6. Juli 2015 Joachim Bischoff / Björn Radke: Griechenland nach dem Referendum

Neue Verhandlungen oder Failed State?

Das Referendum in Griechenland ergab bei einer Wahlbeteiligung von 62% ein deutliches Votum für die Politik von Syriza. Gut 61% der abgegebenen Stimmen unterstützten den Appell an die Beendigung der neoliberalen Austeritätspolitik. Sicherlich ist diese eindeutige Positionsbestimmung des Widerstandes gegen die hegemoniale neoliberale Politik in der Euro-Zone und der EU auch eine Stärkung der reformistischen pro-europäischen Linken in anderen Ländern, vor allem in Spanien und Portugal.

Allerdings folgt aus diesem Votum gegen die Fortsetzung eines politischen Kurses nicht zwangsläufig eine Bereitschaft zur Korrektur des Verhandlungs- und Verständigungsprozesses seitens der »Institutionen«.

In der Abstimmung am Sonntag ging es zentral um die Sparauflagen und die Beendigung der sozial-ökonomischen Abwärtsspirale. Aber im Hintergrund stand auch die Frage, ob das Land in der Eurozone bleibt, und ob die politische und wirtschaftliche Erneuerung im Verbund der europäischen Mitgliedsländer erfolgen kann. Eine deutliche Mehrheit der Griechen will in der EU bleiben.[1]

Im europäischen Verbund könnte das Angebot von Finanzhilfen im Gegenzug für Reformen denjenigen im Land helfen, die eine sich selbsttragende Wirtschaft in einem modernen Staat gestalten möchten. Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem hatte jedoch – in Übereinstimmung mit einem Großteil der politischen Elite der Eurozone – die Mitgliedschaft des Landes in der Währungsunion bei einer Ablehnung des Sparprogramms in Frage gestellt.

Für die griechische Linksregierung fasste der nunmehr zurückgetretene Finanzminister Yanis Varoufakis die Alternative zu Recht so zusammen: »Was wir haben, ist seit fünf Jahren eine Krise, und es gab eine demokratische Debatte, wie man sie lösen sollte. Die Institutionen und die Euro-Gruppe haben einen Vorschlag gemacht. Unsere Regierung hat entschieden, dass dies keine Lösung ist …, weil dieses Paket nicht funktionieren wird.«[2]

Auch viele andere Beobachter sind der Auffassung, dass das vermeintlich großzügige Angebot die griechische Ökonomie nicht aus der Abwärtsspirale holen kann. Warum haben dann aber die Institutionen, letztlich die Politiker der europäischen Eliten, diesen ultimativen, vergifteten Köder ausgelegt, den die griechische Linksregierung ablehnen musste?

Wir folgen der These des US-Wirtschaftshistoriker Barry Eichengreen: Die grandiose Inkompetenz der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatte einen politischen Hintergrund. Die drei Institutionen hätten 2010 einen Schuldenschnitt abgelehnt, obwohl die Kosten zu diesem Zeitpunkt gering gewesen wären, und im Gegenzug so getan, als ob Griechenland seine Schulden zurückzahlen könnte und eiserne Sparmaßnahmen sowie Steuererhöhungen gefordert. Das, so der US-Ökonom, habe wohl kaum zu ihrer Glaubwürdigkeit beigetragen. »Sie haben die Tatsache ignoriert, dass sie damit das Land in eine noch tiefere Depression stürzen. Indem sie ihre eigenen Bilanzen privilegierten, bekamen sie die griechische Regierung und das Resultat, das sie verdienen.«[3]

Denn die griechische Krise hätte vermieden werden können, nichts an der desaströsen Entwicklung war unvermeidlich. Sie resultiert daraus, dass die Krise auf katastrophale Weise gemanagt wurde. Mit ein wenig intellektueller Flexibilität hätte sie 2010 gelöst werden können – wenn Griechenland damals ein vollständiger Schuldenschnitt im Gegenzug zu Wirtschaftsreformen angeboten worden wäre. Dann hätte das Land einen Absturz seiner Wirtschaftsleistung um 25% seit 2007 vermeiden können.

