27. Dezember 2017 Joachim Bischoff: Europas Wirtschaft bleibt aktuell auf Touren

Licht- und Schattenseiten der Weltökonomie

Weder die Unsicherheit über die Ausgestaltung des Brexits, noch die anderen schwelenden Krisen in Europa – von Katalonien bis zur Ukraine – haben die Kraft, dem Wirtschaftsmotor in Europa die Beschleunigung zu nehmen. Im Gegenteil: Der jüngste Trend ist ermutigend, gewinnen doch gleich vier wichtige Wirtschaftsräume simultan an Schwung.

In den USA beträgt das Wachstum 3,3%, in Europa sind es erstmals seit langem 2 bis 2,5%, und in China stabilisiert es sich auf 5 bis 6%. Auch Japan geht es besser. Die Aussichten für das erste Halbjahr 2018 sind so gut wie lange nicht. Der Euro-Raum wird 2017 mit einem realen Zuwachs des Bruttoinlandprodukts (BIP) um 2,2% das stärkste Wachstum seit zehn Jahren verzeichnen.

Damit hat die Brüsseler EU-Kommission die im Mai vorgelegte Frühjahrsprognose, die noch von einem Plus um 1,7% ausging, massiv nach oben korrigiert. Auch in der ganzen EU (EU-28) dürfte das BIP-Wachstum im laufenden Jahr mit 2,3% robuster ausfallen als im Frühling erwartet (1,9%). Für 2018 und 2019 gehen die Brüsseler Wirtschaftsexperten für beide Wirtschaftsräume von einer leichten Abschwächung des Wachstums auf je 2,1% bzw. 1,9% aus. Damit haben sie auch die Werte für das nächste Jahr nach oben revidiert.

Das Expansionstempo der Weltwirtschaft lag gleichfalls im Jahresverlauf 2017 leicht über den Erwartungen der Juni-Projektion. Für die fortgeschrittenen Volkswirtschaften (ohne den Euroraum) wird davon ausgegangen, dass sich die Zuwachsraten von dem gegenwärtig recht hohen Niveau aus wieder etwas abschwächen. Das zuletzt kräftige Wirtschaftswachstum in den USA dürfte sich gleichfalls etwas abschwächen – trotz der kürzlich verabschiedeten Steuerreform von Präsident Trump. Es ist also weiterhin von einem gemäßigten konjunkturellen Grundtempo in den USA auszugehen.

Auch die deutsche Wirtschaft Deutschland bewegt sich in diesem bereits mehrere Jahre andauernden konjunkturellen Grundtempo, der von der Binnenwirtschaft getragen wird und infolge steigender Beschäftigung und Einkommen auch die Steuereinnahmen ansteigen lässt. Die Zahl der Arbeitslosen sinkt in diesem Jahr auf durchschnittlich 2,5 Millionen (5,7%) und liegt damit um 2,3 Millionen (6 Prozentpunkte) unter dem höchsten Jahresdurchschnittswert im Jahre 2005. Die Arbeitslosenquote wird Ende nächsten Jahres bei 5,3% liegen.

Zugleich wird die Zahl der Erwerbstätigen um 1,5% (im Jahr 2017) bzw. 1,3% (Prognose für 2018) ausgeweitet und die Bruttolöhne und -gehälter je Beschäftigten legen um knapp 3% pro Jahr zu. Überhitzungserscheinungen zeichnen sich derzeit nicht ab.

Der EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici bewertet die europäische Entwicklung als Eintritt in eine neue Phase des Aufschwungs. Eine längere Phase einer verhaltenen Expansion sei in ein robusteres und langlebiges Wachstum gemündet. Er räumte aber auch ein, dass in früheren Aufschwungsphasen noch höhere Wachstumsraten zu verzeichnen gewesen seien.

In der Weltwirtschaft macht sich zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise wieder Optimismus breit. Das gilt auch mit Blick auf den Arbeitsmarkt. So sind in den vergangenen drei Jahren in den meisten Industrieländern die Arbeitslosenquoten gesunken. Folgt man der ökonomischen Theorie müsste dies dazu führen, dass die Löhne anziehen.

Das ist aber kaum der Fall, bei den Arbeitseinkommen ist nur geringer Auftrieb zu verzeichnen. Die Daten des Internationalen Währungsfonds (IWF) zeigen, dass 2016 das nominale Lohnwachstum in fast allen Industrieländern – zwei gewichtige Ausnahmen sind Deutschland und Japan – unter dem Niveau der Vorkrisenjahre lag.

Die Ökonomen des IWF vermuten, dass die Arbeitslosenquote kein zuverlässiger Indikator mehr für die Verfassung des Arbeitsmarkts ist; nicht zuletzt deshalb, weil die Arbeitsstunden pro Beschäftigten stetig sinken – ein Trend, der schon vor Ausbruch der Finanzkrise eingesetzt hat. Eine wichtige Rolle spielen unfreiwillige Teilzeitbeschäftigte.

