9. Oktober 2017 Otto König/Richard Detje: FARC-Guerilla wird zur »Bewegungs«-Partei

Neue Seite in der Geschichte Kolumbiens

Juan Manuel Santos Calderón, Präsident von Kolumbien (Foto: flickr.com/Presidencia de la República del Ecuador)

Die »rote Rose« leuchtete unübersehbar zuerst auf der Fassade der Kathedrale, dann am Justizpalast der kolumbianischen Hauptstadt. Es ist das Logo der in Bogotá neugegründeten Partei, deren Kürzel ebenfalls FARC ist, nun aber für »Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común« (Alternative Revolutionäre Kraft des Volkes) steht.

Commandante Rodrigo Londoño, alias Timochenko, erklärte auf dem Placa do Bolivar: »Wir wollen keinen weiteren Tropfen Blut aus politischen Gründen vergießen«. Der Kampf für ein »Neues Kolumbien« werde ohne Waffen fortgeführt. Dieses Ziel bleibe »kein Traum«, wenn »Millionen von Kolumbianern« sich künftig für Frieden, Versöhnung, Einheit und Gerechtigkeit einsetzen.

Zweifellos ein historischer Augenblick für das südamerikanische Land: Nach mehr als einem halben Jahrhundert des bewaffneten Kampfes beschlossen Ende August rund 1.200 Delegierte, darunter knapp fünfhundert Frauen, die »Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia« (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) in eine politische Partei umzuwandeln. Die AktivistInnen wollen von nun an für die Schaffung eines demokratischen politischen Systems in Kolumbien kämpfen, das den Frieden mit sozialer Gerechtigkeit, die Achtung der Menschenrechte und die wirtschaftliche Entwicklung gewährleistet.

Die Ursprünge der Guerilla liegen in den 1950er/60er Jahren, in einer Zeit gewaltsamer Konflikte, als die kolumbianischen Bauern begannen, ihren Landbesitz mit Waffen zu verteidigen. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht kontrollierten die FARC gemeinsam mit der Nationalen Befreiungsarmee (ELN) weite Teile Kolumbiens. In den blutigen Kämpfen zwischen der linken Guerilla und rechten paramilitärischen Gruppen sowie Regierungsstreitkräften wurden rund 260.000 Menschen getötet, mehr als 60.000 gelten als vermisst. Nach vierjährigen Friedensverhandlungen auf Kuba einigte sich die FARC-Führung 2016 mit der kolumbianischen Regierung auf einen Friedensvertrag.

Ein Jahr später, nach der Unterzeichnung des Vertrages in Havanna durch den Staatspräsidenten Juan Manuel Santos und Commandante Rodrigo Londoño, endete in der Siedlung Mariana Páez im Bundesstaat Meta Ende Juni 2017 nach 53 Jahren der bewaffnete Konflikt zwischen der größten und ältesten Guerilla Lateinamerikas und dem kolumbianischen Staat. Die FARC übergab ihre letzten Waffen an die Sonderkommission der Vereinten Nationen.

Dies sei »kein Akt der Niederlage oder Resignation, sondern der Produktion von Zukunft«, sagte ihr Sprecher Jairo Rivera. Damit schließe sich der Kreis zum Jahr 1964, als Manuel Marulanda, Gründer der Aufständischen, geschrieben hat: »Wir sind Revolutionäre, die für einen Wandel des Regimes kämpfen. Wir wollten für diesen Wandel auf die Weise kämpfen, die unser Volk am wenigsten schmerzt: auf friedliche, auf demokratische Art. Dieser Weg wurde uns jedoch mit Gewalt verwehrt«.

Mit dem Entwaffnungsprozess wurde die erste Phase des Friedensvertrages offiziell beendet. In der zweiten Phase soll nun die politische, soziale und wirtschaftliche Integration der ehemaligen rund 8.000 FARC-KämpferInnen in das Zivilleben erfolgen. Dies geschieht in Siedlungen, den »Territorien der Ausbildung und Wiedereingliederung«, in 23 Übergangszonen. Parallel hat die Rebellen-Organisation ein Inventar ihrer Kriegsökonomie angefertigt und begonnen, ihre Besitztümer zu übergeben. Mit letzteren sollen zum einen die Finanzierung der Programme zur Wiedereingliederung und zum anderen die Entschädigung von Opfern des Konfliktes vorgenommen werden.

