3. März 2017 Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Die Polemik und die Fakten

Marktschreier der Armut?

Eigentlich sollte Armut in der Bundesrepublik ein zu vernachlässigendes Problem sein. Angesichts eines sozialstaatlichen Netzes müsste es in diesem Land niemandem wirklich schlecht gehen. Und eigentlich müssten alle teilhaben können am Aufschwung und am wirtschaftlichen Erfolg. Aber die Armut ist immer krasser Bestandteil unseres Lebensalltags.

Obwohl die Wirtschaft seit Jahren brummt, die Exportüberschüsse von Rekord zu Rekord eilen und die Arbeitslosigkeit den niedrigsten Stand seit einem Jahrzehnt erreicht hat, gehören Pfandflaschensammler, Armuts-Tafeln, Bettler etc. zu unübersehbaren Erscheinungen unseres Alltags und sind in den letzten Jahren allgegenwärtig geworden. In Deutschland steigt mit dem Wohlstand auch die Armut. Einem extrem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind Arbeitslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien, Ausländer und Rentner. Und die Mehrheit der BürgerInnen empfindet die Verteilung in Deutschland – wie Umfragen belegen – als ungerecht.

Gleichwohl wettern viele Medien, etliche Wissenschaftler und Politiker gegen die Armutsberichtserstattung. Der Professor für Wirtschafts- und Sozialstatistik Walter Krämer hält gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland die Weise, wie Armut gemessen wird, für »unseriös und schwachsinnig«. Wer seriös herausfinden wolle, wie sich Armut entwickelt, müsse sie an Notlagen festmachen. »Niemand, der sich ernsthaft mit dem Thema befasst«, nehme die offizielle Statistik noch ernst. Der Paritätische Wohlfahrtsverband – gegen dessen jährlichen Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland[1] richtet sich die Polemik – hätte kein Interesse an der tatsächlichen Entwicklung in Deutschland. »Dabei käme nämlich heraus, dass Armut seit Jahren sinkt.«

Die zentrale Botschaft des Paritätischen Berichts, den auch die FAZ polemisch mit »Marktschreier der Armut« kommentierte, jedoch lautet: In 2015 ist die Armut trotz guter ökonomischer Rahmenbedingungen weiter gestiegen. Die Armutsquote hat mit 15,7% ein neuerlicher Rekordhoch erreicht. Dies bedeutet, dass im Jahr 2015 knapp 13 Mio. Menschen unter der Einkommensarmutsgrenze gelebt haben. Vom allgemeinen Trend wachsender Armut sind alle Bundesländer betroffen. Gleichzeitig haben sich die Lebensverhältnisse aber weiter auseinanderentwickelt, d.h. die Unterschiede in der Betroffenheit von Armut zwischen und auch innerhalb der einzelnen Bundesländer haben sich vergrößert.

Bei den von Armut und sozialer Ausgrenzung besonders betroffen Problemgruppen (Alleinerziehende, Familien mit drei und mehr Kindern, Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau, MigrantInnen mit oder ohne deutschen Pass) hat die Armut weiter zugenommen. Im längerfristigen Vergleich zeigt sich zudem, dass auch Erwerbstätige und vor allem RentnerInnen immer stärker von Armut bedroht sind. Schließlich wird im Armutsbericht auch darauf hingewiesen, dass Menschen die von Armut betroffen sind, auch eine deutlich geringere Lebenserwartung haben.[2]

Datenbasis des Armutsberichts bildet der Mikrozensus, bei dem nach einer Zufallsstichprobe jährlich etwa ein Prozent aller Haushalte in Deutschland u.a. auch nach ihrer Einkommenssituation befragt werden. Dies sind ca. 342.000 Haushalte mit etwa 691.000 Personen. Der Armutsbericht wie auch das Statische Bundesamt folgen in ihrer Berichterstattung dabei dem Armutsbegriff der EU. Arm sind danach alle, die über so geringe Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedstaat in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist. Als einkommensarm wird danach im Armutsbericht jede Person gezählt, die mit ihrem Einkommen unter 60% des mittleren Einkommens liegt. In Euro lag der Wert, den die amtliche Statistik als Armutsgefährdungsschwelle bezeichnet, 2015 für einen Single bei 942 Euro und für einen Paarhaushalt mit zwei kleinen Kindern bei 1.978 Euro.