Einer der wenigen Politiker, der schon 2012 auf einen Grexit hinarbeitete, ist Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Daher war die jetzige Konstellation seine (kurze) Sternstunde: Nachdem er es geschafft hat, die Reihen der 18 Euroländer gegen den griechischen Finanzminister Varoufakis geschlossen zu halten und einen  Kompromiss zu verhindern, ist er in der Unionsfraktion mit Ovationen gefeiert worden. Auch in der Bevölkerung kommen die kritischen Kommentare und harten Worte Schäubles gegenüber der griechischen Regierung gut an: Im neuen ARD-Deutschland-Trend ist der Politik-Veteran mit 70% Zustimmung so beliebt wie noch nie.[4]


Was folgt aus der Inkompetenz der europäischen Entscheider?

Griechenland befindet sich auch nach der Abstimmung im Ausnahmezustand, die Banken sind geschlossen und die Wirtschafts- und Einkommenskreisläufe sind erheblich eingeschränkt. Athen kann weiteren Beistand des Euro-Krisenfonds ESM nur erhalten, wenn es ein drittes Hilfsprogramm aushandelt.

Vor dem Aushandeln stützt sich Griechenland auf eine gestärkte handlungsfähige Regierung. Es könnten und müssten sofort Verhandlungen mit den Institutionen aufgenommen werden, nicht zuletzt um eine Fortführung der Geld- und Kreditversorgung durch die EZB zu erreichen. Der IWF hat in einem vorläufigen Bericht von Anfang Juli einen griechischen Finanzbedarf von gut 50 Mrd. Euro bis Ende 2018 prognostiziert. Daraus folgt für ihn, dass Schritte erforderlich wären, um die griechischen Schulden tragbar zu machen. Die europäischen »Institutionen« sind jedoch zu einem Schuldenschnitt nicht bereit. Der Kompromiss könnte in einer »Umgruppierung« liegen. Außerdem verschlechtert sich die Wirtschaftslage täglich, so dass mehr Mittel, z.B. für Bankenhilfen, nötig werden.

Angesichts dieser Konstellation ist ein klarer Schnitt, den vor allem die neoliberalen Ökonomen und Politiker in Deutschland fordern, unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher erscheint folgende Alternative: Entweder gibt es zügige Verhandlung unter Fortführung des Engagements der EZB oder ein  Schlittern in einen »schmutzigen« Grexit. Ausgelöst werden könnte er zum Beispiel dadurch, dass die Regierung wegen eines eklatanten Mangels an Liquidität im Bankensystem eigenes Geld zu drucken beginnt. Für Griechenland wäre dies der Start in eine höchst ungewisse Zukunft, den die EU-Partner zumindest mit humanitärer Hilfe[5] begleiten müssten.

Zentral bei einer positiven Alternative: Die EZB müsste mitspielen. Sie muss bereit sein, das Volumen des bisherigen Notkredit-Regimes so lange auszuweiten, bis es zu einer neuen Vereinbarung kommt.


Stationen des neoliberalen Scheiterns

Griechenland durchlitt während fünf Jahren eine Depression, wie sie westliche Volkswirtschaften zuletzt in der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre durchleben mussten. Solche wirtschaftlichen Rosskuren stellen die demokratische Willensbildung in Frage. Fünf Jahre Depression haben das griechische Volk derart belastet, dass im Januar 2015 ein klares Votum gegen die Fortsetzung des neoliberalen Sanierungskurses zustande kam: Der Wahlsieg des Linksbündnisses Syriza ist die Folge der Misere, nicht ihre Ursache.

Griechenland wurde während der vorhergehenden Jahrzehnte katastrophal inkompetent regiert. Die oligarchische Oberschicht wollte auch keine Modernisierung der öffentlichen Organisation. Die politischen Konstellationen in den vergangenen fünf Krisenjahren unter Papandreou, Papademos und Samaras waren zu einer gesellschaftlichen Erneuerung nicht fähig. Die Institutionen des Landes weisen alle Merkmale eines Crowny-Capitalismus auf. Grundlegende Strukturreformen waren – und sind – dringend nötig.

Doch der offene Ausbruch der Krise 2009 machte deutlich, dass Griechenland nur eine geringe Chance hatte. Die Staatsfinanzen waren dermaßen aus dem Lot und das Wirtschaftspotenzial dermaßen schwach, dass eine Gesundung aus eigener Kraft und ohne die Möglichkeit einer Währungsabwertung sehr schwer möglich war. Insofern war es auch von Beginn an eine Illusion, Griechenland mit Portugal, Irland oder Spanien zu vergleichen, die im Vergleich gesündere Staatsfinanzen und einen robusteren Exportsektor besitzen. Hellas war an der Peripherie der Eurozone von Beginn an einzigartig.


