7. Februar 2012 Richard Detje: Armutslöhne – Leiharbeit – Werkverträge

Modèle Allemagne

In Frankreich feiert das »Modell Deutschland« gegenwärtig eine Auferstehung. Allerdings nicht als jener »Rheinische Kapitalismus«, der für Sozialstaatlichkeit, ausbalancierte industrielle Beziehungen und ein enges Geflecht zwischen Banken und Unternehmen stand. Mit dem Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus ist dieses Modell historisch geworden.

Wenn heute vom »Modèle Allemagne« die Rede ist, hat man den Arbeitsmarkt vor Augen. Denn während die Arbeitslosigkeit in Europa auf Rekordwerte steigt, fällt sie in Deutschland. Selbst im Januar 2012 wäre das der Fall gewesen, wenn nicht auf dem Bau, in der Landwirtschaft und nach dem Ende des Weihnachtsgeschäfts auch im Einzelhandel wie jedes Jahr die Beschäftigung saisonbedingt heruntergefahren worden wäre. Mit 3,082 Millionen registrierten Arbeitslosen ist dennoch der niedrigste Stand der Januar-Arbeitslosigkeit in den letzten 20 Jahren erreicht – spiegelbildlich ist die Beschäftigung auf den Höchstwert von 41,6 Millionen gestiegen.

Modèle Allemagne heißt übersetzt: Wettbewerbsfähigkeit durch Umbau des Arbeitsmarktes. Kurz: Agenda 2010. So kam auch der mittlerweile ins Vergessen geratene Gerhard Schröder wieder zu Ehren, als er keine schnöde Öl- oder Gaspipeline in Diensten von Gasprom einzuweihen hatte, sondern mit dem französischen Staatspräsidenten im Élyée dinieren durfte, wofür er sich mit Sozialisten-Bashing bedankte: »Als Sekretär der sozialistischen Partei hat Francois Hollande sehr eng mit Oskar Lafontaine zusammengearbeitet. Nicht mit mir.«

In der Tat: Die Hartz-Gesetze als zentraler Bestandteil der Agenda 2010 haben tiefe Spuren auf dem bundesdeutschen Arbeitsmarkt hinterlassen. Deutschland hält mit 7,8 Millionen Niedriglöhnern den Europarekord in der Rubrik »Armut trotz Arbeit«. Sogar 560.000 Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als das Existenzminimum, sodass sie ihren Lohn mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen. Zu diesen »Aufstockern« zählt jeder zehnte Leiharbeitnehmer. Dies und 7 Millionen abgabenfreie Minijobs belasten die Sozialkassen jedes Jahr mit rund 4 Mrd. Euro – Unterbietungskonkurrenz mit Lohnsubvention in großem Maßstab. So funktioniert das neue »Modell Deutschland«.

In diesem Arbeitsmarktregime ist eine Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Arbeitslosen entstanden. Auf der einen Seite Kurzzeitarbeitslose mit Aussicht auf neue Beschäftigung, allerdings zu wiederholt verschlechterten Bedingungen: immer weniger der Qualifikation entsprechend, immer höhere Einkommensverluste in Kauf nehmend. Was ja im Sinne erhöhter »Flexibilität« durch »erhöhte Konzessionsbereitschaft« von den Protagonisten des Modells gewollt ist.

Auf der anderen Seite jene langzeitarbeitslose Hartz-IV-EmpfängerInnen, deren Zahl nach einer jüngst revidierten Erhebung der Bundesagentur von Arbeit bei 1,056 Millionen liegt. Sie wäre in der Tat sehr viel höher, wenn man nicht diverse Statistikbereinigungen vorgenommen hätte und beispielsweise die 105.000 Arbeitslosen zwischen 55 und 64 Jahren längst aus der Zählung herausgenommen hätte.

Und oberhalb dieser Zwei-Klassen-Gesellschaft  ist eine neue Drei-Klassen-Gesellschaft entstanden: Stammbeschäftigte, Leiharbeitnehmer, Werkvertragsleute.

Jahrelang stand die Ausweitung der Leiharbeit auf der Agenda des betrieblichen Personalmanagements. In der Krise 2009 war das die flexible Reserve: schnell zu entlassen, aber auch schnell wieder hochzufahren. Im September 2011 wurden 910.000 Leiharbeitnehmer in deutschen Unternehmen gezählt, mittlerweile könnten es eine Million sein. Deshalb fordert die IG Metall auch nach der Einführung des Mindestlohns für Leiharbeitskräfte in der laufenden Tarifrunde eine Ausweitung der Mitbestimmung der Betriebsräte, zu diese Expansion zu stoppen und Leiharbeit perspektivisch darauf zurückzuführen, wozu sie einmal geschaffen worden war: zum  beschäftigungspolitischen Ausgleich außergewöhnlicher Auftrags- und Produktionsspitzen. Aber nicht zum Ersatz regulärer Beschäftigung.