Absehbar war, dass der Armutsbericht der Sozialverbände auch in diesem Jahr nicht ohne Widerspruch bleiben würde – vor allem in Zeiten, in denen der neue SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz das Thema Ungleichheit und soziale Gerechtigkeit ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung gestellt hat, und damit großen Widerhall findet. Die Einwände, die von Teilen der ökonomischen und politischen Eliten dabei geltend gemacht werden, sind keineswegs neu. Einerseits wird polemisiert gegen den relativen Armutsbegriff.[3]

Wer weniger als 60% des Medianeinkommens habe, sei keineswegs arm. »Es ist grottenschlecht, was in Deutschland gemacht wird,« so Walter Krämer von der Universität Dortmund im Chor mit dem Institut der deutschen Wirtschaft. Man dürfe Armut nie am mittleren Einkommen festlegen. Damit würde sich die Armutsquote auch nicht verändern, wenn plötzlich alle Menschen das Doppelte ihres Gehaltes verdienen würden. Er schlägt vor, Armut an den »Dingen festzulegen, die ein Mensch braucht, um nicht mehr als arm zu gelten«.

Das von der SPD-Politikerin Andrea Nahles geführte Bundesarbeitsministerium kritisiert wenig überraschend gleichfalls den jüngsten Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Die Fokussierung auf die Armutsrisikoquote sei verkürzt. Und dass die Armutsrisikoquote zuletzt gestiegen ist, sei keine überraschende Erkenntnis. Denn nach der Interpretation des Ministeriums ergibt sich dies schon daraus, dass es »erhebliche Beschäftigungs- und Einkommenszuwächse ... über die gesamte Breite der Einkommensverteilung« gegeben habe. Also: Wenn der Wohlstand insgesamt steigt, nimmt auch das mittlere Einkommen zu, das als Orientierung für die Armutsschwelle gilt. Die Zunahme der Armutsziffern sei ein statistisches Phänomen.

Auch Georg Cremer, Generalsekretär der Caritas, kritisiert die unklare Trennung zwischen relativer und absoluter Armut in dem Bericht. Wer mit weniger als 60% des mittleren Einkommens auskommen müsse, sei deswegen nicht automatisch arm. In die Statistik fallen auch Studierende und Auszubildende, die in der Regel kein hohes Einkommen vorweisen können. Deswegen seien diese nicht unbedingt von Armut betroffen. Der Armutsbericht räumt dies zwar ein, verweist aber auf Bevölkerungsgruppen wie Obdachlose, in Heimen untergebrachte Behinderte und Pflegebedürftige, die allesamt nicht in die Armutsstatistik eingingen.


Entkoppelung von Armuts- und Wirtschaftsentwicklung

Beim letzten Armutsbericht mit Daten aus 2014 schien der lange Aufwärtstrend der Armutsquote seit 2006 erst einmal gestoppt. Die Zahlen aus 2015 zeigen nun aber, dass das nur eine leichte Delle war und sich der langjährige Aufwärtstrend bei den von Armut betroffenen BürgerInnen weiter fortsetzt.

Wie in den meisten der letzten zehn Jahre schlug sich die insgesamt gute Wirtschaftslage des Jahres 2015 mit einem preisbereinigten Bruttoinlandsproduktzuwachs von 1,7% nicht in einem Abbau der Armut nieder. »Vielmehr muss mit Blick auf die letzten zehn Jahre konstatiert werden, dass wirtschaftlicher Erfolg offensichtlich keinen Einfluss auf die Armutsentwicklung hat. Ganz im Gegenteil: Gemessen an der Armutsquote geht der zunehmende gesamtgesellschaftliche Reichtum mit zunehmender Ungleichheit und der Abkopplung einer immer größeren Zahl von Menschen vom allgemeinen Wohlstand einher.«

Erneut ging dabei der Anstieg der Armutsquote in 2015 mit einem weiteren Rückgang der Arbeitslosenquote und der Hartz IV-Quote einher. Dies zeigt, dass höhere Beschäftigungszahlen allein nicht für einen stärkeren Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen oder auch nur eine weitere Spaltung verhindern. Der Hintergrund ist die zunehmende Prekarisierung der Lohnarbeit[4] mit einem deutlich ausgeweiteten Niedriglohnsektor und vielen unsicheren, prekären Arbeitsverhältnissen. Ohne verteilungspolitischer Korrekturen, sei es durch eine deutliche Anhebung von unteren Löhnen und insbesondere des Mindestlohnes oder aber bessere Transferleistungen für das untere Einkommenssegment, wird sich an dieser Grundkonstellation nichts ändern.


