19. September 2015 Hinrich Kuhls: Jeremy Corbyn über eine neue Wirtschaftsordnung in Europa

»Die EU muss ein demokratisches Forum für sozialen Fortschritt werden«

Nach der Wahl der neuen Parteispitze der Labour Party hat Jeremy Corbyn das »Schattenkabinett« zügig zusammengestellt. Das überraschte insofern, als Medien und Vertreter der politischen Eliten wegen unterschiedlicher politischer Positionen von Corbyn auf der einen und den verschiedenen Flügeln der Labour-Fraktion auf der anderen Seite größere Probleme erwartet hatten.

Als »Schattenkabinett« wird das neue Team der parlamentarischen Sprecherinnen und Sprecher der Fraktion der Labour Party im britischen Parlament bezeichnet. Eine gemeinsame Erklärung des neuen Parteivorsitzenden und dem außenpolitischen Sprecher Hilary Benn in Absprache mit dem europapolitischen Sprecher Pat McFadden zu den Grundzügen der Europapolitik sowie Corbyns Positionierung in einem Namensartikel in der Financial Times haben unerwartet schnell die Richtung der Labour-Politik klargelegt.

Im letzten Wahlkampf war die Europapolitik ein zentraler Punkt, weil Premierminister James Cameron das Wahlversprechen abgegeben hatte, ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU bis spätestens 2017 abzuhalten. Mit diesem Wahlversprechen sollte ein Abwandern von Wählern seiner Partei zur europafeindlichen nationalistisch-rechtspopulistischen UKIP (Unabhängigkeitspartei des Vereinigten Königsreichs) verhindert werden. Es hat entscheidend zum Wahlsieg der neoliberalen Konservativen Partei mit absoluter Mehrheit der Parlamentssitze beigetragen.

Mit dem Referendum wird nicht nur über den Verbleib Britanniens in der EU entschieden werden, sondern es wird eine Richtungsentscheidung darüber, inwieweit die fortgesetzte Austeritätspolitik durch eine Politik der Erneuerung der öffentlichen Infrastruktur und der industriellen Basis im Verbund mit einer Politik der inklusiven Sozialpolitik abgelöst werden kann. Die inhaltliche Argumentation der EU-Gegner und Pro-Europäer und der Ausgang des Referendums über den Verbleib in Europa könnten schon die politischen Kräfteverhältnisse für die Wahl des Unterhauses bis spätestens 2020 entscheidend ändern – ein Punkt, der zum starken Engagement bei den Wahlen zum Parteivorsitz der Labour Party beigetragen hat, da eine kürzere Frist für eine politische Richtungsentscheidung im Raum steht als 2020.

Der Positionierung der größten Oppositionspartei in der Europapolitik kommt eine wichtigere Bedeutung zu als der der Regierungspartei. Letztere ist in ihrer Aussage nicht eindeutig, und das jetzige Ja von Cameron zum Verbleib steht unter dem Vorbehalt, in seinen angekündigten Neuverhandlungen der britischen Sonderbedingungen im Rahmen der europäischen Verträge ein Ergebnis zu erzielen, dass es den konservativen WählerInnen in Absetzung von den UKIP-WählerInnen ermöglicht, dem Verbleib zuzustimmen.

Die frühzeitige Erklärung zur Europapolitik war jetzt unumgänglich, weil auf dem Jahreskongress des britischen Gewerkschaftsbundes TUC am 15. September ein Grundsatzbeschluss verabschiedet wurde, dass die Gewerkschaften des TUC dazu aufrufen sollen, beim Referendum mit »Nein« zum Verbleib in der EU zu stimmen, wenn Cameron bei den Neuverhandlungen mit der EU Arbeitnehmerrechte zur Disposition stellen würde. Der neueste Angriff der Regierung auf die Rechte der Werktätigen drohe das gesamte Fundament des sozialen Europa zu zerstören.

»Das bringt diejenigen, die bisher im Ja-Lager stehen, an den Rand einer grundsätzlichen Neuorientierung. Die Balance ist weg, der unverhohlene Versuch der Regierung, grundlegende Rechte zu beseitigen, zwingt uns eine schwierige Grundsatzentscheidung auf«, so Paul Kenny, Generalsekretär der GMB, einer der großen TUC-Gewerkschaften, deren Mitglieder vor allem im öffentlichen Dienstleistungsbereich arbeiten. Die GMB hat einen ähnlich lautenden Antrag an den Labour-Parteitag gestellt, der vom 26.-30. September stattfindet.

In dem gemeinsamen Statement des Oppositionsführers und des außenpolitischen Sprechers wird betont, dass Labour auf jeden Fall an der britischen Mitgliedschaft in der EU festhalten wird, was immer auch das Ergebnis der von Cameron angestrebten Neuverhandlungen sein mag.

