12. Dezember 2011 Joachim Bischoff / Richard Detje: Merkozys Plan B & die heraufziehende Rezession

Krisengipfel ohne Zukunftsperspektive

Die Staats- und Regierungschefs haben die jüngsten Verhandlungen über einen Ausweg aus der Schuldenkrise mit einer Vertiefung der politischen Spaltung in Europa beendet. Bereits im bisherigen Krisenprozess hatten sich unterschiedliche Integrationsniveaus und Souveränitätsrechte herausgebildet und mit der Achse Berlin-Paris ist ein schwer zu erschütterndes Machtzentrum entstanden.

Nun zeigte sich nun, dass die erforderliche Einstimmigkeit für eine erneute Veränderung des Lissabon-Vertrages (Plan A) wegen des Ausscherens der britischen Regierung nicht zustande kam. »Wenn man eine Liste der ganz wichtigen Entscheidungsgründe für Großbritannien macht, dann steht die Gesundheit unseres Finanzsektors ganz weit oben«, erklärte Außenminister William Hague.

London ist Europas größtes Finanzzentrum mit etwas mehr als 310.000 Beschäftigten. Im Vergleich zu den Finanzplätzen New York oder Tokio, die ihre Bedeutung aus ihren starken inländischen Volkswirtschaften ziehen und vorrangig den einheimischen Markt bedienen, kann London mit einer globalen Ausrichtung und einer breiten Palette unterschiedlichster Finanzdienstleistungen aufwarten.

Der Finanzsektor hat in Großbritannien mit einem Wertschöpfungsanteil von ca. 10% eine im internationalen Vergleich große volkswirtschaftliche Bedeutung. Diese Bedeutung sah die britische Regierung durch die Debatte über freilich bescheidene europäische Maßnahmen der Finanzmarktregulierung – bei Leerverkäufen, Hochfrequenzhandel, Kreditausfallversicherungen etc. – und die Einführung einer Finanztransaktionssteuer gefährdet.

Es ist also nicht die Kritik an der Austeritätspolitik, die zu dem Ausscheren von Großbritannien geführt hat. Die seit Mai 2010 amtierende Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten räumt der Reduzierung des Haushaltsdefizits oberste Priorität ein und hat erhebliche Kürzungen (durchschnittlich 19% bis zum Ende der Legislaturperiode 2015) auf den Weg gebracht.

Das Defizit wird im Haushaltsjahr 2011/12 voraussichtlich immer noch bei ca. 8% des BIP liegen, nachdem zwei Jahre zuvor ein Rekordminus von 11% zu verzeichnen war. Die projektierte Staatsverschuldung wird trotz eines massiven Sparprogramms bis zum Haushaltsjahr 2013/14 auf ca. 87% des BIP steigen, nachdem sie 2007/08 noch bei 43% gelegen hatte. Der Grundwiderspruch der britischen Regierungspolitik besteht darin, dass man die Sanierung der öffentlichen Finanzen ohne Kontrolle und Einschränkungen des großen Finanzsektors erreichen will.

Die Achse Paris-Berlin hat mit treuer Gefolgschaft der anderen 24 EU-Mitgliedstaaten den Rahmen für ein intergouvernementales Vertragswerk abgesteckt (Plan B), das bis März 2012 ausgearbeitet werden soll. Zentrale Punkte sind:

  • Einführung nationaler Schuldenbremsen, nach denen das strukturelle (konjunkturbereinigte) Staatsdefizit 0,5% des BIP nicht übersteigen darf. Ein kumuliertes Defizit von über 60% soll beschleunigt abgetragen werden. Überprüft werden soll das vom Europäischen Gerichtshof. Werden die Ziele verfehlt, tritt ein »automatischer Korrekturmechanismus« mit abgestuften Sanktionen und nationalen haushaltspolitischen Souveränitätsverlusten (»Durchgriffsrechte in der Haushaltsaufsicht« durch die EU-Kommission) in Kraft.
  • Mobilisierung weiterer Finanzmittel gegen die Krise auf den europäischen Finanzmärkten. Zu diesem Zweck werden der Europäische Stabilitäts-Mechanismus (ESM) mit einem Kreditvolumen von 500 Mrd. Euro vorzeitig Mitte 2012 installiert und der Internationale Währungsfonds (IWF) mit zusätzlichen 200 Mrd. Euro von den EU-Zentralbanken versorgt. Im März 2012, d.h. im Lichte der Krisenentwicklung in Spanien und Italien, soll zudem überprüft werden, ob die »Feuerkraft« von EFSF bzw. ESM ausreicht.
  • Die Beteiligung privater Gläubiger an Umschuldungsmaßnahmen wie im Fall Griechenlands – und im Regelwerk des ESM vorgesehen – wird wieder kassiert, »als Signal zur Beruhigung der Finanzmärkte«. Auch wenn es sich bei der Gläubigerhaftung im Einzelfall um ein möglicherweise heikles Instrument handelt – wenn beispielsweise Alterssicherungssysteme betroffen sind – bedeutet ihr weitgehender Ausschluss nun die alleinige Haftung der europäischen Steuerzahler.
  • Eurobonds wird es zunächst ebenso wenig geben wie eine Banklizenz der EFSF, obgleich die Hebelung der EFSF-Mittel bescheiden ausgefallen ist. Erst im Juni 2012 soll hierzu ein Prüfbericht vorgelegt werden. Die Europäische Zentralbank (EZB) wird damit weiterhin eine offensive Rolle auf den Anleihemärkten spielen müssen, was von Seiten der deutschen Regierung und der Bundesbank allerdings kritisiert wird.