Das Argument der IWF-Experten zielt darauf ab, dass das Phänomen der unfreiwilligen Teilzeitarbeit dafür sorgt, dass der Lohndruck stärker ausfällt, als dies der bloße Blick auf die Arbeitslosenquote nahelegen würde. Verstärkt wird dieser Druck noch durch strukturelle und globale Trends: In Zeiten der »Gig-Economy« werden Aufträge kurzfristig zusehends an unabhängige Freiberufler vergeben, traditionelle Vollzeitstellen in der Industrie verlieren indes an Gewicht.

Zudem wird die wirtschaftliche Integration immer enger: Die Arbeitsmarktlage in Land A beeinflusst also auch die Lohnhöhe in Land B, zumal stets die Drohung einer Stellenverschiebung in ein kostengünstigeres Land in der Luft hängt. Der Forderung nach höheren Löhnen setzt dies enge Grenzen. Außerdem ist der Einfluss der Gewerkschaften tendenziell rückläufig.

Vor dem Hintergrund des gemäßigten konjunkturellen Grundtempos und der niedrigen Inflations- und Zinsraten hält sich die positive Stimmung an den internationalen Finanzmärkten. Die Notenbanken rühmen sich über ihre erfolgreiche expansive Geldpolitik als dem zentralen Faktor der Wirtschaftssteuerung. Die Kurse an den Börsen laufen von Hoch zu Hoch, die Renditen an den Bondmärkten sind weiterhin vergleichsweise tief und in Europa erholt sich nun auch der Euro.

Dafür seien schwindende geopolitische Risiken, ein anziehendes Wirtschaftswachstum und nicht zuletzt die anhaltend expansive Geldpolitik der Zentralbanken verantwortlich. Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), schreibt sich diese Entwicklung als Erfolg der extremen Krisenpolitik der Institution auf die eigene Fahne.

Eigentlich konnte man erwarten, dass die Kombination von lockerer Geldpolitik, niedrigen Zinsen und mäßigem Wachstum Spuren in den Staatshaushalten hinterlassen hätte. Hat sie aber nicht. Die Schulden der Regierungen steigen unentwegt. Auch relativ zur Wirtschaftsleistung standen die Staaten in der Vergangenheit noch nie so hoch in der Kreide.

Global liegt die Verschuldung der Regierungen bei 90% der internationalen Wertschöpfung. Doch einige Schwergewichte wie die USA, Japan und eben Italien weisen weit höhere Werte auf. Dazu kommen noch die Schulden privater Haushalte und jene von Unternehmen. Der Weltverband der Banken, das Institute of International Finance (IIF) hat errechnet, dass die globale Verschuldung bei 200 Billionen Euro liegt (eine Billion bedeutet 1.000 Milliarden und hat zwölf Nullen). Das entspricht 325% der globalen Wirtschaftsleistung.

Trotz niedriger Zinsbelastung sind also weder Unternehmen noch Haushalte noch Staaten in der Lage, ihren Schuldenberg abzubauen. Offenbar geht ohne das Schmiermittel Pump nichts. Während der Finanzkrise wurde der Anstieg der Verbindlichkeiten des öffentlichen Sektors mit Bankenrettungen und Konjunkturpaketen erklärt. Doch seither sind die Schulden einfach weiter gestiegen.

In China sorgen die Außenstände der (meist staatsnahen) Unternehmen dafür, dass sich die Gesamtverschuldung des Landes in zehn Jahren verdoppelt hat. Der IWF hat im Oktober 2017 allein die Schulden der größten 20 Industrie- und Schwellenländer mit 135 Billionen Dollar angegeben. Vor Ausbruch der Finanzkrise waren es noch 80 Billionen. Dass die Verschuldung über kurz oder lang zum Problem werden wird, liegt auf der Hand, zumal in den letzten Jahren wegen niedriger Renditen immer riskantere Fremdfinanzierungsformen en vogue geworden sind. Hier würden Schocks oder einfach nur das Ende des Konjunkturzyklus zu massivem Rumpeln im Finanzgebälk der Welt führen.

