24. September 2015 Alban Werner: Die LINKE und die »Flüchtlingskrise«

Nach der »Willkommenskultur«: Programm statt Glaubenssätze

Im Zusammenhang mit der »Flüchtlingskrise« drängen einige politische Grundsatzfragen auf die politische Tagesordnung. Für Deutschland lauten drei der wichtigsten Fragen, ob es erstens eine sachgerechte Reaktion auf die Fluchtursachen gibt, zweitens was zu tun ist, wenn davon ausgegangen wird, dass ein Großteil der Geflüchteten dauerhaft in der Bundesrepublik bleiben wird, und drittens, wie wahrscheinlich ein Erstarken menschenfeindlicher und radikal rechter politischer Kräfte in Deutschland ist, und wie dem zuvorzukommen wäre.


Scheinantworten der LINKEN

Auf alle drei Punkte ist die politische Linke denkbar schlecht vorbereitet. Nimmt man ihr ausdrückliches Bekenntnis zu einer humanen Flüchtlingspolitik und ihre Ablehnung jeglicher Abschottung zum Maßstab, ist DIE LINKE von allen Parteien sogar am stärksten Antworten schuldig.

Das sogenannte Positionspapier der Linksfraktion im Bundestag ist jedenfalls kein inhaltlich hilfreicher Beitrag zur Flüchtlingskrise. Zu lesen ist etwa: » Westliche Staaten unter der Führung der USA haben ganze Regionen destabilisiert, indem sie unter anderem Terrororganisationen möglich gemacht und instrumentalisiert haben… Um die Situation der Menschen in den Herkunftsländern zu verbessern und Fluchtursachen zu beseitigen, ist eine Kurswende in der herrschenden Politik notwendig. Bundesregierungen unter Beteiligung von CDU/CSU, SPD, FDP und GRÜNEN haben sich an Interventionskriegen und Regime-Change-Politik direkt beteiligt oder sie indirekt unterstützt. Waffenexporte wurden und werden ausgeweitet.«

Weiter als diese Standardagitation gegen die Interventionspolitik des »Westens« geht das Papier an keiner Stelle. Weder an Analyse, noch an Handlungsoptionen vermögen die beiden designierten FraktionssprecherInnen auch nur im Ansatz das anzubieten, was man von ressourcenstärksten politischen Apparat der LINKEN erwarten könnte. Wenn das vom salomonischen personalpolitischen Kompromiss Dietmar Bartsch und Sahra Wagenknecht verantwortete Papier stellvertretend steht für Eingaben, die künftig von der Fraktionsspitze zu erwarten sind, sollte sich die Partei ernsthaft Sorgen darüber machen, wie ernst sie noch genommen werden kann.

Die Wiederholung allgemeiner, parteiintern konsensfähiger Positionen und linker Glaubenssätze begründet noch keine sachgerechte politische Handlungsfähigkeit. In Anbetracht der menschlich schwerwiegenden und politisch komplexen Handlungsbedarfe in der »Flüchtlingskrise« ist diese Vorgehensweise, bloß niemandem auf die Füße treten zu wollen, bestenfalls grob fahrlässig.

Um nur einige frappierende Beispiele zu nennen: Was soll TTIP damit zu tun haben, dass Menschen vom Balkan oder aus den Nahen Osten fliehen? Das Papier der künftigen FraktionssprecherInnen liest sich bisweilen, als hätte ein Mitarbeiter ihren Parteitagssprechzettel notdürftig um Standardforderungen zur Politik für Geflüchtete ergänzt, die aber kaum auf die aktuellen Zuspitzungen gemünzt sind.

Auf zusätzliche nicht-mandatierte NATO-Kriege und »Regime Change«-Politik zu verzichten, wie es das Papier fordert, mag künftige Fluchtursachen begrenzen. Zum Ende der aktuellen, gerade Millionen in die Flucht treibenden Konflikte und barbarischen Kriege durch ISIS, Assad & Co. wird damit nichts beigetragen.