Die aktuelle ökonomische Lage

Griechenland ist gegenüber dem IWF in Zahlungsverzug geraten. Das Land hat damit das Recht verloren, Finanzhilfen zu beanspruchen und zu beantragen, solange es seine aufgelaufenen Schulden nicht bezahlt. Der Zahlungsverzug stellt andere Gläubiger wie die Hilfsfonds und die EZB nun vor die Entscheidung, ob sie ihre ausstehenden Kredite und Sicherheiten in Form griechischer Staatsanleihen neu bewerten müssen.

Das griechische Bankensystem ist faktisch pleite. Da sind zunächst die notleidenden Kredite. Aus dem griechischen Bankensystem fließen seit Monaten die Einlagen ab. Diese Abflüsse wurden durch Notkredite der griechischen Zentralbank kompensiert, so dass die Banken liquide blieben. Derzeit gewährt die Zentralbank dem griechischen Bankensystem ELA-Kredite in der Höhe von gegen 90 Mrd. Euro. Die EZB, die diese Kredite genehmigen muss, hat sie auf diesem Niveau eingefroren.

Da sie nicht mehr ausreichend sein dürften, um die Abflüsse zu kompensieren, dürften griechische Geldhäuser derzeit nicht mehr liquide und funktionstüchtig sein. Deshalb, und damit die Mittelabflüsse nicht unkontrolliert weitergehen, sind sie bis auf weiteres geschlossen. Erhalten sie keinen Zugang zu neuen Mitteln, wird die EZB, die die größeren Finanzinstitute beaufsichtigt, deren Insolvenz feststellen müssen. Danach müssten sie saniert werden.

Um den unkontrollierten Mittelabfluss zu verhindern, wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt – wie im Frühjahr 2013 bereits auf Zypern. Plötzlich ist es nur noch eingeschränkt möglich, nationale oder internationale Überweisungen zu tätigen und Bargeld abzuheben. Größere kommerzielle Transaktionen müssen genehmigt werden.

Ist ein Land insolvent und hat keinen Zugang zu neuen Krediten mehr, kommt es jeweils zu Umschuldungsverhandlungen mit den Gläubigern. Im Fall von Griechenland müssten diese primär mit dem IWF, der EZB und der Europäischen Kommission geführt werden. In diesen Verhandlungen über  eine Schuldenrestrukturierung geht es dann um die Umwandlung der laufenden Schulden und einen Schuldenschnitt. Kompliziert wird die Situation dadurch, dass die EZB eigentlich keine monetäre Staatsfinanzierung betreiben darf und deshalb keinem Schuldenschnitt zustimmen dürfte.

Auch der europäische Rettungsschirm (EFSF) hat offiziell einen Zahlungsausfall von Griechenland ausgerufen. Auf Vorschlag von EFSF-Chef Klaus Regling verlangt der Rettungsschirm jedoch noch nicht die unmittelbare Rückzahlung der Hilfskredite. Griechenland ist der größte Kreditnehmer des EFSF. Insgesamt schuldet Griechenland dem EFSF knapp 145 Mrd. Euro.

In der Summe wird der gesellschaftliche Wertschöpfungsprozess durch diese und die künftige Entwicklung weiter in einer rezessiven Abwärtsspirale gehalten.


Die Rahmenbedingungen von neuen Verhandlungen

Die internationalen Geldgeber wollen nach dem Referendum wieder mit der Regierung in Athen verhandeln. Die Bundesregierung bleibt bei ihrem Nein zu einem weiteren Schuldenschnitt für Griechenland. Finanzminister Schäuble dämpft Hoffnungen der griechischen Regierung, nach der Volksabstimmung zügig frische Hilfsgelder zu erhalten. Verhandlungen darüber würden nach Auslaufen des letzten Programms »auf völlig neuer Grundlage und unter erschwerten wirtschaftlichen Voraussetzungen« stattfinden. »Das wird schon eine Weile dauern.«