Die als Zentralbank der Notenbanken geltende Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) warnt daher vor dem Hintergrund der langanhaltenden Niedrigzinsphase vor künftigen Marktverwerfungen. Die Schwachstellen, die sich im Laufe der ungewöhnlich langen Zeit sehr tiefer Zinsen rund um den Globus aufgebaut hätten, seien noch immer vorhanden, erklärte ihr Chefvolkswirt Claudio Borio: »Der Preis für kurzfristige Ruhe sind mögliche Turbulenzen auf lange Sicht.«

Auch die BIZ weist darauf hin, dass es immer noch hohe Schuldenstände sowohl in Landes- wie in Fremdwährungen gibt. In vielen Ländern, die weniger heftig der Finanzkrise getroffen wurden, sind die Schuldenstände inzwischen sogar deutlich größer als vor der Krise. Zudem seien die Bewertungen vieler Vermögenswerte weiterhin hoch oder überzogen. Aus BIZ-Sicht wird dies teilweise durch die niedrigen Renditen der Staatsanleihen gestützt. Der Grund: Staatsanleiherenditen bilden die Referenz für die Bewertung aller Vermögenswerte.

Die Situation ist reichlich paradox. So hat die amerikanische Notenbank seit Dezember 2016 schon drei Mal den Leitzins erhöht; im Oktober 2017 wurde zudem die Verkleinerung der Bilanz eingeleitet. Andere Zentralbanken gehen zögerlicher vor. Im November hat aber auch die Bank of England erstmals seit zehn Jahren die Zinsen angehoben, vergangene Woche doppelte Südkorea nach.

Die EZB, die von höheren Zinsen noch nichts wissen will, hat im Oktober immerhin angekündigt, ab Januar 2018 das Volumen der monatlichen Anleihekäufe leicht zu drosseln. Die Zeichen sind also eindeutig: Die Finanzmärkte müssen sich auf eine etwas weniger großzügige Versorgung mit Liquidität einstellen, Geld wird in Zukunft wieder knapper.

Auf EZB-Chef Mario Draghi wartet im Jahr 2018 eine heikle Steuerungsaufgabe. Er muss die Finanzmärkte auf die Entwöhnung von den jahrelangen Geldspritzen vorbereiten, ohne dabei Börsen-Turbulenzen auszulösen. Gleichzeitig dürften in der Notenbank die Rufe nach einer Kursänderung lauter werden, sollte sich der Aufschwung im Währungsraum wie erwartet fortsetzen.

Die BIZ ist skeptisch ob möglicher negativer Folgen der Behutsamkeit: Die Marktteilnehmer wiegen sich in Sicherheit. Sie sind überzeugt, dass die Notenbanken auf keinen Fall ein Abwürgen der Konjunktur oder eine Verstimmung der Finanzmärkte riskieren werden. Entsprechend neigen sie zu noch höheren Risiken und noch höherer Verschuldung. Man schätzt die Gefahren als gering ein, weshalb die in Rechnung gestellten Risikoprämien sinken.

»Es entsteht der Eindruck, als ob die Straffung gar nicht wirklich begonnen hat,« merkt Claudio Borio an. Er fordert deswegen zwar nicht, anstelle von Gradualismus und Planbarkeit auf Schocks und Überraschungen zu setzen. Aber er macht klar, dass auch eine vorsichtige Politik der kleinen Schritte mit Kosten verbunden ist: Sie wird am Markt nämlich kaum beachtet und hat daher nur wenig Wirkung.

Neben den hohen Risiken für Wirtschaft und Finanzmärkte gibt es eine weitere Schattenseite: Wegen der verhaltenen Konjunkturentwicklung, dem unzureichenden Lohntrend und der wachsenden Niedriglohnbereiche verschärft sich die soziale Ungleichheit. Die Scherenentwicklung zwischen boomenden Vermögensmärkten und der Stagnation der Lebenslage von großen Teilen der arbeitenden Bevölkerung setzt immer größeren Unmut und apathische Wut frei.

Dieser Zorn führt zu Entwicklungen, die die etablierte Ordnung erschüttern. Beispiele dafür sind der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union, der Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen, der anhaltende Rechtstrend in EU-Mitgliedsländern und die aktuellen Probleme von Bundeskanzlerin Angela Merkel, eine neue Regierungskoalition in Deutschland zu bilden. Die Auf- und Ablehnung gegenüber dem Establishment wird immer wirkungsmächtiger.

In den letzten Jahrzehnten hat die Einkommensungleichheit in fast allen Ländern zugenommen, jedoch mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, was darauf hindeutet, dass der Politik eine wichtige Rolle zukommt. Der Einkommens- und Vermögensungleichheit etwas entgegenzusetzen, erfordert wichtige Änderungen in der nationalen und globalen Steuerpolitik. Auch die Bildungspolitik, die Unternehmensführung und die Lohnpolitik müssen in vielen Ländern neu bewertet werden.

Es muss den Regierenden wo auch immer klar gemacht werden, dass Investitionen in die Zukunft auch kurzfristig nur dann erfolgreich sein werden, wenn sie das gegenwärtige Ausmaß an Einkommens- und Vermögensungleichheit korrigieren und eine weitere Zunahme von sozialen Spaltungen verhindern.

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