»Das Problem ist gerade nicht, dass die Bundesregierung oder die EU gegenüber dem Regime in Syrien eine aggressive Politik verfolgt haben, wie das Papier suggeriert. Im Gegenteil. In den letzten viereinhalb Jahren waren weder Berlin noch Brüssel bereit, sich in diesen Konflikt einzumischen – jenen Konflikt, der Hunderttausende in die Flucht getrieben hat. Egal, ob beim Giftgaseinsatz 2013, beim Abwurf von Fassbomben auf Wohngebiete oder bei dem vom Regime tolerierten, teilweise sogar geförderten Erstarken dschihadistischer Gruppen – der Westen hat stets besorgt, aber doch höflich dem Treiben des Assad-Regimes zugeschaut«, schrieb zutreffend Elias Perabo im neuen deutschland. Die Position der unbefleckten Hände, die die Linke in der Außenpolitik betreibt, mag ihr ein ruhiges Gewissen verschaffen, mehr erreicht sie im Hinblick auf die Fluchtursachen nicht.


Was kommt nach dem »Willkommen?« Für eine andere Wirtschafts- und Sozialpolitik

Die konservativen und rechtspopulistischen KritikerInnen des Asylrechts zielen darauf ab, viele Neuankömmlinge seien in Wahrheit »Wirtschaftsflüchtlinge«. Damit wollen sie aber meistens nur (notdürftig) verhüllen, dass sie tatsächlich am liebsten gar keine Geflüchteten aufnähmen oder wenn, dann kaum zu würdigen Bedingungen.

Linke müssen die These von bald endenden kulturellen Aufnahmegrenzen zurückweisen. Ebenso zurückgewiesen werden muss der Versuch, die geltende Rechtslage zum Schlechteren zu verändern, was damit begründet wird, dass die Regeln auf die so große Anzahl von Geflüchteten nicht vorbereitet seien. Zwar mag das Argument unzureichender Vorbereitung sachlich sogar stimmen (wie allerdings sollte man auch auf einen Andrang in dieser Größenordnung vorbereitet sein, wenn passende Kapazitäten nicht über Nacht entstehen können?), aber Verschlechterung der Rechtslage wird das Problem nur zu Lasten von anderen und vor allem der Geflüchteten verschieben, sie würden trotzdem kommen, aber illegalisiert hier leben.

Es bleibt dennoch eine banale Tatsache, dass die Möglichkeiten begrenzt sind. Es geht darum, dass die physischen und organisatorischen Kapazitäten an ihre Grenze geraten, die notwendig sind, um den Geflüchteten ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu sichern. Das betrifft neben der Wohnungsknappheit vor allem die Frage, von welcher Einkommensquelle die Neuankömmlinge leben sollen.

Dass die etablierte Politik und die dominanten, neoklassisch denkenden Ökonomen sich auf Arbeitsmarktpolitik im engeren Sinne beschränken, ist dabei nur konsequent. Jedes (Arbeitskraft)Angebot wird sich schon seine Nachfrage schaffen – vorausgesetzt, es wird nur gut genug vermittelt und zu einem ausreichend niedrigen Preis angeboten. Denkt man diesen Ansatz zu Ende, haben Hans Werner Sinn und der Präsident des baden-württembergischen Industrie- und Handelskammertags Recht, und ein halbwegs existenzsichernder Mindestlohn wäre ein Einstellungshemmnis für die Neuankömmlinge.

Aus keynesianischer Sicht ist aber eine Absenkung des Mindestlohns ein grober Irrtum, weil der Bedarf nach Arbeitskräften der Unternehmen nicht auf dem Arbeitsmarkt selbst ermittelt wird, sondern ein Reflex der Nachfrage auf den Warenmärkten, also nach Gütern und Dienstleistungen ist. Bei gegebener technischer Ausstattung wird umso mehr Arbeitskraft von den Unternehmen vom Arbeitsmarkt abgerufen, wie mehr Waren nachgefragt werden.

Eine Schlüsselrolle spielen hierbei die öffentlichen und privaten Investitionen. Daher wird eine Änderung der Wirtschaftspolitik in Richtung Binnenexpansion nötig, die gezielt durch Investitionen Nachfrage auf den Warenmärkten erhöht, um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, sonst werden die Neuankömmlinge ungewollt die Konkurrenz um den vorhandenen Stellenpool verschärfen.

Der Kasseler Soziologe Heinz Bude hat jüngst zutreffend auf das mögliche Konfliktpotenzial hingewiesen, das bereits aus der befürchteten – noch nicht einmal aus der real eingetretenen – höheren Arbeitsmarktkonkurrenz erfolgen kann. Weil das Wohlergehen des prekären »Dienstleistungsleistungsproletariats« für die etablierte Politik ohnehin keine hohe Priorität habe, schauten die Betroffenen »mit einem stillen Argwohn auf die Masse der Flüchtlinge, die gerade ins Land kommen. Denn das sind alles potentielle Konkurrenten, die trotz steigenden Bedarfs an Beschäftigten in den Branchen der einfachen Dienstleistung als Reservearmee einsetzbar sind. Die können natürlich nichts dafür, aber das Gesetz der sozialen Zeit besagt: Privilegiert sind die, die zuerst da waren, und erst dann kommen die an die Reihe, die später gekommen sind«.