»Labour wird bei der Volksabstimmung für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union eintreten«, so die Erklärung. »Wir werden herausstellen, dass die Mitgliedschaft in der EU Britannien hilft, Arbeitsplätze zu schaffen, Wachstum zu sichern, Investitionen zu fördern und grenzüberschreitende Probleme anzupacken wie Klimawandel, Terrorismus, Steueroasen und die aktuelle Flüchtlingskrise. […] Wir werden natürlich jedem Versuch der Tory-Regierung, die Rechte der Arbeitnehmer zu untergraben, entgegentreten« und etwaige Verschlechterungen der Arbeits- und Gewerkschaftsgesetzgebung bei einem Wahlsieg 2020 wieder rückgängig machen.

Aus bisherigen Äußerungen Corbyns meinte man herauslesen zu können, er würde sich in der Frage des Verbleibs in der EU zunächst nicht eindeutig festlegen oder sogar eine Kampagne für ein Nein zu Europa nicht ablehnen. Seine eindeutige Positionierung überraschte daher in Britannien. Da Corbyn davon ausgeht, dass seine europapolitischen Positionen die Debatte in sozialdemokratischen Parteien anderer Länder und auf internationaler Ebene auch in Gewerkschaften und anderen politischen Formationen beeinflussen werden, sollen die Argumente seines Artikels in der Financial Times vom 18.9.2015 ausführlich vorgestellt werden.


Für eine andere Wirtschaftsordnung der EU

Corbyn kritisiert, dass der konservative Premierminister trotz seiner Reisen in etliche europäische Hauptstädte immer noch nicht offen gelegt habe, was er denn überhaupt mit seinen »Neuverhandlungen« vor einem Referendum im Jahr 2016 oder 2017 erreichen wolle. Wenn er meine, »er könne die Rechte der Werktätigen weiter schwächen und damit Europas Wohlwollen für unseren Verbleib in der EU erwarten, dann macht er einen Fehler.« Dass ein weiterer Abbau der Arbeitnehmerrechte durch die konservative Regierung drohe, sei mit den gerade eingebrachten Gesetzen zur Einschränkung von Gewerkschaftsrechten und Kürzungen bei den Steuerrückzahlungen deutlich geworden. Man müsse also davon ausgehen, dass »viele Rechte bedroht sind, die aus der europäischen Gesetzgebung abgeleitet sind, wie bezahlter Urlaub, das Arbeitszeitgesetz und verbesserter Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub.«

Corbyn hebt auf die in der britischen Gesellschaft verbreitete Sicht auf Europa ab: »Es gibt ein weit verbreitetes Gefühl, dass Europa so etwas ist wie ein exklusiver Club und kein demokratisches Forum für den sozialen Fortschritt. Unsere Arbeitsschutzrechte hinwegzufegen, würde dieses Gefühl verstärken. Labour wird sich jedem Versuch der konservativen Regierung entgegenstellen, die Arbeitsschutzgesetze zu unterlaufen – gleich ob in der britischen oder der europäischen Gesetzgebung.«

Und er betont, dass diese Auffassung im gesamten Schattenkabinett, in das er verschiedene Flügel der Parlamentsfraktion eingebunden hat, geteilt wird. Jede Änderung zuungunsten der Arbeitnehmerrechte, die Cameron aushandeln sollte, würde nach einem Labour-Wahlsieg 2020 rückgängig gemacht. »Unsere Antwort ist nicht der Austritt aus der EU, sondern das Versprechen, solch abträgliche Änderungen zu revidieren.«

Gerade die »Schutzrechte am Arbeitsplatz sind entscheidend, um sowohl Arbeitsmigranten vor Ausbeutung zu schützen als auch britische Werktätige davor zu bewahren, das ihre Arbeitsbedingungen unterlaufen werden. Stärkere Arbeitnehmerrechte tragen auch dazu bei, dass korrekte Arbeitgeber, die ansonsten einem unlauteren Wettbewerb mit weniger gewissenhaften Unternehmen ausgesetzt wären, geschützt werden. Mit unserer Beteiligung wird es in Europa bei Verhandlungen darum gehen, einen besseren Schutz der Menschen und Unternehmen zu erreichen, und nicht darum, ihn zu beseitigen.«

Die Debatte um das Referendum ist vor allem von fremdenfeindlichen Kräften und den Interessen der Vorstandsetagen monopolisiert worden. Nicht beteiligt an dieser Debatte sind bisher Millionen Menschen in Britannien, die eine sachliche Debatte über unsere Beziehung zur EU wünschen. »Wir können diesen Weg der marktwirtschaftlichen Deregulierung nicht fortsetzen, mit dem die Privatisierung öffentlicher Dienste und die Verwässerung der europäischen sozialen Errungenschaften verfolgt werden.«

Das werde besonders deutlich an dem Entwurf zur Neuordnung des Schienenverkehrs, der jetzt dem Europäischen Parlament vorliegt und mit dem das britische Modell mit seiner Fragmentierung und Privatisierung der Bahnen in Europa verallgemeinert werden könnte. Die britischen privaten Bahnen bieten mittlerweile das schlechteste Preis-Leistungsverhältnis in Europa. Bahnfahrten sind für viele unerschwinglich geworden; im Londoner Vorortverkehr müssen Pendler für eine 30-Meilen-Strecke inzwischen mehr als 5.000 Euro pro Jahr ausgeben.