Bis zur Umsetzung der Beschlüsse sind noch etliche Hürden zu nehmen. So ist die Position der Rechtsregierung in Ungarn noch nicht ausgereift, obgleich diese eines der härtesten Kürzungsprogramme fährt; auch in Schweden steht die Vereinbarung unter Parlamentsvorbehalt. Und in Irland wird in einer Volksabstimmung entschieden werden müssen; dort war zwar die EU-Verfassung im Referendum gescheitert, aber die Republik ist unter dem EFSF-Schirm erpressbar geworden.

Entscheidend dürfte der politische Prozess in Frankreich werden, wo im April Präsidentschaftswahlen und im Juni die Wahlen zur Nationalversammlung anstehen. Sarkozy ist gewillt, den Urnengang zu einem Votum über eine Schuldenbremse zu machen und wird versuchen, der sozialdemokratischen PS das Etikett der Schuldentreiber ans Revers zu heften – Ausgang ungewiss. Damit aber auch die Zukunft der neuen »Stabilitätsunion«.

Mit dem neuen zwischenstaatlichen Vertrag soll ein Konstruktionsfehler der Euro-Zone behoben werden: die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne gemeinsam verpflichtende Regelungen staatlicher Haushaltspolitik. Das Stichwort heißt Fiskalunion. Aber dieser Begriff ist viel zu anspruchsvoll für die heute in Europa verfolgte Politik. Denn eine Fiskalunion würde gemeinsame Grundlagen nicht nur der staatlichen Ausgaben- sondern auch der Steuerpolitik erfordern.

Und beides wäre nicht als lineares Programm – Ausgabenkürzen pro Jahr um XY-Prozent – zu konzipieren, sondern müsste antizyklisch angelegt sein, was unter dem ersten Schock der Großen Krise 2008/2009 kurzfristig ja auch der Fall war. Tatsächlich verabredet wurde eine Austeritätsunion mit massiven Umverteilungseffekten. Da die Unternehmens- und Vermögenssteuern gedeckelt sind, werden nur noch Massensteuern erhöht; und da Wettbewerbspolitik als non plus ultra wirtschaftlicher Gesundung gilt, werden Sozialleistungen nicht nur im Rahmen der Sparpolitik sondern zusätzlich mit dem Ziel der Entlastung der Unternehmen heruntergefahren.

Die Überzeugungskraft der jetzt beschlossenen Maßnahmen, die bis März 2012 umgesetzt werden sollen, ist gering. Vier Argumente sprechen gegen eine vorschnelle Beendigung der Krise.

Erstens: Grundsätzlich ginge es unter den Regime des Euro nicht nur um eine gemeinsame Fiskal-, sondern auch Wirtschaftsunion. Diese kann aber nicht existieren, solange in Europa ein tiefer Graben existiert zwischen einer Mehrheit von Staaten, die dazu verdammt sind, Handels- und Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren, und Exportländern in Gläubigerposition. Die Einführung des Euro und die Bildung der Euro-Zone war ein politischer Schachzug, die EU ist ein Staatenverbund und das deutschen Verfassungsgerichts setzte enge Grenzen für die Übertragung von Kompetenzen der Bundesregierung an die vom Lissabonner Vertrag definierte EU.

Ein wirtschaftlicher Unterbau – letztlich mit dem Ziel eines Ausgleichs der Profitraten im EWU-Raum und eine wirtschaftliche Steuerung durch Profit und Zins – setzt einen Prozess der Aufhebung nationalstaatlicher Souveränität voraus. Ein vollentwickelter europäischer Binnenmarkt unterstellt nicht nur eine Währung sondern ein weitgehend angenähertes Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht. Ein regionaler Finanzausgleich wie bei anderen Bundestaaten existiert in der EWU nicht, solche Transfers sind beim gegenwärtigen Stand der öffentlichen Debatte und der politischen Kräfteverhältnisse nicht vorstellbar. Das Europäische Parlament ist »kein Repräsentations-Organ eines souveränen europäischen Volkes«, da ein solches bislang juristisch nicht existiert.