Eine engagierte Arbeitsmarktpolitik ist trotzdem notwendig: Es muss auch verhindert werden, dass mangels Anerkennung ihrer im Heimatland erworbenen Qualifikationen oder fehlender Stellen in den Bereichen, in denen sie qualifiziert sind, eine »Unterschichtung« der Geflüchteten entsteht. Eine Konkurrenz um gering qualifizierte Arbeitsplätze ist gleichbedeutend mit Ethnisierung von Ungleichheit, schafft unnötig Leid und ist zugleich wie geschaffen als Zielscheibe rechtspopulistischer Agitation à la »die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg!« Die wichtigste Maßnahme »gegen Lohndumping für alle Arbeitnehmer in Deutschland« und gegen verschärfte Konkurrenz vergisst das Papier der Linksfraktion leider  zu erwähnen: Es müssen zusätzliche Arbeitsplätze her.


Ein Wiederbelebungsprogramm für die populistische Rechte?

Damit sind wir bei der Frage, ob die vielfach bereits abgeschriebene Alternative für Deutschland (AfD) und möglicherweise gar noch weiter rechts stehende politische Formationen sich durch die Flüchtlingskrise wieder ins Zentrum der politischen  Aufmerksamkeit, und damit möglicherweise sogar zu wahlpolitischen Erfolgen katapultieren können. Es gibt hier allerdings keinerlei Automatismus.

Zwar kann die AfD in ihrer Hochburg Sachsen laut Umfrage mit der dort historisch schwachen SPD gleichziehen, doch bei der bundesweiten »Sonntagsfrage« Mitte September 2015 sehen nur zwei von sieben erhebenden Instituten Frauke Petrys Partei über der Fünf Prozent-Hürde. Ob die AfD sich an der Flüchtlingskrise wird ›sanieren‹ können, hängt nicht nur von ihrer eigenen Fähigkeit ab, den angerichteten Schaden durch die Abspaltung des Bernd Lucke-Flügels auszugleichen, sondern auch vom Handeln der anderen Parteien.

Eine ganz wichtige Rolle spielt dabei die Union. Es ist nicht oder nicht ausschließlich Menschenliebe, die Angela Merkel zu ihrer Politik antreibt und sie für viele Geflüchtete zum Gesicht des »freundlichen Deutschen« macht. Merkels Handeln unterliegt auch ganz wesentlich Kalkül.

Zur Erinnerung: Es handelt sich um diejenige CDU-Vorsitzende, unter der das von Otto Schily verantwortete Zuwanderungsgesetz der rot-grünen Bundesregierung, das gegenüber dem Bericht der Süssmuth-Kommission deutlich nach rechts gerückt war, in Verhandlungen noch restriktiver gefasst wurde. Zu Recht nannte Jasper von Altenbockum in der FAZ vom 21.9. den Gegensatz zwischen den Positionen von Merkel und ihrem Bundesinnenminister de Maizière konstruiert–- »hier Mutter Teresa, dort Vater Staat; hier empathische Gefühlspolitik, dort mangelhaftes Krisenmanagement. Der Innenminister ist die Zielscheibe, aber die Angriffe werden auch Merkel treffen: Wie konnte sie erst so aufnahmebereit tun, nun aber, mit diesem Gesetzentwurf, so abweisend sein? Wer richtig hingehört hatte, konnte aber schon immer registrieren, dass Merkel nichts anderes gesagt hatte als de Maizière – wenn auch nur in weniger populären Nebensätzen«.

Doch ob voller Überzeugung oder nicht, präsidiert Merkel gerade über ein neues Kapitel gesellschaftlicher Liberalisierung. Konservative sind über das Agieren der Kanzlerin erheblich frustriert. Zwar bezieht die Kanzlerin vorsichtig gegen diejenigen Stellung, die von Konservativen als »Wirtschaftsflüchtlinge« bezeichnet werden, aber zugleich hört man von ihr kein Wort über (national)kulturell bedingte Aufnahmegrenzen und –vorbehalte Deutschlands – das ist die maßgebliche Botschaft ihres signalgebenden Interviews in der Rheinischen Post.

