26. Juni 2017 Joachim Bischoff / Björn Radke

Martin Schulz und die soziale Gerechtigkeit

Anfang des Jahres feierten die deutschen Sozialdemokraten die Chance zur Abschüttelung eines politischen Jochs. Der mit traumhafter Mehrheit gewählte Kanzlerkandidat Martin Schulz schien das Unmögliche möglich zu machen: Die Sozialdemokratie schickte sich an, sich aus der Fessel der Großen Koalition zu befreien. In der Bundesrepublik sollte eine linke politische Alternative zur großen Koalition unter Führung von Merkel möglich werden.

Der sogenannte Schulz-Effekt schien die Zauberformel zur Mobilisierung der WählerInnen. Die nachfolgenden Abstürze der SPD bei den Landtagswahlen hat sie brutal zurück auf den Boden der Realität geholt. Nach einem kurzen Höhenflug ist die SPD zum Wahlparteitag Ende Juni wieder in der politischen Talsohle angekommen. Umfragen sehen die Sozialdemokraten nur noch bei 23 bis 25%.

Schulz zeigt sich trotz der niederschmetternden Umfragewerte weiterhin siegessicher. »Am Ende werden wir vorn liegen.« SPD-Generalsekretär Hubertus Heil bekräftigt, das Rennen sei »vollständig offen«. 30% plus X seien drin. Den erneuten Aufschwung soll eine aggressive Abgrenzung gegenüber den Unionsparteien und ihrem Führungspersonal bringen.

Der Parteivorsitzende und Kanzlerkandidat stimmt seine Partei mit scharfer Kritik auf den Wahlkampfendspurt ein. »Wir werden klarmachen, dass die andere Seite nichts hat«, sagte Martin Schulz auf dem SPD-Parteitag in Dortmund. Die CDU von Angela Merkel sei eine inhaltsleere Partei. »Ich sage Ihnen voraus, die größte Gefahr ist die Arroganz der Macht. Das spüren Menschen.«

Programmatische Grundlage für die Angriffsstrategie ist das fast einstimmig verabschiedete Wahlprogramm: »Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit«. Die Partei gibt damit den Tenor für den Bundestagswahlkampf vor. Um dem Vorwurf zu entgehen, die Sozialdemokraten setzen zu einseitig auf Gerechtigkeit, heißt es im Untertitel außerdem: »Zukunft sichern, Europa stärken«. Der frühere EU-Parlamentspräsident setzt außerdem auf ein klares Bekenntnis zur Europäischen Union, allerdings mit stärkeren sozialen Akzenten.


Wie sieht die sozialdemokratische Annäherung an die Gerechtigkeit aus?

Wichtigster Hebel ist die Steuerpolitik. Die SPD verspricht, kleine und mittlere Einkommen sowie Familien um jährlich 15 Mrd. Euro zu entlasten. Im Gegenzug sollen der Spitzensteuersatz und die Reichensteuer angehoben werden, allerdings erst ab höheren Jahreseinkommen als bisher. Parteiintern umstritten war vor allem die Vermögensteuer: Seit Jahren fordern die Sozialdemokraten in ihrem Grundsatzprogramm deren Wiedereinführung, SPD-Linke und der Juso-Nachwuchs hätten diese symbolträchtige Forderung auch gerne im Wahlprogramm gesehen.

Schulz hat dagegen eine Reform der Erbschaftsteuer innerparteilich durchgesetzt, um reiche Firmenerben auf diesem Weg stärker an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben zu beteiligen. Das Projekt Vermögensteuer soll in einer Parteikommission weiterbearbeitet werden.

Die öffentliche Rentenkasse hat im vergangenen Jahr ein Minus von 2,2 Mrd. Euro eingefahren. Eine aktuelle Untersuchung[1] kommt zu dem Schluss, dass ab 2036 jeder fünfte Neu-Rentner von Armut bedroht ist. Im Jahr 2015 war es noch gut jeder Sechste. Die Renten sind mithin zu gering.

Die Hauptgründe für das geringe Rentenniveau: Auf dem Arbeitsmarkt gebe es mit Niedriglöhnen und häufig lückenhaften Erwerbsbiografien zwei Faktoren, bei deren Zusammenwirken Altersarmut droht. Es sei eine Illusion zu glauben, man könne durch Privatvorsorge die Löcher schließen, die durch die Kürzungsoperationen in die Rente gerissen worden seien.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble verteidigt dagegen die Logik der Ergänzung der gesetzlichen Rente durch privates Sparen: »Wenn die Lebenserwartung weiter steigt, wird die Lebensarbeitszeit auf Dauer nicht unverändert bleiben können. Alles andere ist der durchsichtige Versuch, den Wähler zu verdummen.« Mit den Plänen der SPD werde das bewährte System des Generationenvertrags in der Rentenversicherung nicht gerettet werden können.

