. Sicherlich waren die 1-Eur-Jobs nie eine akzeptable Integrationsperspektive, gleichwohl zeigt die rigorose Kürzung ohne Übergang zu den Grundstrukturen eines sozialen Arbeits- und Beschäftigungsangebotes die bekannte Ausgrenzungs- und Diskriminierungsphilosophie.


Ausgewählte arbeitsmarktpolitische Maßnahmen

 

 

Bestand

2011

2010

gg. Vorj.

gg. Vorj %

Vermittlungsunterstützende Leistungen

162.272

226.954

-64.682

-28,5%

Qualifizierung

181.507

216.854

-35.347

-16,3%

Förderung der Berufsausbildung

357.484

398.533

-41.049

-10,3%

Beschäftigungsbegleitende Maßnahmen

301.178

382.691

-81.513

-21,3%

Beschäftigung schaffende Maßnahmen

211.287

317.248

-105.961

-33,4%

Sonstiges

48.742

60.776

-12.034

-19,8%

Summe

1.213.728

1.542.280

-328.552

-21,30%


Diese Politik hat einen schönenden statistischen Effekt. Sie führt dazu, dass die »Unterbeschäftigungsquote« (ohne Kurzarbeit), die die tatsächliche Arbeitslosigkeit sehr viel besser wiederspiegelt als die registrierte Arbeitslosigkeit, schneller und deutlicher sinkt als die offizielle Arbeitslosenquote.

In Deutschland waren im Juni 2011 insgesamt 4,08 Mio. BürgerInnen unterbeschäftigt. Das waren neben den offiziell 2,89 Mio. Lohnabhängigen ohne Arbeit weitere 1,19 Mio. Personen, von denen die übergroße Mehrheit an einer der diversen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen teilgenommen hat. Im Vorjahresvergleich ist die Unterbeschäftigung um 11,8% (absolut 544.641) gesunken, weil der Zugang zu diesen Maßnahmen dramatisch eingeschränkt wurde. Diese arbeitsuchenden Menschen tauchen dann entweder in der Statistik als offiziell arbeitslos oder nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehende erwerbsfähige HilfeempfängerInnen auf oder sie fallen ganz aus der Erfassung raus. Ihre Chancen auf Wiedereingliederung tendieren, egal wie ihr offizieller Status ist, mehr und mehr gegen Null.

Beim in den letzten Monaten nur mehr gebremsten Aufbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung setzen sich die bekannten Trends der Prekarisierung der Lohnarbeit fort. Schaut man sich die Struktur der alten und neuen regulären Jobs an, fällt auf, dass es im April im Vorjahresvergleich mit 23,3% bzw. 146.000 neuen Arbeitsplätzen den kräftigsten Zuwachs in der Leiharbeit gegeben hat. Diese Lohnabhängigen gehören zum wachsenden Heer der prekär Beschäftigten. Zu diesem Trend gehört auch, dass die sozialversicherungspflichtige Teilzeitbeschäftigung mit einem Plus von 264.000 oder 5,0% sehr viel stärker zugenommen als die Vollzeitbeschäftigung (+1,9% bzw. 414.000).

 

Struktur der Lohnarbeit 2010

 

 

Lohnabhängige gesamt

37.523.126

100,0%

BeamtInnen (einschl.BerufssoldatInnen)

1.859.192

5,0%

Reguläre SV-Beschäftigung

22.914.294

61,1%

Prekäre Beschäftigung gesamt

12.749.640

34,0%

davon

 

 

prekäre SV-Beschäftigte

6.077.798

47,7%

Kurzarbeiter

207.587

1,6%

Leiharbeiter (ohne SV-Beschäftigte)

370.000

2,9%

Kurzfristig + Geringfügig Beschäftigte (ausschließlich)

5.124.074

40,2%

Unterschäftigte (ohne Arbeitslose)

970.181

7,6%


Der von der globalen wirtschaftlichen Erholung ausgelöste Konjunkturaufschwung in Deutschland hat sich mittlerweile über die unmittelbar betroffenen exportorientierten Branchen auf die gesamte Ökonomie ausgebreitet. Allerdings deutet sich an, dass die Auslandsnachfrage etwas an Schwung verlieren wird. Daher mahnt selbst die optimistische Bundesbank zur Vorsicht: Nach dem »fulminanten Start« ins Jahr 2011 ist für die nächsten Monate »eine gewisse Beruhigung im Expansionstempo« zu erwarten. Das überraschend starke Wachstum im ersten Quartal sei erheblich von Aufhol- und Nachholeffekten überzeichnet gewesen. Zwar signalisierten die Indikatoren eine Fortsetzung des Aufschwungs in Deutschland, »allerdings dürfte sich das Wachstumstempo gegenüber dem 1. Quartal etwas verlangsamen«.

