14. Januar 2016 Otto König / Richard Detje: Staatsterror gegen die Kurden im Südosten der Türkei

Krieg gegen das Volk

Die Lage spitzt sich zu. Der Anschlag in Istanbul am 12. Januar mit zehn Todesopfern steht in einer Reihe mit jenem Anschlag, der sich am 10. Oktober letzten Jahres in Ankara ereignete, der zum Symbol der Wende in der Syrien-Politik der Türkei wurde.

Über lange Zeit hatte man dschihadistische Kräfte, einschließlich dem IS, gegen das Regime Assads unterstützt; doch im August 2015 öffnete die türkische Regierung die Luftwaffenbasis Incirlik für die Truppen der Anti-IS-Koalition. Nun schlägt der Krieg auf die Touristenstädte der Türkei zurück.

Ein zweiter Krieg – auf den hier näher eingegangen werden soll – findet im Südosten der Türkei statt – und der ist noch einschneidender und gewalttätiger.[1]  Auch hier haben sich die Verhältnisse im letzten halben Jahr gründlich verändert. Noch Anfang Juli 2015 jubelten in Bonn Repräsentanten des türkischen Kultusministeriums gemeinsam mit der HDP-regierten Senatsverwaltung der Stadt Diyarbakir im Südosten der Türkei über die Aufnahme der jahrtausendealten Burg und der Hevsel-Gärten in die UNESCO-Welterbeliste. Nur fünf Monate später beschießt die türkische Armee Wohnhäuser in der von dieser Burg eingefriedeten Altstadt Sur.

Dort wird ein Stadtteil zerstört, weil sich deren Bewohner der brutalen Staatsgewalt der Zentralregierung in Ankara nicht beugen wollen. Es sind Bilder, die an einen Bürgerkrieg erinnern: brennende Häuser nach Granatbeschuss und Panzer, die durch das Wohngebiet rollen. Reporter der Nachrichtenagentur AFP berichteten, »dass sie eine wie im Krieg zerstörte Stadtlandschaft vorfanden«, aus der ein großer Teil der zuletzt 57.000 Bewohner geflohen ist. Wer bleibt, wird von der Armee als »Terrorist« verfolgt.

Auch die Städte Cizre und Silopi an der Grenze zum Irak sowie Silvan in der Provinz Diyarbakir und Nusaybin oder Sirnak an der türkisch-syrischen Grenze haben sich in »Kriegszonen« verwandelt, in denen seit Mitte Dezember 2015 immer wieder tage- oder wochenlange Ausgangssperren verhängt werden. Das bedeutet: kein Wasser, keine Elektrizität, keine Lebensmittel, keine medizinische Versorgung, kein Schulunterricht, Zugangssperre für die Presse. Schätzungen zufolge sollen davon 1,5 Millionen Menschen betroffen sein. Wer auf die Straße geht, muss damit rechnen, erschossen zu werden.[2]

Mit dem »Anti-Terror-Einsatz« gegen mutmaßliche Kämpfer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hat der autokratisch herrschende Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan im Südosten des Landes einen Krieg entfacht – einen Krieg gegen das Volk. Martialisch verkündet Erdogan, er werde die PKK »auslöschen«. Rainer Hermann hält das für Propaganda. »Denn die Kämpfer der PKK haben bisher gar nicht in den Konflikt eingegriffen. Sie halten sich weiter in den nordirakischen Kandilbergen, ihrem Rückzugsgebiet, bedeckt, die die türkische Luftwaffe weiter bombardiert.« (FAZ, 26.12.2015)

Es sind vor allem Jugendliche, die sich gegen die Gewalt von Armee, Geheimdienst und Polizei erhoben haben. Die Intifada im Südosten der Türkei ist ein sozial neues Phänomen, gespeist aus der Perspektivlosigkeit des jugendlichen Prekariats. »Sie sind die Söhne und Töchter von Eltern, die der türkische Staat in den neunziger Jahren aus den Bergen vertrieben hat, als er dort die Dörfer niederbrannte. Die Vertriebenen landeten in Städten wie Cizre, deren Einwohnerzahl um das Sechsfache auf 250.000 stieg. Dort bilden sie ein neues Prekariat, radikaler, als es alle früheren Generationen kurdischer Rebellen gewesen waren.« (ebd.)

Sie organisieren sich in der »Bewegung der patriotischen revolutionären Jugend«, die sich zwar unter dem Dach der PKK sieht, aber autonom handelt. Sie bauen Barrikaden und ziehen Gräben, um beispielsweise wie in Sur ihr Stadtviertel zu schützen, um Razzien der gefürchteten Sonderkommandos Esedullah Timleri zu verhindern. Wenn die staatlichen Sicherheitskräfte in die Städte eindringen, werden diese Kommandos als Vorhut eingesetzt. Schon in den 1990er Jahren hatte es eine ähnliche Einheit mit Namen Jitem gegeben, deren Existenz der türkische Staat lange geleugnet hatte und die dem »tiefen Staat« zugerechnet worden war.