Die SPD will das Rentenniveau durch höhere Beiträge und Staatszuschüsse stabilisieren. Das gesetzliche Rentenniveau soll bis zum Jahr 2030 auf dem heutigen Stand von 48% eingefroren werden. Nach Berechnungen der Bundesregierung würde das Rentenniveau ohne Korrekturen weiter bis dahin auf 44,7% sinken. Dieser Schritt in Richtung Gerechtigkeit geht den Gewerkschaften und Sozialverbänden allerdings nicht weit genug. Sie fordern, das Rentenniveau müsse langfristig wieder auf 50% steigen.

Auch auf dem Arbeitsmarkt soll eine deutliche Verbesserung erreicht werden. In ihrem Wahlprogramm tritt die SPD dafür ein, das Arbeitslosengeld für diejenigen zu verlängern, die an einer Qualifizierungsmaßnahme teilnehmen (»Arbeitslosengeld Q«). Sie sollen nicht mehr so schnell wie bisher auf Hartz-IV-Niveau sinken. Außerdem soll es ein Recht auf Weiterbildung geben für Arbeitslose, die innerhalb von drei Monaten keine neue Beschäftigung finden.

Im Grundsatz halten die Sozialdemokraten weiter an Hartz IV fest, auch wenn sie an einigen Punkten Nachbesserungen versprechen: So soll das Schonvermögen verdoppelt werden, außerdem sollen die schärferen Sanktionen für unter 25-Jährige gestrichen werden.

Mit einer weiteren Operation soll die Prekarisierung der Lohnarbeit zurückgedrängt werden: Arbeitsverträge sollen nicht mehr ohne Sachgrund befristet werden können. Trotz aller Korrekturen, zu denen die SPD-Führung in der Arbeitsmarktpolitik bereit war, bewegt das Thema die Basis immer noch stark: zu Leiharbeit, Werkverträgen oder Hartz-IV-Sanktionen gab es auf dem Parteitag etliche Änderungsanträge. Sie verschwanden allerdings in der großen Schublade.

In Sachen Aufrüstung will die SPD künftig nicht mehr dem von US-Präsident Trump und der NATO angeführten Zeitgeist folgen. Schulz will die SPD wieder als Friedenspartei im Sinne Willy Brandts aufgewertet sehen. »Aufrüstung und Säbelrasseln lösen keine Konflikte«, heißt es im Wahlprogramm. Dort spricht sich die SPD auch gegen eine »apodiktische Festlegung« auf einen Anteil der jährlichen Ausgaben für die Bundeswehr auf 2% des Bruttoinlandsprodukts aus, wie sie die Staats- und Regierungschefs der NATO festgelegt hatten.

Dies käme einer Verdoppelung der derzeitigen Ausgaben gleich, rechnet die SPD vor. Mehr als 70 Mrd. Euro für die deutsche Rüstungs- und Verteidigungspolitik wären »völlig überdimensioniert«. Außerdem wird eine Eindämmung von Rüstungsexporten gefordert, die Lieferung von Kleinwaffen in Drittstaaten außerhalb von EU, NATO und vergleichbaren Ländern soll verboten werden.

Zu den weiteren Themen der Zeit für Gerechtigkeit gehören:

  • Asylpolitik: Das Recht auf Asyl müsse unangetastet bleiben, zugleich spricht sich die SPD dafür aus, die EU-Außengrenzen besser vor illegalen Grenzübertritten zu schützen. Unterschiede zur Union sind sichtbar. So stellt die SPD fest, für Menschen, die in Deutschland in erster Linie Arbeit suchen, sei das Asylsystem der falsche Weg. Für sie soll es ein Einwanderungsgesetz geben, das regeln soll, wer aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland einwandern darf.
  • Gleichberechtigung: In der Großen Koalition konnte die SPD sich mit der Forderung nach gleichen Rechten für Schwule und Lesben nicht durchsetzen. Doch für eine künftige Regierungsbeteiligung hat der Parteitag die Realisierung der »Ehe für alle« zur Bedingung erhoben.
  • Kita-Ausbau und Studienfinanzierung: Kostenfreie Kita-Plätze ab 2025 gehören zum Wahlversprechen der SPD. Beim Bafög hat sie das Programm auf Wunsch der Jusos nachgebessert: Die Förderung solle »bedarfsdeckend« sein, vorher war lediglich eine Verbesserung der Leistung vorgesehen.