Mit Blick auf diese Entwicklung wäre es politisch klug, die bestehenden Defizite in der Infrastruktur zügig zu beseitigen und durch ein Investitionsprogramm der wirtschaftlichen Entwicklung Stabilität zu verleihen, möglicherweise wie im Bereich der Energieproduktion den beschlossenen Strukturwandel durch Ausbauprogramme zu befördern. Eine solche Struktur- und Beschäftigungspolitik könnte durch Arbeitsmarktinstrumente ergänzt werden.

Aber trotz deutlicher Verbesserung auf der Einnahmeseite der öffentlichen Finanzen, werden die Förderinstrumentarien für Beschäftigungslose zusammengestrichen. Für die große Mehrheit der chronisch Langzeitarbeitslosen und Ausgegrenzten gilt auch nach Jahren noch, dass ihre Erwerbsorientierungen auf den ersten Arbeitsmarkt gerichtet sind. Sie setzen einiges daran, einen Schul- oder Ausbildungsabschluss nachzuholen oder eine Qualifikation zu erlangen, die die Chance auf eine reguläre Arbeit verbessert. Eine »normale« Beschäftigung gehört zu einem guten Leben.

Daneben existiert eine große Zahl von dauerhaft Ausgegrenzten. Zu Recht wird hier von einem »verfestigten Prekariat« gesprochen. Charakteristisch für diese selbst sehr vielschichtig zusammengesetzte soziale Kategorie ist, dass sie – sei es aufgrund eigener Erfahrungen, sei es, weil das soziale Umfeld es nahe legt – die Orientierung auf eine reguläre Erwerbsarbeit aufgegeben haben. Die Antizipation der eigenen Chancenlosigkeit mündet in eine mehr oder minder bewusste Abkopplung von der offiziellen Arbeitsgesellschaft. »Normalarbeit« wird zu einem fiktiven Maßstab, den zu erreichen für die Befragten im Grunde unmöglich geworden ist. Realistisch erscheint allenfalls der Sprung in ein prekäres Arbeitsverhältnis, eine Aussicht, die Qualifizierungsbemühungen subjektiv entwertet und Vermeidungsverhalten fördert.

Vor diesem Hintergrund wird die Option, sich in einer Art Subgesellschaft einzurichten, zu einer realistischen Alternative. Sie entlastet vom ständigen Kampf um eine Einmündung in den ersten Arbeitsmarkt und der wenig attraktiven Aussicht eines dauerhaften Aufenthalts im prekären Segment. Auch diese »Abkehr vom Arbeitsmarkt«bedeutet allerdings nicht Akzeptanz eines passiven Bürgerstatus. Viele dauerhaft Ausgegrenzte betrachten sich als »arbeitende Arbeitslose«, weil sie ihren Lebensunterhalt in der Schattenwirtschaft verdienen. Es wäre ein bedeutender Schritt in Richtung einer neuen Regulierung, wenn die bisherigen Achsen des Hartz IV-Regimes aufgegeben werden könnten, die durch unzureichende Regelsätze, ein erniedrigendes System von Sanktionen und Formen von »Beschäftigung« gekennzeichnet sind und in denen keine Perspektive entwickeltet werden kann. In einem Wirtschaftaufschwung könnten hier wirkliche Veränderungen Platz greifen. Innerhalb der Sozialdemokratie werden erste Ansätze für eine neue Konzeption eines sozialen Arbeitsmarktes sichtbar – ein kleines Hoffnungszeichen für einen Kurswechsel auf dem Arbeitmarkt.

Ein Sozialstaat des 21. Jahrhunderts, der in der Gesellschaft breite Akzeptanz und Unterstützung findet, muss auf einer modernen Konzeption der Arbeitsmarktpolitik gründen, inklusive eines sozialen Arbeitsmarktsektor, einer Qualifikations- und Arbeitszeitpolitik. Eine neue Zeitpolitik für flexible Lebens- und Erwerbsläufe ist die Grundlage für einen neuen Typus von Vollbeschäftigung. Wir brauchen Anrechte auf Guthaben für Bildungszeiten, Erziehungszeiten oder Auszeiten. Eine gerechte Verteilung der Arbeit, das heißt auch eine Verkürzung der allgemeinen Regelarbeitszeiten, bleibt dabei weiterhin das eigentlich erstrebenswerte und gesellschaftspolitisch sinnvolle Ziel.

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