Weitere aktuelle Themen der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Corbyn benennt, sind:

TTIP: »Das auf dem Tisch liegende Freihandelsabkommen, das hinter verschlossenen Türen zwischen der EU und den USA verhandelt wird und gegen das ich gekämpft habe, ist ein weiteres Beispiel für das großen Schaden anrichtende augenblickliche wirtschaftspolitische Konzept in der EU. Es gibt keine Zukunft für Europa, wenn wir den Wettlauf nach unten fortsetzen. Wir müssen in unsere Zukunft investieren und die Fähigkeiten aller Menschen in Europa dabei zur Wirkung bringen.«

Griechenland: »Viele pro-europäische Internationalisten hat es entsetzt, wie Griechenland behandelt worden ist. Die griechischen Schulden sind einfach nicht rückzahlbar, die Kreditkonditionen können so nicht aufrecht erhalten werden, und das Beharren darauf, dass die Schulden auf jeden Fall zurückgezahlt werden müssen, verstärkt die humanitäre Krise in Griechenland und die Risiken für ganz Europa. Die derzeitige Orthodoxie ist fehlgeschlagen. Wir brauchen eine neue wirtschaftliche Regulierung.«

Corbyn erinnert anerkennend daran, dass Gordon Brown – der seinerzeitige Schatzkanzler (und spätere Nachfolger Blairs im Amt des Premierministers) – sich im Gegensatz zu anderen Kabinettsmitgliedern der ersten Regierung Blair Ende der 1990er Jahre gegen den Beitritt Großbritanniens zur gemeinsamen Währung ausgesprochen hat. »Von unserer Position außerhalb der Eurozone können und müssen wir EU-Wirtschaftsreformen beeinflussen. Wir müssen mit den 11 EU-Staaten kooperieren, die eine Finanztransaktionssteuer einführen wollen. Im Gegensatz zum derzeitigen Schatzkanzler, der das Geld der Steuerzahler in einem aussichtslosen Rechtsstreit vergeudet, um die Steuer zu blockieren, würden wir uns an Verhandlungen beteiligen und zur Diskussion stellen, wie der Finanzsektor besser reguliert und die Einnahmen erhöht werden können.«

Wie in dem eingangs erwähnten gemeinsamen Statement der Fraktionsspitze ist Corbyn auch in seinem Namensartikel in seiner Positionierung eindeutig: »Für Labour steht fest, dass wir in der EU bleiben. Aber wir wollen auch Reformen sehen. Letzte Woche haben in Brüssel Landwirte aus ganz Europa protestiert. Die Gemeinsame Agrarpolitik muss reformiert werden, so dass es weniger Subventionen für die Grundbesitzer gibt und mehr Hilfen für die Landwirte und die ländliche Wirtschaft. Europa ist das einzige Forum, in dem wir wichtige Herausforderungen für unser Land angehen können wie Klimawandel, Terrorismus, Steueroasen und in jüngster Zeit die in Europa Zuflucht und Hoffnung suchende Massenbewegung von Flüchtlingen aus dem von Gewalt geplagten Syrien. Wir werden keine Freunde und keinen Einfluss in Europa gewinnen, wenn wir uns weigern, unser Gewicht zu in die Waagschale zu werfen.«

Deutlicher kann die Kritik an der Europapolitik der Regierung Cameron, die in vielen Punkten der nationalistisch-rechtspopulistischen UKIP Konzessionen macht, kaum formuliert werden. Corbyns Resümee: »Labour setzt sich für einen Wechsel in Europa ein, der den Menschen in Europa zu Gute kommt. Wir wollen ein besserer Partner sein, und unsere Forderungen so ausrichten, um Europa voran zu bringen. Diese unsere Anliegen werden von unseren Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten und wir machen sie zum Thema bei unseren Begegnungen mit unseren sozialdemokratischen Schwesterparteien, mit den Gewerkschaften und mit anderen sozialen Bewegungen in ganz Europa.«

Es ist zu hoffen, dass die Abgeordneten der S&D-Fraktion im Europaparlament (Progressive Alliance of Socialists & Democrats bzw. Fraktion der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten) und die europäischen Schwesternparteien den Vorschlag des neuen Vorsitzenden der Labour Party prüfen und aufgreifen, um gemeinsam mit anderen progressiven Formationen die neoliberalen Austeritätspolitiker und Rechtspopulisten im Europaparlament und in den europäischen Institutionen zurückzudrängen und ein demokratisches Forum für sozialen Fortschritt in Europa zu schaffen.

Hinrich Kuhls lebt in Düsseldorf und ist Mitglied der Sozialistischen Studiengruppe (SOST e.V.)

Quellen und Artikel zum Thema:
Corbyn, Jeremy: The orthodoxy has failed: Europe needs a new economic settlement, Financial Times, 18.9.2015.
Cooper, Luke: What should Corbyn demand of Europe? Open Democracy, 17.9.2015.
Syal, Rajeev/Taylor, Matthew/Wintour, Patrick: Pressure on Labour over EU as union vote sounds alarm. The Guardian, 16.9.2015
Wintour, Patrick: Jeremy Corbyn – Labour will campaign for UK to stay in the EU, The Guardian, 18.9.2015.

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