Im aktuellen Zwischenbericht zum Friedensabkommen heißt es, nur der kleinste Teil davon, vor allem die Entwaffnung der Guerilleros, sei bis jetzt umgesetzt. Dagegen gestalte sich die Verabschiedung der entsprechenden Gesetze und Normen im Kongress z.B. zur Landreform und zur Übergangsjustiz sehr zäh. Hinter dem Zögern des Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos, die Verträge vertragsgetreu umzusetzen, steckt anscheinend taktisches Kalkül. Mit Blick auf den Präsidentschaftswahlkampf 2018 will er den Guerilleros nicht allzu viele Zugeständnisse machen, um sein konservatives Wählerklientel nicht zu verschrecken.

Auf dem Weg des Friedensprozesses kann Santos zwar auf den an internationalen Investoren orientierten, neoliberalen Flügel der »Partido Social de Unidad Nacional« bauen, dagegen opponiert vor allem der Teil der kolumbianischen Oligarchie, der den ländlichen Großgrundbesitz repräsentiert und sich um das rechtsradikale »Centro Democratico« seines ultrarechten Amtsvorgängers Alvaro Uribe Velez (2002 und 2010) schart, beharrlich gegen ihn. Diese ultrarechte Fraktion bekämpft die Umsetzung der Havanna-Vereinbarungen, insbesondere wegen der Amnestiegesetze für die FARC-Guerilleros und der Teil-Umverteilung der von Großgrundbesitzern monopolisierten Agrarflächen. Die Landreform soll dazu dienen, vertriebenen Bauern ihren Besitz zurückzugeben und ehemaligen Kämpfern die Möglichkeit bieten, legal für ihren Lebensunterhalt zu sorgen.

Schließlich hatten sich die Ultrarechten in der Vergangenheit mit den neofaschistischen Paramilitärs verbunden, die im Auftrag des Staates und der Latifundienbesitzer den blutigen Kontra-Guerilla-Krieg führten und die Bauern von ihrem Land vertrieben. Alvaro Uribe Velez hat nach wie vor viele Unterstützer im kolumbianischen Staatsapparat und insbesondere im Militär und der Polizei, die alles daran setzen, die Umsetzung der Reformen institutionell zu behindern.

Das trägt wesentlich dazu bei, dass Paramilitärs und Drogenbanden in die bisher von der FARC kontrollierten Gebiete vorrücken und das durch den Abzug der Guerilla entstandene Machtvakuum ausfüllen, ohne dass ihnen die Staatsmacht Widerstand entgegensetzt. Die ausbleibende staatliche Unterstützung erschwert es den lokalen Gemeinden, sich der gewaltsamen Invasion der mafiösen Banden erwehren zu können. In diesen ländlichen Gebieten habe sich die Tötungsrate seit dem Friedensabschluss nicht verringert, so der Konfliktanalytiker Ariel Avila von der Stiftung Frieden und Versöhnung in Bogotá. Im Gegenteil: In den letzten sechs Monaten vor dem Friedensabkommen wurden 708 Menschen ermordet. In den ersten sechs Monaten danach 780. Verschärft wird die Lage noch durch die Ermordung von 101 Mitgliedern sozialer Bewegungen, Menschenrechtsaktivisten und Gewerkschaftern seit Jahresanfang, berichtet der Alternativsender Contagio Radio.

Die AnalystInnen des Forschungsinstituts INDEPAZ vermuten hinter diesen Verbrechen jenen paramilitärischen Komplex, dessen Interesse an illegalen Geschäften wie Drogenhandel und Bergbau besteht, zu dem lokale Eliten, aber auch Akteure staatlicher Institutionen wie dem Militär und dem Geheimdienst gehören. Die derzeit größte bewaffnete Organisation, die Gaitanistischen Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AGC), erklärte Anfang September ihre Bereitschaft, in Verhandlungen mit der Regierung treten zu wollen.

Aus den FARC wurde Anfang September die neue FARC. Welche die langfristigen politischen Ziele der neuen Partei sein werden, wird sich noch zeigen müssen. Programmatisch konzentriert man sich aktuell auf die Umsetzung und das Vorantreiben der Bestimmungen in den »Verträgen von Havanna«, d.h. die Umsetzung der Landreform, eine progressive Koka-Politik, Demokratisierung des kolumbianischen Staates und Partizipation von Minderheiten. Aus den Diskussionen über neue Ideen und Konzepte lässt sich ableiten, dass die neue FARC an der Kritik des kapitalistischen Systems festhält und sich Themen wie Diversität, den Rechten von LGBTI, Afrokolumbianern, Indigenas und dem Schutz der Umwelt zuwenden will.