Neu auf der Agenda steht Beschäftigung via Werkvertrag. Und diese Beschäftigungsform wächst dynamisch. Insbesondere in der gegenwärtig noch von Absatzrekord zu Absatzrekord eilenden Automobilindustrie. Werkverträge sind noch weniger reguliert, einen Mindestlohn gibt es nicht.

Beispiel BMW in Leipzig: Die Hälfte der 5.000 Beschäftigten kommt dort bereits von Werkvertragsfirmen. Unter anderem »200 Wisag-Beschäftigte bauen in einer Halle Achsen zusammen, keine hundert Meter vom BMW-Montageband entfernt. Antriebswelle und Getriebe hochheben. Zusammenschrauben. Alles im 67-Sekunden Takt. Sie sind im Schnitt 33 Jahre alt. Länger halten ihre Knochen nicht durch«.[1] Der Clou: Die Wisag Produktionsservice, ursprünglich eine Gebäudereinigungsfirma, arbeitet im Auftrag der ThyssenKrupp Automotive, die mit BMW einen Achsen-Werkvertrag abgeschlossen hat und zu diesem Zweck die Wisag als Vertragsunternehmen ins Boot geholt hat. Denn für Werkvertrags-Beschäftigte gilt nicht der IG Metall-Tariflohn, den Leiharbeiter bei BMW beanspruchen können.

Beispiel Audi in Ingolstadt: Dort sind Werkverträge seit Jahren im IT- und Ingenieursbereich gebräuchlich – wobei sich Externe und Interne geschätzt die Waage halten. Annähernd verlässliche Zahlen gibt es nicht. Werkverträge werden nicht bei den Personalabteilungen registriert, sondern sind als »Sachkosten« beim Einkauf verbucht. Auch bei Audi in Ingolstadt werden Leiharbeitskräfte wie Stammbeschäftigte entlohnt. WerkvertragsarbeitnehmerInnen verdienen hingegen 500-800 Euro weniger im Monat bei einer 40- statt der tariflichen 35-Stunden-Woche. Boni/Erfolgsbeteiligung gibt es für sie nicht – 2012 sind das 6.500 Euro. Auch auf die betriebliche Altersvorsorge haben sie keinen Anspruch, ebensowenig wie auf einen Platz im Werkskindergarten. Und in der Kantine müssen sie ohne Zuschuss den doppelten Preis zahlen.

In Ingolstadt gibt es bereits mehr Werkverträge als Leiharbeitsverhältnisse, sodass der 1. Bevollmächtigte der IG Metall zu Recht bilanziert: »Die Ordnung auf dem Arbeitsmarkt ist völlig aus den Fugen geraten.«

BMW und Audi sind exemplarische Fälle. Werkverträge sind auch kein spezifisches Flexi-Instrument der Metall- und Elektroindustrie. In Schlachtereien arbeiten nach ersten vorläufigen Schätzungen der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) bis zu 90% der Beschäftigten auf der Grundlage von Werkverträgen – mit Arbeitszeiten, die häufig von 12 bis 16 Stunden reichen. Eine Praxis, die in der Bauindustrie seit langem Gang und Gäbe ist. Dort sind kaum noch Unternehmen zu finden, die ohne Werkverträge arbeiten.

»Wie schwer es ist, die eingefahrene Praxis zu bekämpfen, musste jüngst IG BAU-Chef Wiesehügel erfahren. Die Gewerkschaft war am Bau eines Wohnparks in Heidelberg beteiligt. Eine wichtige Bedingung bei der Ausschreibung an die Baufirmen: keine Werkverträge. Nach monatelanger Suche erklärte sich schließlich ein Unternehmen dazu bereit, die Bedingung zu erfüllen. Als die Bauarbeiten begannen, recherchierte Wiesehügel ein wenig über diese Firma. Seine Erkenntnis: Tatsächlich arbeitete auf der IG BAU-Baustelle niemand unter Werkvertrag. Allerdings hatte die Firma alle festen Mitarbeiter von anderen Baustellen abgezogen und dort komplett durch Werkverträge ersetzt.«[2]

Modèle Allemagne in Praxis. Nicht zur Nachahmung empfohlen.

[1] Dirk Erb: Arbeiten am Rand. Werkverträge – die neue Masche. In IG Metall: metallzeitung, Januar 2012, S. 19.
[2] SPIEGEL 5/2012: »Moderne Sklaven«, S. 74.

Zurück