Schäuble sagte weiter: »Wir müssen abwarten, wie die Regierung in Athen mit dem Ergebnis umgeht, welche Folgen das hat. Und dann können die Griechen einen Antrag auf Aufnahme von Verhandlungen stellen.« Wenn es einen solchen griechischen Antrag gebe, werde er von den Finanzministern der Eurozone geprüft. »Und wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind, wird die Euro-Gruppe neue Verhandlungen befürworten. Entscheiden muss vorher der Bundestag. Nur dann dürfen wir überhaupt verhandeln.«

Der deutsche Finanzminister erwartet schwierige Verhandlungen. »Die Rede ist von einem Programm nach dem klaren Prinzip: Unterstützung nur für echte Gegenleistung. Griechenland braucht Reformen. Aber ich weiß jetzt schon: Das würden sehr schwierige Verhandlungen sein. Denn die Lage in Griechenland hat sich in den letzten Wochen dramatisch verschlechtert.«


Die Analyse des IWF
[6]

Griechenland wird, folgt man dem IWF, eine Verlängerung der Kredite und umfangreiche Schuldenschnitte benötigen. Dies könnte der Fall sein, wenn das Wachstum geringer als erwartet ausfallen und Wirtschaftsreformen nicht umgesetzt werden sollten. Angesichts der Zielabweichungen der Politik und der jüngsten Vorschläge Griechenlands werde das Land bis 2018 etwa 50 Mrd. Euro an zusätzlichen Krediten benötigen.

Griechenland hätte seine Schulden selbst unter den zuletzt diskutierten Szenarien nicht regulär zurückzahlen können. Und Europa hätte zusätzliche Kredite von mehr als 50 Mrd. Euro in den nächsten drei Jahren bereitstellen und weitere substanzielle Konzessionen machen müssen, um Griechenland solvent zu halten und dessen Schuldentragfähigkeit wiederherzustellen. Dies ist die Kernaussage einer internen Analyse, welche der IWF in einem ungewöhnlichen Schritt am Donnerstag vor dem Referendum veröffentlicht hat. Dies geschah, nachdem die griechische Regierung einseitig Teile davon bekanntgemacht hatte. Die nun veröffentlichte Analyse geht von einem Stand in der zweiten Junihälfte aus; die heutige Lage präsentiert sich noch düsterer.

Der IWF kommt zum Schluss, dass geringere Primärüberschüsse (unter Ausklammerung des Schuldendienstes), ausbleibende Privatisierungseinnahmen und verschlechterte Wachstumsaussichten wegen ausgebliebener struktureller Reformen selbst unter nun sehr optimistisch erscheinenden Annahmen zu einem zusätzlichen Finanzierungsbedarf von 29 Mrd. Euro bis September 2016 und von 52 Mrd. Euro bis Dezember 2018 geführt hätten.

Selbst unter diesen Bedingungen könnte die Schuldentragfähigkeit allerdings nur wiederhergestellt werden, wenn die griechische Regierung auf einen nachhaltigen Reformpfad und damit zurück zu Wachstum fände. Als Fazit bleibt, dass der IWF dem heruntergewirtschafteten Land bescheinigt, schweren Zeiten entgegenzugehen und seine Schulden nicht zu marktgängigen Bedingungen zurückzahlen zu können.

Selbst bei den optimistischsten Annahmen sei 2020 mit einer Staatsverschuldung von 150% des Bruttoinlandsprodukts und 2022 von 140% zu rechnen, heißt es in dem Bericht. Um die im November 2012 vereinbarten Schuldengrenzen zu erreichen, sei ein Schuldenschnitt nötig.


Zusammenarbeit in einem demokratischen Staaten-Verbund?

Griechenlands EU-Mitgliedschaft hat seinen Gläubigern beträchtlichen Einfluss eröffnet. Seit dem Hilfsprogramm von 2010 wurde freilich ein elementarer Fehler fortgeschleppt: Griechenland ist trotz der ökonomisch-finanziellen Notlage ein souveränes Land, kein halbsouveräner Teilstaat. Die Troika der Kreditgeber hat sich – teils in schlechter, die Oligarchen schützender Manier – in die Alltagsverwaltung eingemischt.