Geteiltes Deutschland

Die Armut ist in Deutschland 2015 fast flächendeckend angestiegen. Nur vier Länder (Sachsen-Anhalt, Saarland und Rheinland-Pfalz) konnten ihre Armut abbauen. Besonders erfreulich dabei die Entwicklung in Sachsen-Anhalt, wo die Armutsquote von 21,3 auf 20,1% sank. In Nordrhein-Westfalen ist die überdurchschnittliche Armutsquote von 17,5% zumindest nicht weiter gestiegen. In elf Bundesländern wuchs die Armut jedoch. Die mit Abstand stärkste Zunahme zeigt das Land Berlin. Hier sprang die Armutsquote von 20 auf gleich 22,4%, was einer Steigerung um 12% entspricht.

Sehr deutliche Zuwachsraten sind des Weiteren in Thüringen (+ 6,2 %), Schleswig-Holstein (+ 5,8 %), Niedersachsen (+ 4,4 Prozent) und Hessen (+ 4,3 %) zu verzeichnen. Im Land Bremen wuchs die Armut zwar »nur« um 0,7%, jedoch auf außerordentlich hohem Niveau. Sie stieg von 24,1 auf 24,8%.

Im Länderranking zeigt sich Deutschland viergeteilt:

  • Die wohlhabenden Südländer Bayern und Baden-Württemberg heben sich mit Armutsquoten von 11,6 und 11,8% ganz deutlich und positiv von den anderen Ländern ab.
  • Um den gesamtdeutschen Wert von 15,7% herum (bei einer Spanne von ± 1,5 Prozentpunkten) liegen die Länder Hessen (14,4 %), Schleswig-Holstein (14,6 %), Rheinland-Pfalz (15,2%), Hamburg (15,7%), Niedersachsen (16,5%), Brandenburg (16,8%) und das Saarland (17,2 %).
  • Deutlich überproportional von Armut betroffen sind die Länder Nordrhein-Westfalen (17,5 %), Sachsen (18,6%) und Thüringen (18,9%).
  • Abgeschlagen sind weiterhin Sachsen-Anhalt (20,1%), Mecklenburg-Vorpommern (21,7 %), Berlin (22,4 %) und Bremen (24,8%). Insbesondere Berlin und Bremen haben sich dabei mit überproportionalen Wachstumsraten in 2015 noch weiter vom Mittelfeld abgesetzt.

Bei Blick auf die Regionen zeigt sich die regionale Zerrissenheit, die in den Armutsquoten ihren Ausdruck findet, noch deutlicher. Die Spanne reicht hier von 8,1% Armut im Raum München bis zu 33,4% Armut in Bremerhaven. Das sind 25,3 Prozent-Punkte Differenz. 2005 waren es noch »lediglich« 17,5 Prozentpunkte Unterschied.


Uneinheitliche Entwicklung der Armut

Alle ostdeutschen Bundesländer konnten in den letzten zehn Jahren ihre Armut signifikant abbauen, um 10% und mehr in Brandenburg (von 19,2 auf 16,8%), Sachsen-Anhalt (von 22,4 auf 20,1%) und Mecklenburg-Vorpommern (von 24,1 auf 21,7%). Um immerhin noch 5 bzw. 3,1 Prozent ging auch in Thüringen (von 19,9 auf 18,9 %) und Sachsen (von 19,2 auf 18,6 %) die Armut zurück. Der Abbau erfolgte in all diesen Ländern allerdings auf sehr hohem Niveau, so dass trotz dieser positiven Entwicklung insbesondere Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit Armutsquoten von über 20% im Bundesvergleich nach wie vor sehr schlecht dastehen.