Die Reaktion auf »Zeit für mehr Gerechtigkeit« nicht überwältigend. Die politischen Kontrahenten von rechts – Union, FDP – sehen sich durch dieses Politikangebot nicht herausgefordert und werden an ihrem bisherigen Kurs festhalten. Auch bei den Grünen, der Linkspartei, den Gewerkschaften und Sozialverbänden hält sich die Begeisterung in Grenzen.

Positiv zu bewerten ist zweifellos die Absage an die Fortführung der restaurativen Konsolidierungspolitik. Es wird in den nächsten Jahren – bei weiterer Kontinuität der Wirtschaftskonjunktur – Überschüsse im Bundeshaushalt geben. Eine deutliche Verbesserung der Verteilung von Finanzmitteln unter Bund, Ländern und Gemeinden ist bereits beschlossen. Das Plädoyer der SPD, die Haushaltsüberschüsse für öffentliche Investitionen auszugeben, und nicht in erster Linie für Steuersenkungen oder Schuldenabbau, ist zu begrüßen.

Mit Blick auf andere Parteien der europäischen Sozialdemokratie hätte man allerdings auch hier ein deutlicheres Zeichen für Gerechtigkeit setzen können. Die Investitionsoffensive ist bescheiden ausgefallen und bei der Verbesserung der Einkommensverhältnisse bleibt der Gerechtigkeitsansatz zu bescheiden. Für RentnerInnen, Alleinerziehende und Menschen mit geringen Einkommen hätte das Wahlprogramm eigentlich höhere Transfereinkommen vorsehen müssen.

Für uns ist das Wahlprogramm der SPD ein zaghafter, oft zu bescheidener Schritt. Wie zu erwarten, greifen Teile der Linkspartei zu härteren Formeln der rhetorischen Abgrenzung. Sahra Wagenknecht setzt ihr bereits auf dem LINKEN-Parteitag begonnenes Sozialdemokratie-Bashing fort: »Tatsächlich hat die Partei nun ein Wahlprogramm beschlossen, das sich noch ängstlicher vor den Wünschen der Konzernlobbyisten und Superreichen verbeugt als frühere Programme. Dazu passt, dass die SPD sich noch nicht mal mehr traut, eine Besteuerung der Vermögen von Multimillionären und Milliardären zu fordern, die in den letzten Jahren dank staatlicher Umverteilungspolitik dramatisch gewachsen sind. Schulz hat Frau Merkel einen demobilisierenden Wahlkampf vorgeworfen. Er sollte sich an die eigene Nase fassen.«

Und die Spitzenkandidatin der Linkspartei fährt fort: »Eine SPD, die nichts wesentlich anders machen will als die Union, braucht kein Mensch, und so mobilisiert man auch keine Wähler … Das ganze Wahlprogramm sendet die Botschaft: Wir wollen weitermachen wie in den letzten Jahren. Wachsende Ungleichheit, immer mehr prekäre Jobs, Abbau sozialer Sicherheit: die SPD hat sich mit allem abgefunden. Oder nehmen Sie die Rente. 2013 hat die SPD wenigstens noch gefordert, die Rente mit 67 zurückzunehmen. Jetzt will sie nur noch den Status quo erhalten. Das alles kann ich nicht anders interpretieren als ein Werben für ein Weiterregieren mit Frau Merkel. Als Juniorpartner.«


Schwarz-Gelbe Perspektiven und Reformalternativen

Es ist absehbar, dass nach den Bundestagswahlen im Herbst keine soziale Alternative zustande kommen wird. Allerdings ist auch die These von der bewusst angestrebten Fortführung einer Großen Koalition durch die SPD nicht mit Argumenten untersetzt und mit Blick auf die Tendenzen in den Wahlumfragen auch ziemlich optimistisch. Es ist durchaus im Bereich des Möglichen, dass die Berliner Republik eine Neuauflage einer schwarz-gelben Koalition nicht erspart bleibt.