Ihre Bemerkung »Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!« gegenüber dem Bundeskongress der Jungen Union von 2010 würde Angela Merkel heute wohl nicht mehr wiederholen – ob aus Überzeugung oder eiskalt kalkulierter schwarz-grüner Koalitionsabsicht für 2017ff., muss offen bleiben. Merkel nennt keinerlei »Leitkultur« und keinen Primat des autochthonen Deutschlands, sondern akzeptiert stillschweigend die sozialkulturellen Veränderungen, die absehbar durch Aufnahme von Geflüchteten und regulierte Einwanderung vonstatten gehen werden.

Die CSU unter Horst Seehofer und seinem möglichen Nachfolger Markus Söder gibt sich alle Mühe, sich als ablehnende Stimme zu profilieren. Söder forderte bereits im einem FAZ-Gastbeitrag die Einschränkung des Asylrechts. AfD und CSU konkurrieren um die nicht kleine Minderheit derjenigen, denen die ›Willkommenskultur‹ bereits deutlich zu weit geht. Dank Facebook, Twitter und anderen Netzwerken ist es schon lange keine »schweigende« Minderheit mehr.

Neben der symbolisch-kulturellen Aufladung der Flüchtlingspolitik wird der materielle Aspekt zum möglichen Anstoß scharfer Konflikte. Im SPIEGEL (Ausgabe 39/2015) ist zu lesen, dass der Bundesfinanzminister ein milliardenschweres Sparpaket schnürt, »um die Lasten durch den Flüchtlingsstrom schultern zu können. Die Maßnahmen sollen bis zu 2,5 Milliarden Euro bringen. Damit wird der Bund zur Bewältigung der Flüchtlingskrise rund 9 Milliarden Euro aufwenden. Schon vor zwei Wochen hatte Schäuble angekündigt, die Etatüberschüsse dieses Jahres von 6 Milliarden Euro ins nächste Jahr zu übertragen, um damit die Kosten für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen zu bewältigen.« Die Wirkungen der genannten Einsparungen bleiben bislang vermutlich noch unter der Aufmerksamkeitsschwelle der meisten BürgerInnen.

Doch das grundsätzliche Problem bleibt: Bei der Finanzierung der Leistungen für die Geflüchteten gibt es im Grunde drei Varianten: »Linke Tasche, rechte Tasche« mit Kürzung an anderer Stelle, Erhebung neuer oder Anhebung vorhandener Steuern oder Kredite. Die ersten beiden Varianten sind Treibstoff für Konflikte, die unbedingt vermieden werden sollten, gerade weil sie dem gepflegten »Opfer-Mythos« des deutschen Alltagsverstandes gut entsprechen, wonach Gutes immer nur in die Welt kommt, wenn zuvor jemand dafür verzichtet (gespart, Einbußen hingenommen) hat.

Weil es sich um eine unvorhergesehene Herausforderung handelt, sollte von links die Zurückhaltung gegenüber dem Dogma der »schwäbischen Hausfrau« aufgegeben und dieses offensiver infrage gestellt werden. Um die bestehende Erwerbslosigkeit abzubauen und zusätzlich Arbeitsplätze für die zu integrierenden Geflüchteten zu schaffen, sind Investitionen für vermutlich ca. 4,5 bis 5 Millionen Arbeitsplätze notwendig. Diese wirtschaftspolitische Kraftanstrengung ist mit dem Fetisch der »schwarzen Null« unvereinbar.

Zugleich muss vermieden werden, dass bei der Bevölkerung der Eindruck eines Nullsummenspiels entsteht – das wäre ein Elfmeter für die AfD, die sich als »Denkzettel«-Stimme für diejenigen anbieten könnte, die um ihren Besitzstand bei Wohnraum, Einkommen, Arbeits- und Ausbildungsplätzen fürchten. Völlig zu Recht fordert also Guido Bohsem in der Süddeutschen Zeitung, die ohnehin unsinnige Schuldenbremse auszusetzen, um die notwendigen Investitionen zu ermöglichen.

Gelingt eine kluge fortschrittliche Antwort auf die Flüchtlingskrise nicht, wäre das eine notwendige, jedoch noch keine hinreichende Voraussetzung für ein Comeback der AfD. Denn die Partei ist durch die Abspaltung ihres liberal-konservativen Flügels als Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA) auf allen Ebenen geschwächt: Auf Bundesebene durch den Aderlass an Professoren und Europa-Abgeordneten, auf Landesebene durch den Verlust ihrer Gruppe in der bremischen Bürgerschaft sowie in zahlreichen Kommunen durch Aus- und Übertritte des »Bodenpersonals«. Wer nicht flächendeckend präsent ist, kann auch nicht überall KandidatInnen aufstellen, ist damit nicht wählbar und wird keine MultiplikatorInnen für seine Botschaften finden; der grundsätzlich mögliche Wieder-Aufstieg der AfD könnte daher mittendrin stecken bleiben.