Dass der türkische Staat einen gezielten Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, weist Erdogan empört zurück. Laut Human Rights Watch sind jedoch ungezählte zivile Todesopfer zu beklagen. Der türkische Menschenrechtsverein IHD zählte 197 Zivilpersonen, die zwischen dem 24. Juli und dem 22. Dezember bei Aktionen des Militärs uns Leben kamen (Telepolis, 7.1.2016).[3] Doch das interessiert den Staatspräsidenten nicht. Im Visier hat er die HDP.

Seit dem vergangenen Sommer, nachdem die HDP die Zehn-Prozent-Hürde übersprungen hatte und mit 80 Abgeordneten in die 550 Sitze umfassende türkische Nationalversammlung eingezogen war und die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bei der Parlamentswahl am 7. Juni die absolute Mehrheit und damit die Macht zur Umsetzung ihrer Pläne einer »Präsidial-Demokratie« verloren hatte, dreht der Staatspräsident an der Eskalationsschraube.

Alle Absprachen zur kurdischen Frage, die zuvor getroffen worden waren, wurden für null und nichtig erklärt.[4] Parallel zur Bombardierung der PKK-Stellungen in den Kandil-Bergen setzte im Südosten des Landes eine Repressionswelle gegen kurdische Politiker ein: So wurden zehn BürgermeisterInnen und 11 Co-BürgermeisterInnen sowie 44 Stadtratsmitglieder inhaftiert. Acht weitere Bürgermeister wurden auf Weisung der Regierung ihres Postens enthoben. Insgesamt wird von Verhaftungen von mehr als 3.000 RepräsentantInnen der kurdischen Bewegung berichtet.

Ihnen werden u.a. Handlungen gegen die »Einheit und territoriale Integrität des Staates«, »Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung« und »terroristische Propaganda« vorgeworfen. Gegen den Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, hat die Staatsanwaltschaft in Ankara ein neues Ermittlungsverfahren eingeleitet. Darin sollen jene Anklagen vom Oktober 2014 wegen »Störung der öffentlichen Ordnung und Anstachelung zur Gewalt« einfließen, die Demirtas mit 24 Jahren Haft bedrohen.

In der staatlichen Gewalt gegen die kurdische Bevölkerung und deren Repräsentanten entlädt sich die Wut des Staatspräsidenten, dass das neo-osmanische Hegemonieprojekt, die »Komplettierung der Islamisierung im Innern und die Wiedergewinnung des mit dem Ersten Weltkrieg verlorenen Einflusses auf die osmanischen Protektorate im Nahen Osten und in Nord-Afrika« (Murat Cakir) ins Stocken geraten ist.

Die Umsetzung der außenpolitischen Ziele – Zurückdrängung des Einflusses der »Schiitischen Achse« (Iran, irakische Zentralregierung, das Assad-Regime und die libanesische Hisbollah) – und das Bestreben, die politische, militärische, wirtschaftliche und kulturelle Vorherrschaft in der Region zu erringen, kommen nicht voran.[5] Im Gegenteil: Die Etablierung der selbstverwalteten kurdischen Region Rojava an der Südgrenze weist dieser expansionistischen Politik Schranken auf und lässt die AKP-Politiker Rückwirkungen auf die zentralistisch verfasste Türkei befürchten.[6] Deshalb gelte es zu verhindern, dass die syrischen Kurden, die mit der PKK kooperieren, einen kurdisch beherrschten Korridor in der Region bilden. Stattdessen soll die Zusammenarbeit mit dem – gegen die PKK agierenden – irakischen Kurdenführer Barzani noch intensiviert werden, um die Exploration des ölreichen Nordiraks voranzutreiben.

Und schließlich geht es immer wieder um die Frage: Ist die Türkei ein Staat mit verschiedenen Ethnien und Abstammungen u.a. von Turkvölkern, Kurden und Armeniern? Wenn ja, müssen diese Bevölkerungsgruppen auch anerkannt werden und einen gleichberechtigten Status in politisch-demokratischen Strukturen bekommen. »Das Problem ist die Statuslosigkeit Kurdistans«, sagte der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, der größten kurdischen Tageszeitung in Europa, Yeni Özgür Politika (YÖP), und fordert einen politischen Status für die Kurden.