Bei der Mehrzahl der Bundesländer aber ist im Zehn-Jahres-Vergleich ein deutlicher Zuwachs der Armut auszumachen. Darunter fallen sowohl Länder mit sehr hohen Armutsquoten wie Bremen oder Berlin als aber auch Bundesländer mit vergleichsweise sehr guten Werten. So haben auch Baden-Württemberg oder Hessen in den letzten Jahren überproportionale Steigerungsraten. Unter dem Strich stechen jedoch Bremen, Berlin und Nordrhein-Westfalen  im Zehn-Jahres-Vergleich als besonders problematisch heraus.

»Bremen stellt nun seit Jahren das Schlusslicht im Länderranking dar. Die Armutsquote beträgt dort mittlerweile 24,8%. Mit anderen Worten: Jeder vierte Einwohner in Bremen lebt unter der Armutsschwelle. Die Hartz-IV-Quote beträgt 18,5%. Bei den Kindern sind es sogar 29%. Das Ganze in einem Bundesland, das immerhin das zweithöchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Deutschland erwirtschaftet. Es ist ein typisches ›Speckgürtel-Problem‹. Von den rund 310.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Land Bremen kamen über 40% aus anderen Bundesländern, arbeiteten damit in Bremen, wohnten jedoch außerhalb.«

Berlin hat mit 22,4% mittlerweile die zweithöchste Armutsquote unter den Bundesländern. Mit Ausnahme von 2014 stieg die Armut in der Hauptstadt seit 2006 kontinuierlich. Berlin hat mit 19,9% die höchste Hartz-IV-Quote aller Länder und mit 31% auch die höchste Hartz-IV-Quote bei den Kindern. Die deutlichste Differenz zeigt im Zehn-Jahres-Vergleich das einwohnerstärkste Bundesland Nordrhein-Westfalen. Um 21,5% stieg die Armut zwischen 2005 und 2015 an (von 14,4 auf 17,5%). Ist der Anstieg 2015 bei 17,5% auch erst einmal gestoppt, werden jedoch erst die nächsten Jahre zeigen können, ob hiermit der Beginn einer Trendwende verbunden sein kann oder nicht.

Die Hartz-IV-Quote in Nordrhein-Westfalen ist seit 2011 entgegen dem Bundestrend wieder ansteigend und betrug 2015 11,7%, die Hartz-IV-Quote bei den Kindern sogar 18,1%

Als großes Flächenland finden wir in Nordrhein-Westfalen sowohl Regionen mit stark unterdurchschnittlicher Armut als auch Regionen, die man mit Blick auf die Armutsquote im bundesweiten Vergleich bereits als abgehängt bezeichnen kann. Auf der einen Seite sind es die Regionen Arnsberg (13,7 %), Bonn (13,5 %), Münster (14,6 %), Paderborn (15,1 %) und Siegen (14,4 %), die nicht nur unterproportional von Armut betroffen sind, sondern die durch eine gute Entwicklung 2015 dafür sorgten, dass der Aufwuchs der Armutsquote für ganz Nordrhein-Westfalen gebremst werden konnte.

Auf der anderen Seite ist es auch in 2015 das Ruhrgebiet, das die Armutsentwicklung Nordrhein-Westfalens weiterhin prägt. In keiner anderen Region dieser Größenordnung wuchs die Armut im Zehn-Jahres-Vergleich mit 24,7% annähernd so stark wie im Ruhrgebiet (von 16,2 auf 20,2%). Jeder fünfte Einwohner dieses größten Ballungsraumes Deutschlands mit seinen über fünf Millionen Menschen muss damit rechnerisch zu den Armen gezählt werden.

Das Ruhrgebiet und Berlin müssen mit Blick auf Bevölkerungszahl und längerfristige Trends als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands angesehen werden, die besondere Aufmerksamkeit verdienen.


Von Armut besonders betroffenen Gruppen

2015 ist die Armutsquote bei allen bekannten Risikogruppen ein weiteres Jahr in Folge angestiegen. Dies waren:

  • Alleinerziehende[5] mit einer Quote von 43,8%,
  • Familien mit drei und mehr Kindern (25,2%),
  • Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5%)
  • sowie Ausländer (33,7%)
  • oder Menschen mit Migrationshintergrund generell (27,7 %).