Iván Márquez, Unterhändler bei den Friedensverhandlungen auf Kuba, betonte in der Eröffnungsrede auf dem Parteitag Ende August, die FARC wolle Teil des historischen-gesellschaftlichen Prozesses sein, »der den Aufbau einer alternativen Gesellschaft ermöglicht, in der soziale Gerechtigkeit, wirkliche und fortschrittliche Demokratie« herrsche, »wirtschaftliche, soziale, ethnische, religiöse und geschlechtliche Diskriminierung und Ausgrenzung überwunden« seien und ein würdevolles Leben in einer »neuen Art gesellschaftlicher Beziehungen in Kooperation, Brüderlichkeit und Solidarität« garantiert werde. Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit wolle man mit dem des Buen Vivir (Gutes Leben) verknüpfen.

Organisatorisch ähnelt die neue Partei der alten Kaderstruktur der Guerilla. Aus dem ehemaligen 31 Mitglieder umfassenden Generalstab wurde ein aus mit 111 Mitgliedern recht großes neues Führungsorgan, dem »Nationalrat der Abgeordneten«. Dieser bestimmte einen 15-köpfigen Politischen Rat, an dessen Spitze Präsident Rodrigo Londoño steht.

Zu den nächsten Aufgaben gehört die Vorbereitung auf die Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2018. Spätestens dann muss sich die FARC als neue politische Kraft an Wählerstimmen messen lassen, auch wenn ihr in den kommenden zwei Legislaturperioden je fünf Sitze in den beiden Kammern des Kongresses garantiert sind, unabhängig davon, wie sie beim Urnengang abschneidet. Bei den Wahlen wird sich zeigen, wie tief die FARC in der Zivilgesellschaft und in denen von ihr teils über Jahrzehnte kontrollierten Territorien verankert ist und ob es ihr gelingt, nicht nur in ihren Kerngebieten Stimmen einzusammeln, sondern auch die BürgerInnen in den Städten von ihrem fortschrittlichen Programm zu überzeugen.

Kurzfristiges Ziel der neuen Bewegungspartei ist es, dazu beizutragen, alle progressiven Kräfte zu bündeln, die eine sogenannte »Übergangsregierung« stützen, um ein Zurückdrehen des Friedensprozesses durch die Ultrarechten nach der Wahl zu verhindern. Amtsinhaber Manuel Santos darf aus Verfassungsgründen nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten. Als einer der wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidaten gilt Humberto de la Calle, der aufseiten der Regierung die Friedensverhandlungen geführt hatte. Sein möglicher Herausforderer, der frühere Staatschef Álvaro Uribe, steht für erneute Zunahme der Repression, verschärften Sozialabbau und weitere Verfolgung der linken Opposition und der Gewerkschaftsbewegung.

Kolumbien steht in den kommenden Wochen vor der Herausforderung, auf politischem Wege die ausufernde Gewalt paramilitärischer und krimineller Banden einzudämmen und möglichst zu beenden, um zu verhindern, dass nicht nur die FARC-AktivistInnen ihr politisches Engagement für ihre neue Partei mit dem Leben bezahlen. Keiner auf der Linken hat vergessen, wie in den 1980er Jahren die ihnen nahestehende Partei »Patriotische Union« von den Rechten ausgelöscht wurde. Letztlich ist es jetzt auch notwendig, den begonnenen Friedensprozess mit der zweitgrößten Guerilla Nationale Volksbefreiungsarmee (ELN) zum Abschluss zu bringen. All diese Herausforderungen müssen von der kolumbianischen Zivilgesellschaft gemeinsam geschultert werden.



[1] Vgl. Otto König/Richard Detje: Kolumbien: Guerilla und Regierung schließen Waffenstillstand. Ende des längsten Bürgerkrieges in Lateinamerika, Sozialismus Aktuell.de 3.7.2016; www.sozialismus.de/nc/vorherige_hefte_archiv/kommentare_analysen/detail/artikel/ende-des-laengsten-buergerkrieges-in-lateinamerika/
[2] DW, 7.9.2017.
[3] Der Generalkommandant der paramilitärischen Gaitán-Selbstverteidigungsgruppen (AGC), Dairo Úsuga alias »Otoniel«, kündigte an, sich der Justiz zu stellen. Voraussetzung dafür sei ein »würdiger Ausweg« für alle Kämpfer. Nach Schätzungen zählen zur AGC zwischen 1900 und 3500 bewaffnete Paramilitärs.
[4] Seit Anfang Februar 2017 verhandeln die kolumbianische Regierung und die Nationale Befreiungsarmee (ELN) in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito über ein Friedensabkommen. Jetzt beschlossen beide Seiten eine Waffenruhe, die vom 1. Oktober an gut 100 Tage bis in die zweite Januar-Woche 2018 dauern soll. Präsident Santos kündigte die Gründung einer Kommission zur Überprüfung der Vereinbarungen an, an der die Vereinten Nationen und die katholische Kirche beteiligt sein werden.


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