Vorwärts immer…

Wenn man von der banalen Tatsache ausgeht, dass begrenzte Kapazitäten nicht über Nacht vergrößert werden können, werden auch Linke sich dafür einsetzen müssen, dass die Geflüchteten »gerechter« in Europa verteilt werden. Dass Deutschland einen erheblichen Anteil der Geflüchteten aufnimmt, ist angesichts seiner robusten wirtschaftlichen Lage und seiner menschenrechtspolitischen Verpflichtungen völlig richtig. Aber gerade wenn man möchte, dass für langfristig bleibende Neuankömmlinge gute Lebens- und Arbeitsbedingungen geschaffen werden, wird das nicht möglich sein ohne Planungssicherheit für die Anzahl der zu integrierenden Menschen.

Das Europäische Grenzregime muss beendet werden zugunsten sicherer Fluchtwege, aber genauso wird es eine ernsthafte Anstrengung zu Beendigung der Fluchtursachen geben müssen, vor der Linke oftmals zurückschrecken oder – nimmt man das Papier von Wagenknecht und Bartsch als Anhaltspunkt – fast völlig die Augen verschließen. Die europäischen Länder mit Außengrenzen zum Meer und zu Fluchtregionen werden stärker finanziell unterstützt werden müssen.

Für Linke sollte es indiskutabel sein, dass man Geflüchteten vor allem diejenigen Arbeitsplätze, Kommunen und Wohnquartiere zuschanzt, in denen die bereits Einheimischen nicht (mehr) leben und arbeiten wollen. Wenn wir eine verschärfte »Landflucht« beobachten oder eine sinkende Geburtenrate u.a. wegen fehlender Vereinbarkeit von Familie und Beruf in modernisierten Lebensweisen, was sagt das über eine Gesellschaft, wenn sie meint, selbstverständlich von den Geflüchteten Leben in ländlichen Regionen und hohe Geburtenraten erwarten zu können? Wer aber Geflüchtete nicht als »Lückenfülle«‹ möchte, der muss insgesamt und spürbar die Lebensbedingungen für die breite Mehrheit der Menschen verbessern.

Wer Aufnahme von Geflüchteten nicht nach deren vermeintlicher demografischer, arbeitsmarktpolitischer oder regionalpolitischer »Nützlichkeit«, sondern menschenrechtlich begründet, wie es die LINKE tun sollte, der akzeptiert damit nicht nur, dass die meisten Neuankömmlinge bleiben, sondern dass sie unsere Gesellschaft verändern und langfristig als gleichberechtigte Mitglieder mitgestalten werden. Dieses Bekenntnis ist richtig, aber es wird sich ohne überfällige Verbesserung für alle kaum durchhalten lassen.

Zusammengefasst ist die politische Linke zur Ausarbeitung eines entsprechenden plausiblen Programms noch viel mehr als andere Parteien verpflichtet: Nicht nur beansprucht sie grundsätzlich und nicht aus Kalkül, sich für Geflüchtete einzusetzen und fordert eine sofortige Einbeziehung. Vor allem aber beansprucht die Linke für sich, von den bereits hier Ansässigen diejenigen gesellschaftlichen Gruppen zu vertreten, auf die die Kosten und Lasten jeglicher Art von Zuwanderung abgewälzt werden, wenn sie nicht flankiert wird in eine fortschrittliche Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.

Wer fordert, dass nicht nur die Geflüchteten aus Syrien und Eritrea bleiben können sollen, sondern auch die Menschen, die vom Westbalkan zu uns gestoßen sind, steht damit in der Pflicht, über die »Willkommenskultur« hinaus innenpolitisch eine Perspektive für ein sozial gerechtes Zusammenleben aufzuzeigen, außenpolitisch sich mit den Fluchtursachen zu befassen und hierzu Handlungsfähigkeit zu entwickeln – auch wenn auf dem Weg dahin einige linke Glaubenssätze am Wegrand zurückgelassen werden.

Alban Werner, Politikwissenschaftler, ist Mitglied im KV Aachen der LINKEN.

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