Im Zehn-Jahres-Vergleich ist die Armut bei Familien mit drei und mehr Kindern (von 26,3 auf 25,2%), sowie bei Migrantinnen ohne deutschen Pass (- 0,6%) und MigrantInnen mit deutschem Pass (- 0,5 Prozentpunkte) leicht zurückgegangen. Bei den anderen Risikogruppen nahm die Armut seit 2005 umso deutlicher zu: Stieg die allgemeine Armutsquote in diesem Zeitraum um 1 Prozentpunkt (+ 6,8 %), waren es bei den Alleinerziehenden 4,5 Prozentpunkte (+ 11,5%), bei den Erwerbslosen 9,4 Prozentpunkte (+19,0 %)und bei den schlecht Qualifizierten 8,4 Prozentpunkte (+ 36,4%).

»Zwei Gruppen fallen darüber hinaus im längerfristigen Vergleich auf: Es sind Erwerbstätige und Rentner. Der Prozentsatz derjenigen, die trotz Erwerbstätigkeit unter der Einkommensarmutsgrenze leben, stieg seit 2005 von 7,3 auf 7,8 Prozent, ein klarer Fingerzeig Richtung Niedriglohnsektor, erzwungener Teilzeitbeschäftigung oder auch eines nicht ausreichenden Familienlastenausgleichs.«

Bei den RentnerInnen stieg die Armut innerhalb von zehn Jahren von 10,7 auf 15,9%. Das ist ein Zuwachs um 49%. Lag die Armutsquote von RentnerInnen vor zehn Jahren noch weit unterhalb der durchschnittlichen Armutsquote, liegt sie nun seit zwei Jahren bereits darüber. RentnerInnen entwickeln sich, beachten wir den statistischen Trend, zu einer besonderen Risikogruppe der Armut. Man kann davon ausgehen, dass von den rund drei Mio. altersarmen RentnerInnen etwas über eine halbe Million von Altersgrundsicherung leben und dass rund 2,5 Mio. mit ihrem Einkommen nur knapp darüber liegen oder aber zu denjenigen gehören, die zwar einen Anspruch auf staatliche Fürsorge hätten, ihn aber aus unterschiedlichen Gründen nicht geltend machen. »Irene Becker kommt in ihren Berechnungen, die sich aus methodischen Gründen allerdings auf das Jahr 2007 beziehen, auf eine Dunkelzifferquote von 68 Prozent. Das heißt von eine Million älterer Menschen, denen diese Leistung in 2007 zugestanden hätte, nahmen sie nur 336.000 in Anspruch.«

Die Zahl derer, die auf Grundsicherung im Alter angewiesen sind, hat sich seit Einführung dieser Listung 2003 mehr als verdoppelt. Die Grundsicherungsquote ist von 1,7 auf 3,1% gestiegen. Wenn sie damit auch noch klar unter der Gesamtmindestsicherungsquote (Hartz IV und Grundsicherung für alte und erwerbsgeminderte Menschen) von 9,3% liegt, ist angesichts der Dynamik dieser Entwicklung kein Anlass zur Entwarnung gegeben. Vielmehr werden in den nächsten 10 bis 20 Jahren zunehmend Menschen mit gebrochenen Erwerbsverläufen ins Rentenalter kommen und auf eine Rente stoßen, deren Niveau politisch gewollt sinkt. Nicht nur die relativen Armutsquoten bei Rentnerhaushalten werden damit weiter ganz stark überproportional ansteigen, sehr zügig werden sich auch die Zahlen der BezieherInnen von Grundsicherung im Alter nicht mehr wenig von denjenigen bei Hartz IV unterscheiden.