Die griechische Linksregierung wollte diese Herabsetzung durch die Troika beenden und andere politische Prioritäten bei der Umsetzung dieser Haushaltsanpassung setzen. Also die Mehrwertsteuer etwas geringer anheben und die Unternehmenssteuern etwas stärker erhöhen, höhere Beiträge zur Sozialversicherung anstelle niedrigerer Auszahlungen und Ähnliches. Der letzte griechische Vorschlag war durchgerechnet, unter Einhaltung der Annahmen sind damit die vorgegebenen Zielwerte zu erreichen.

Die Institutionen haben kritisiert, dass das von Athen vorgelegte Maßnahmenpaket die wirtschaftliche Erholung behindern könnte, weil es zu stark auf Einnahmeerhöhungen des Staates und höhere Lohnnebenkosten setzt. Unter Umständen würde eine andere Kombination von Einzelmaßnahmen tatsächlich ein etwas höheres Wirtschaftswachstum erlauben – aber das vorgelegte Maßnahmenpaket ist in sich konsistent und legitimer Ausdruck des politischen Willens des griechischen Souveräns.

Das ist der entscheidende Punkt. Bei der Beurteilung des griechischen Regierungsprogramms geht es um die grundlegende Frage der Zusammenarbeit in einem demokratischen Staatenbund. Athen besteht beim Erreichen der gemeinsam mit den Gläubigern gesteckten Ziele auf das Setzen eigener politischer Prioritäten.

Die besten strukturellen Anpassungsprogramme sind diejenigen, bei denen die Regierung des Schuldnerlandes Reformvorschläge macht und von den Gläubigerinstitutionen Rückendeckung für die Stabilisierung der Ökonomie erhält. Einem Land Änderungen von außen aufzuzwingen, ist keine effektive Option. Damit Reformen greifen können, müssen die griechische Regierung und die GriechInnen selbst von ihnen überzeugt sein.


Ein Grexit als Alternative?

Führende deutsche Ökonomen, allen voran ifo-Präsident Hans-Werner Sinn und der AfD-Professor Joachim Starbatty (und selbst ein Teil der bundesdeutschen Linken) betonen immer wieder, ein Grexit und die damit verbundene Einführung einer Parallelwährung würde das Land wieder wettbewerbsfähig machen. Nur wenn das Land den Euro aufgibt, könne es wieder gesunden und seine Freiheit zurückerlangen. Eine Abwertung der eigenen Währung mache den Weg frei für einen Wirtschaftsboom, prophezeit Sinn. Die produzierende Wirtschaft profitiere nach der Abwertung von dem einsetzenden Tourismusboom und zusätzlichen Exportchancen.

Zugleich würde jedoch die reale Kaufkraft der Konsumenten beschnitten, da die Preise für importierte Produkte nach Maßgabe des Abwertungssatzes ansteigen würden. Bisher wurden mit europäischem Geld vorrangig Banken gerettet; nach dem Austritt müsse die europäische Solidarität dem griechischen Volk zugutekommen. Allerdings  wäre eine Anschubfinanzierung notwendig, um das Gesundungsprojekt zu beschleunigen.

Die Befürworter einer Austeritätspolitik verschleiern auch, dass Griechenland die ausgestellten Kredite nicht verzinsen und zurückzahlen, sondern als Haushaltsdefizite verbuchen müsste. Erst dann aber sähen die Steuerzahler, was sie die Rettungspolitik kostet. Die Politiker aus den Gläubigerländern bestehen auf der verhängnisvollen Austeritätspolitik, weil sie sonst das Scheitern der Politik von Angela Merkel zugeben müssten.


Voraussetzungen für die Erholung Griechenlands

Wir bezweifeln, dass diese Einschätzung tragfähig ist. Der Exportsektor ist sehr geschrumpft und die De-Industrialisierung hat in Griechenland massive Spuren hinterlassen. Das ist auch der griechischen Regierung durchaus bewusst, wie der zurückgetretene Finanzminister Varoufakis in einem »Entwurf für die Erholung Griechenlands«[7] ausführlich begründet.