Die Regierungspraxis wäre dann eine weitere Schwächung der Gewerkschaften, die Verstärkung der Prekarisierung, die Verschärfung der Einkommensunterschiede und eine weitere Ausbreitung der Altersarmut. Die fundamentalistische Strömung in der Linkspartei wird sich dann der Frage stellen müssen, wie groß der eigene Anteil an der Revitalisierung des Neoliberalismus in der Berliner Republik ist.

Dass auch andere Entwicklungen innerhalb der Sozialdemokratie in Europa denkbar sind, sehen wir gerade in Großbritannien. Labour-Chef Jeremy Corbyn ist auf dem Glastonbury-Musikfestival in England gefeiert worden. »Eine andere Welt ist möglich!«, rief er den Festival-Teilnehmern zu und warb für eine pazifistische, ökologische und antirassistische Politik.

Mit Blick auf die Brandkatastrophe im Londoner Sozialbau Grenfell Tower fragte Corbyn: »Ist es gerecht, dass so viele Menschen in Armut leben, in einer Gesellschaft mit so viel Reichtum?« Könnte Martin Schulz ein ähnliches Beinahe-Wunder gelingen? Nicht nur der Chef des Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann verlangt: »Wir brauchen einen deutschen Corbyn«. In einem sind »Old Labour« und die oft als »altlinke Politiker von vorgestern« Denunzierten ziemlich modern: im Umgang mit den sozialen Netzwerken.

Es sah lange Zeit nicht gut aus für die britische Arbeiterpartei. Als Jeremy Corbyn nach der Niederlage in den britischen Unterhauswahlen den Parteivorsitz von Ed Miliband im September 2015 übernahm, wurde von vielen Seiten der Absturz der Labour Party vorhergesagt. Corbyn konnte eine deutliche Mehrheit unter den Parteimitgliedern und registrierten Unterstützern erzielen. Nicht nur parteipolitische Gegner attackierten ihn, auch die eigene Fraktion im Unterhaus und viele Parteifunktionäre rebellierten.

Der Umschwung hatte viel mit der programmatischen Erneuerung von Labour zu tun, was daher auch im Wahlkampf zu den Unterhauswahlen im Vordergrund stand: mehr Investitionen in Bildung und Schulen, Verbesserungen im Gesundheitswesen, Abschaffung der Studiengebühren, die Rückverstaatlichung von Post und Eisenbahn und einen Mindestlohn von zehn Pfund. »For the many, not the few« lautete der Wahlkampfslogan.

Grundlage der deutlichen Wahlgewinne war ein klar reformorientiertes Programm und keine unrealistische Kampfansage an Konzerne und Superreiche, auch wenn auf mittlere Sicht eine gerechtere Besteuerung der Vermögen von Multimillionären und Milliardären erforderlich ist. Die Gründe der positiven Wahrnehmung Jeremy Corbyns durch viele WählerInnen beschreibt ein Kommentator des Süddeutschen Zeitung zu Recht wie folgt: »Die wahrscheinlich größte Stärke des Briten liegt in seiner Klarheit. (…) Die Menschen haben sich an ihm gerieben, aber sie haben gespürt und gefühlt, was ihn mit größter Leidenschaft antreibt. Und das war nicht der Ehrgeiz, ganz oben zu stehen. Es war der Wunsch, das Leben für Menschen, denen es nicht gut geht, besser zu machen. So einfach, so wirkungsvoll.«

Die gewachsene Zustimmung ist Ausdruck eines Bedürfnisses von Teilen der Wählerschaft nach einer sozial profilierten, klar formulierten Politik, auch nach Authentizität und Glaubwürdigkeit. Diesen Eindruck vermittelt der Kandidat Martin Schulz eben nicht. Da allerdings auch in diesem Land die Akteure so sind, wie sie sind, sind jetzt nicht Träume gefragt.

Die gesellschaftliche Linke in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird nicht darum herumkommen, eine Strategiedebatte für einen Politikwechsel aufzunehmen. Die darf sich dann allerdings nicht auf die Anprangerung der Unfähigkeit und wechselseitige Schuldzuschreibungen der politischen Parteien links der Mitte beschränken. Stattdessen müssen die programmatischen Grundlagen präzisiert werden, mit der auch hier die vorhandenen gesellschaftlichen Kräfte für eine Reformalternative gegen soziale Spaltung gebündelt werden könnten.

[1] Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, Entwicklung der Altersarmut bis 2036. Trends, Risikogruppen und Politikszenarien, Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung.

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