Auch bei den SeniorInnen wiederholt sich das Bild von der gesellschaftlichen Spaltung: eine Mehrheit der älteren Menschen in Deutschland blickt nach einer neuen Studie[6] zufrieden auf das eigene Leben und sieht auch die persönliche wirtschaftliche Lage positiv. Eine deutliche Mehrheit von 85% der Befragten ist mit ihrem Leben zufrieden. Mit Blick auf die eigene Generation wendet sich das Bild. Rund die Hälfte der Befragten schätzt, dass die materielle Situation von Senioren nur mäßig ist. Ein Drittel vermutet sogar, dass es ihnen schlecht geht. Fakt ist also auch in dieser Gruppierung: Die Mehrheit partizipiert an der Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands. Ein wachsender Teil der Älteren ist aber von diesem Trend abgekoppelt. Wer den armen Alten wirklich helfen will, muss die Grundsicherung im Alter weiterentwickeln, statt sie zu diskreditieren. Wie der Regelsatz bei Hartz IV ist die Grundsicherung auf Kante genäht. Etwas mehr Großzügigkeit würde den armen Alten unmittelbar zugutekommen.


Kaufkraftunterschiede und Armut

Die auf den Bundesmedian bezogenen Armutsquoten berücksichtigen die unterschiedlichen Preisniveaus in den Bundesländern und Regionen nicht. Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil vor allem in den städtischen Metropolen die massiven Mieterhöhungen erheblichen Einfluss auf die Einkommenssituation breiter Teile der Bevölkerung haben. Im Armutsbericht wird denn auch eingeräumt: »Gelegentlich wird eingewandt, dass doch beispielsweise in Duisburg oder Berlin ein ganz anderes Preisniveau herrschen wird als etwa in München und eine gemeinsame Armutsschwelle für München, Berlin und Duisburg in die Irre führen müsse. Dieses Argument ist durchaus diskussionswürdig.«

Dem versucht das Institut der deutschen Wirtschaft[7] Rechnung zu tragen, das bei der Armutsrisikoberechnung Kaufkraft und damit die Preisunterschiede an den Wohnorten mit einbezieht: Das höchste Armutsrisiko tragen dann nicht mehr die ländlichen Regionen, sondern westliche Großstädte. Bei allen methodischen Einwände, die gegen diese Verfahrensweise geltend gemacht werden müssen,[8] gibt sie Hinweise, dass die tatsächliche Armut in den städtischen Metropolen wohl noch höher ist als im Mikrozensus ausgewiesen.


Fazit

Der Armutsbericht des Paritätischen zeigt eindringlich die fortschreitende soziale Spaltung in der Berliner Republik. Die Gegenmaßnahmen liegen auf der Hand: Regulierung des Arbeitsmarkts (Mini-Jobs, Werksverträge, Leih- und Zeitarbeit, Anhebung des Mindestlohns), Anhebung der Grundsicherungsleistungen, Beendigung des Sanktionsregimes bei Hartz IV, Verbesserung der Situation der Alleinerziehenden und Anhebung des Rentenniveaus. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat einige Korrekturen der Agenda 2010 angekündigt, weitere müssten folgen, um die soziale Spaltung im Land, vor allem die Armut, weiter einzudämmen.

[1] Der Paritätische Gesamtverband, Menschenwürde ist Menschrecht. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2017.
[2] Siehe dazu Thomas Lamert/Rolf Rosenbrock, Armut und Gesundheit, in: ebd. S. 98ff.
[3] Siehe dazu: Irene Becker, Kritik am Konzept relativer Armut – berechtigte oder irreführend?, in WSI-Mitteilungen 2/2017, S. 98ff.
[4] Siehe dazu das Kapitel »Atypische Beschäftigung« im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung sowie Bischoff/Müller, Soziale Ungleichheit als Nährboden von »politischer Wut«. Die Ungleichheit von Einkommen und Vermögen im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in: Sozialismus 2/2017.
[5] Siehe dazu: Antje Asmus/Franziska Pabst, Armut Alleinerziehender, in: Der Paritätische Gesamtverband, Menschenwürde ist Menschrecht, a.a.O., S. 22ff.
[6] Allensbach Studie; Siehe FAZ-Bericht vom 1.3.2017, Mehrheit der Senioren sieht Leben positiv.
[7] Klaus-Heiner Röhl/Christopher Schröder, Regionale Armut in Deutschland, IW-Analysen Nr. 113.
[8] Der Paritätische Gesamtverband, Menschenwürde ist Menschrecht, a.a.O., S. 8.f.

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