Dabei geht es nicht um die Gründung eines weiteren Staates, wie es der türkische Staatspräsident immer wieder bewusst fälschlicherweise behauptet, um der HDP »Verrat an der Einheit der Türkei« vorwerfen zu können. Die Kurden in der Türkei und in Syrien wollen als große ethnische Minderheit in einem demokratisch föderalen System in der Türkei bzw. einem kantonalen System in Syrien politisch anerkannt werden. So bekräftigte der Dachverband des aus kurdischen Zivilorganisationen gebildeten Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK bei einem zweitätigen Treffen Ende vergangenen Jahres in Diyarbakir die Forderung nach regionaler Autonomie und kommunaler Selbstverwaltung. Selahattin Demirtaş sagte auf der Zusammenkunft: Die Kurden müssten sich entscheiden, ob sie nach Autonomie streben oder »unter der Tyrannei eines Mannes« leben wollen.

Erdogan, für den es »keine kurdische Frage, sondern lediglich ein Terrorismusproblem« gibt, schimpfte vor Journalisten: »Was dieser Co-Vorsitzende getan hat, ist Verrat, eine klare Provokation«. Kaum hatte er die Forderung nach einer Bestrafung des Politikers ausgesprochen, leiteten die »gesäuberten« Justizbehörden dienstbeflissen Ermittlungen gegen die beiden HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag »wegen verfassungsfeindlicher Äußerungen über eine mögliche Autonomie der Kurdischen Gebiete in der Türkei« ein (SPON, 29.12.2015).

Die EU schaut über die Menschenrechtsverletzungen hinweg. Ihr geht es um Grenzsicherung. Hauptsache, die Türkei hält Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa auf, was sie mit ihren eigenen Bürgern macht, wird totgeschwiegen. Unkritisch macht sich die Bundesregierung die Position zu eigen, wonach es sich beim Vorgehen der türkischen Armee und Polizei um Terrorbekämpfung handelt. Zudem bleibt der türkische Staat ein guter Kunde der deutschen Rüstungsindustrie.

Allein im Jahr 2014 erteilte der geheim tagende Bundessicherheitsrat 336 Genehmigungen für den Export von Rüstungsgütern im Wert von 72.445.432 Euro. Und in den ersten sechs Monaten des vergangenen Jahres beliefen sich die Ausfuhrgenehmigungen auf einen Wert von 23.512.760 Euro. Dazu zählten Kriegswaffen wie Maschinen- und Scharfschützengewehre, Granatwerfer, Revolver und Pistolen samt Munition, Waffenzielgeräte, Mündungsfeuerdämpfer, Teile für Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Panzerhaubitzen, Flugkörper und Raketen. Im Südosten der Türkei werden Menschen auch mit deutschen Waffen getötet.

[1] Bereits der Anschlag in Ankara war instrumentalisiert worden für den Kampf gegen die kurdische Bevölkerung und ihre Vertreter.  Vgl. Otto König/Richard Detje: Anschlag auf Friedensdemonstration in Ankara. Erdoğans zynisches Kalkül, Sozialismus aktuell, 14.10.2015.
[2] Nachdem das türkische Verfassungsgericht einen Eilantrag der HDP, die Ausgangssperren wegen Gesetzwidrigkeit aufzuheben, weil »der Bevölkerung Grundrechte wie Freiheit, Recht auf Leben, Bildung und Reisefreiheit entzogen werden«, abgelehnt hat, stellte die HDP nun einen Eilantrag vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) (Telepolis, 3.1.2016).
[3] In der von der Nachrichtenagentur DIHA veröffentlichten »Befugnis der Soldaten zum Waffengebrauch und zur Wachsamkeit der Einheiten« der Kommandantur des bei Cizre stationierten 3. Panzerbataillons vom 30. Juli 2015 wird den Soldaten bei Zusicherung von Straffreiheit das Recht zugesprochen, auf Zivilisten zu schießen. Jegliche Zurückhaltung beim Waffengebrauch werde »zu Gefallenen auf unserer Seite führen, das Überleben des Staates und der Nation gefährden und Verrätern, Terroristen und Feinden des Staates ein Gefühl von Stärke vermitteln« (Telepolis, 7.1.2016).
[4] Ende 2012 hatten neue Friedensgespräche begonnen, unter maßgeblichem Einschluss des in Einzelhaft eingekerkerten Abdullah Öcalan. Im April 2014 wurde im türkischen Parlament notgedrungen ein Gesetz verabschiedet, das den Staatsvertretern Straffreiheit für Kontakte mit der PKK zusicherte. Am 28.2.2015 schließlich veröffentlichten Vertreter des türkischen Staats und der PKK die »Erklärung von Dolmabahçe«, die in zehn Eckpunkten eine Lösung des »Kurdenproblems« umriss. Mit dem Erstarken der HDP brach Erdogan diesen Prozess ab.
[5] Vgl. Murat Cakir: Eine kurdische Nation: Um welchen Preis? Info-Brief Türkei 04/2013.
[6] Jahrelang unterstützte die Türkei militante Islamisten wie den IS und al-Nusra militärisch, medizinisch und logistisch, während sie beim IS-Angriff auf Kobane tatenlos zusah (German Foreign Policy, 25.11.2015).

Zurück