Zweitens: Die Probleme einer geplatzten Vermögens- und Kreditblase – im konkreten Fall auf den Immobilien- und Hypothekenmärkten etlicher Länder – können durch Fiskal- und Geldpolitik nur gelindert, aber nicht aufgehoben werden. Nur dadurch, dass die Vermögenstitel mit zweifelhafter Werthaltigkeit und der viel zu große Finanzsektor in eine Ausgleichungspolitik der Leistungsbilanzen eingebunden würden, kann die Krisenkaskade beendet werden. Im Euro-Raum muss endlich eine Alternative zur Politik der finanzpolitischen Disziplin und geldpolitischer Überbrückung entwickelt werden. Wenn unterschiedliche Länder einer Währungszone die Abwertungsmöglichkeit verloren haben und eine Politik der »internen Abwertung« durch verteilungspolitische Rosskuren vermieden werden soll, dann muss eine wirtschaftspolitische Offensive erfolgen.

Die Krise wurde dadurch ausgelöst, »dass eine landesweite Preisblase platzt, so wie in Japan Anfang der Neunziger und in den USA und Europa 2008 nach dem Lehman-Schock. Was dann passiert, ist folgendes: Die Preise, etwa von Immobilien, brechen ein, aber die damit verbundenen Schulden bleiben bestehen. Unternehmen und Privathaushalte stecken plötzlich tief im Minus und versuchen um jeden Preis, ihre Schulden abzubauen, um ihre Bilanzen zu sanieren. Damit macht zwar jeder Einzelne für sich das Richtige, aber kollektiv ist das genau das Falsche. Regierungen müssen in einer solchen Situation die Wirtschaft so lange durch hohe Staatsausgaben am Laufen halten, bis die Privatwirtschaft wieder zum Wachstum beiträgt« (so der japanische Ökonom Koo in der Frankfurter Rundschau vom 10.12.2012). Letztlich wird man eine entwickeltere Form der wirtschaftlichen Arbeitsteilung unter den beteiligten Ländern der Euro-Zone schaffen müssen.

Drittens: Noch sind die Beschlüsse auf dem Weg in eine Fiskalunion nicht umgesetzt. Selbst wenn bis März 2012 alles zügig auf den Weg gebracht werden wird, werden durch die ökonomischen Bedingungen weitere Veränderungen bewirkt. Schon jetzt melden einige Länder der Euro-Zone den Übergang in eine Rezession (Griechenland, Portugal, Niederlande) – andere werden folgen. Es existieren daher zu Recht große Zweifel, ob der geldpolitische Rahmen (EFSF, ESM, Einbezug des IWF) ausreichen kann. Zudem lassen die Ankündigungen einer neuen Regulierung der Finanzsektoren und Finanzdienstleistungen aufgrund der Erfahrungen aus der Zeit nach dem Konkurs der Lehman-Bank nicht unbedingt darauf schließen, dass den Worten auch wirksame Taten folgen.

Und viertens: Wenn nun alle Staaten der Europäischen Union den Pfad einer verpflichtend vorgeschriebenen und sanktionsbewährten Austeritätspolitik gehen – einschließlich Großbritannien, das auf einem Parallelpfad voranmarschiert – entwickelt sich die Europäische Union in Krisenzeiten zu einer Deflationsgemeinschaft. Offenkundig scheint es im Europäischen Rat – dem von Merkel und Sarkozy beherrschten Führungszirkel der EU – die Auffassung zu geben, durch strikte öffentliche und private Kostensenkungspolitik so viele Wettbewerbsvorteile für die Mitgliedstaaten schaffen zu können, dass damit die negativen Nachfrageeffekte ausgeglichen werden können.

Doch was im Falle Deutschlands mit Exportoffensiven in die wachstumsstarken Schwellenländer 2010 geklappt hat, klappt erstens nicht für die EU insgesamt und zweitens nicht in einer Zeit, in der selbst China einen Gang zurück schaltet. Die EU ist gegenwärtig mit ihrer Politik ein Brandbeschleuniger im globalen Krisenherd.

Es ist schlicht illusorisch, zu erwarten, nach den bisherigen Gipfelberatungen und einem ergänzenden Vertrag sei die Union der 27 nun auf einem Pfad der ökonomischen und fiskalischen Stabilisierung. Die deutsch-französische Achse steht bislang für Flickwerk und es gibt keinen Grund anzunehmen, die Politik des Flickwerks könnte überwunden werden.

Entscheidend für die nächsten Monate ist, ob es gelingt, die Schuldentragfähigkeit so zu verbessern, dass der Kampf gegen den Schuldenüberhang und die rezessiven Entwicklungstendenzen nicht zum lähmenden Dauerzustand wird. Sicherlich ist das Potenzial der EZB auch noch nicht ausgeschöpft; aber die Krisenkaskade lässt sich mit reiner Notenbankpolitik und geldpolitischen Stützungsmanövern nur in Grenzen steuern. Eine Überwindung der Krise erfordert eine andere Politik.

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