»Um Investitionstätigkeit und Kreditvergabe wieder auf ein Niveau zu heben, das mit einer wirtschaftlichen Ausbruchsgeschwindigkeit vereinbar ist, braucht … Griechenland zwei neue öffentliche Institutionen, die Seite an Seite mit dem privaten Sektor und den europäischen Institutionen arbeiten: eine Entwicklungsbank, die die öffentlichen Aktiva nutzbar macht, und eine ›bad bank‹ die das Bankensystem in die Lage versetzt, seine notleidenden Vermögenswerte loszuwerden und den Kreditfluss an profitable, exportorientierte Unternehmen wiederherzustellen…

Die neue Entwicklungsbank würde eine Führungsrolle übernehmen, um die knappen heimischen Ressourcen in ausgewählte, produktive Investitionen zu lenken… Zugleich hätten die griechischen Regulierungsbehörden ein wachsames Auge auf die gewerbliche Kreditvergabe, während eine Schuldenbremse unsere Regierung hindern würde, sich wieder den alten, schlechten Gewohnheiten hinzugeben. So würde sichergestellt, dass unser Staat nie wieder ein Primärdefizit anhäuft. Kartelle, wettbewerbsfeindliche Rechnungspraktiken, grundlos abgeschottete Berufe und eine Bürokratie, die den Staat traditionell in eine Gefahr für die Öffentlichkeit verwandelt hat, würden schnell erkennen, dass unsere Regierung ihr schlimmster Feind ist.

Die Wachstumsbarrieren der Vergangenheit beruhten auf einer unheiligen Allianz oligarchischer Interessen und politischer Parteien, einem skandalösen Beschaffungswesen, Vetternwirtschaft, dauerhaft gestörten Medien, übertrieben kreditfreudigen Banken, schwachen Steuerbehörden und einer überlasteten, ängstlichen Justiz. Nur das helle Licht demokratischer Transparenz kann derartige Hemmnisse beseitigen. Unsere Regierung ist entschlossen, diesem Licht den Weg zu bereiten.«

Entscheidend wird sein, ob das politische Klima freundlich und stabil genug ist, um mehr Auslandsinvestitionen als in der Vergangenheit anzuziehen. Erst dann wäre ein Aufschwung denkbar, der das Land wieder auf eigenen Beinen stehen ließe.

[1] Die Minderheit bei der Volksabstimmung wurde im Wesentlichen von den konservativ-bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie gestellt. Dabei war aber auch die kommunistische Partei KKE. »Die Position der KKE ist eindeutig: Das Nein, das das griechische Volk zum Ausdruck bringen muss, soll beide Vorschläge betreffen, sowohl den Vorschlag der Kreditgeber, als auch den Vorschlag der Regierung, eine 47-seitige Vorlage, die in der letzten Zeit vielfältig ergänzt wurde. Beide Vorschläge beinhalten nämlich drastische Maßnahmen zu Lasten des Volkes. Das Referendum weist Merkmale einer Erpressung des Volkes auf, und zielt darauf, das Volk zum Mittäter bei den volksfeindlichen Planungen zu machen. Bei dem Referendum wird das Volk aufgerufen, zwischen Pest und Cholera zu wählen. … Das Volk soll mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, beiden sein NEIN entgegensetzen, und sowohl den Plan der Kreditgeber, als auch den Plan der Regierung ablehnen. Die Menschen aus den Volksschichten sollen sich erheben und die einzige realistische Lösung für ihre Interessen einfordern: den Bruch mit der EU und dem heutigen Entwicklungsweg.«
[2] Yanis Varoufakis, Europa hat beschlossen, uns zu erpressen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 5. Juli 2015.
[3] Barry Eichengreen, Path to Grexit tragedy paved by political incompetence,  June 28, 2015 in the conversation.
[4] FAZ vom 3.7.2015.
[5] Es war die im Januar 2015 gewählte griechische Linksregierung, die von Beginn an den Kampf gegen die drohende humanitäre Katastrophe in den Mittelpunkt ihrer Politik gestellt hat – und nicht jene innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Eliten hierzulande – vom CSU-Mittelstandschef Hans Mittelbach bis hin zum stellvertretenden SPD-Fraktionschef Carsten Schneider –, die nun damit hausieren gehen, »wir müssen natürlich humanitäre Hilfe leisten«.
[6] Die Rolle des IWF bei der Bewältigung von Krisensituationen nicht nur im Falle Griechenlands erforderte eine eigene gründliche Untersuchung und Bewertung, die hier nicht geleistet werden kann.
[7] Yanis Varoufakis, Ein Entwurf für die Erholung Griechenlands, in: Project Syndicate, 6.5.2015

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