18. Juli 2017 Otto König / Richard Detje: SIPRI zu Nuklearwaffen und deren Modernisierung

Neuer nuklearer Rüstungswettlauf

Während bei den Vereinten Nationen in New York 132 Staaten – allesamt Staaten, die keine Atomwaffen besitzen – einen Vertragsentwurf verabschiedet haben, der die »totale Beseitigung nuklearer Waffen« bewirken soll, konterkarieren die Atommächte – USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Pakistan, Indien, Nordkorea und Israel – die Initiative mit der größten militärischen Nuklearoffensive seit Jahrzehnten.

Es sind die »nuklearen Habenichtse«,[1] die ein weltweites Atomwaffenverbot vorantreiben, während die neun Atommächte in die Weiterentwicklung ihrer nuklearen Waffentechnologie investieren, so der aktuelle Bericht des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI.[2] Zwar hat sich die Zahl der atomaren Sprengköpfe weltweit, die in den Zeiten des »Kalten Krieges« noch bei fast 70.000 gelegen hatte, seit 1991 als Ergebnis der drei START-Abrüstungsvereinbarungen auf 14.935 Anfang 2017 verringert.

Doch die nukleare Abrüstung hat sich nicht nur verlangsamt. Zugleich habe – so die SIPRI-Forscher – ein neues »qualitatives Wettrüsten« eingesetzt. Dabei stellt das vorhandene Arsenal immer noch eine Overkillkapazität dar, mit der die Existenzgrundlagen der menschlichen Zivilisation irreversibel zerstört werden können.

Sowohl die USA als auch Russland, die insgesamt über 93% der Atomwaffen verfügen, haben SIPRI zufolge umfangreiche und kostenintensive Modernisierungsprojekte gestartet. Die USA kündigten an, ihr Arsenal in den nächsten neun Jahren mit einer Summe von mehr als 400 Milliarden Dollar zu modernisieren. Laut SIPRI schätzen Experten die Gesamtkosten über drei Jahrzehnte, mit denen bestehende Systeme ersetzt, neue Bomber entwickelt, atomare U-Boote und Trägerraketen betrieben, nukleare Kommando- und Kontrolleinrichtungen modernisiert sowie neue Produktionsstätten für Atombomben und Simulatoren für deren Einsatz gebaut werden sollen, auf die nur schwer vorstellbare Summe von einer Billion Dollar.

Dabei war es der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der in seiner viel bejubelten Rede 2009 in Prag die Vision »einer atomwaffenfeien Welt« verkündet und »konkrete Schritte« zur Abschaffung der Kernwaffen angemahnt hatte, da die Existenz Tausender Atomwaffen das »gefährlichste Erbe des kalten Krieges« sei. Kam es 2010 zunächst noch zum Abschluss des »New Start«-Abkommens, in dem sich die USA und Russland einigten, ihre strategischen Atomwaffen zu verringern, ordnete der Friedensnobelpreisträger jedoch noch im gleichen Jahr ein auf 30 Jahre angelegtes Modernisierungsprogramm an, mit dem die USA bei der Erneuerung der nuklearen Potentiale den anderen Atommächten vorauseilen soll.

Sein Nachfolger Donald Trump setzt die Pläne nun mit einer aggressiveren Gangart fort. »Die USA streben eindeutig nach Waffensystemen, die jenen aller anderer Länder überlegen sind«, erklärte SIPRI-Forscher Hans Kristensen. SIPRI nimmt an, dass Russland versuchen wird, »eine ungefähre strategische Parität mit den USA aufrechtzuerhalten«. Es wird geschätzt, dass die russische Regierung zwischen 2014 und 2024 ca. 54 Mrd. US-Dollar für den Ausbau der nuklearen Fähigkeiten ausgeben will. Gleichzeitig hat Wladimir Putin vorgeschlagen, den »New-Start«-Vertrag bis 2026 zu verlängern.

 

In der Europäischen Union besitzen nur Großbritannien und Frankreich Nuklearwaffen. Das englische Kernwaffenarsenal umfasst schätzungsweise 215 Sprengköpfe. Im vergangenen Jahr votierte das britische Parlament für ein Nachfolgesystem der Trident-Atomraketen, das jedoch laut der Regierung May nicht als Ganzes, sondern in Einzelschritten finanziert werden soll. Das Arsenal in Frankreich umfasst rund 300 Sprengköpfe. Auch hier plant die Regierung, dass spätestens 2035 die nächste Generation von U-Booten mit Atomraketen einsatzbereit sein soll. »Das französische Verteidigungsministerium hat Studien für eine Nachfolgerakete auf den Weg gebracht. Im Mittelpunkt stehen eine verbesserte Tarnkappen- und Hyperschalltechnologie«, heißt es im SIPRI-Bericht.

Auch in Asien sehen die Stockholmer Friedensforscher einen Rüstungswettlauf im Gang. China liegt dort mit einem Kernwaffenarsenal von rund 270 Sprengköpfen an der Spitze, gefolgt von Pakistan mit rund 140 und Indien mit 130 Sprengköpfen. Während China ein langfristiges Modernisierungsprogramm begonnen hat, das eher die Qualität als die Vergrößerung der Atomstreitmacht im Blick hat, sind sowohl Indien als auch Pakistan dabei, ihre Nuklearmacht zu Land, zu Wasser und in der Luft auszubauen.

Nordkorea habe offenbar technische Fortschritte beim Ausbau seines Atomwaffenprogramms erzielt und besitze spaltbares Material für etwa 10 bis 20 Atomsprengköpfe, so SIPRI. Es gebe jedoch keine belastbaren Daten, die belegten, dass die Herrschenden in Pjöngjang schon im Besitz von Atomsprengköpfen seien, mit denen ballistische Raketen bestückt werden könnten, schreiben die Autoren der Studie.

Zu Israel heißt es im SIPRI-Jahresbericht, das Land werde seine sechs in Deutschland gebauten U-Boote der Dolphinklasse möglicherweise mit Atomsprengköpfen auf seegestützten Marschflugkörpern vom Typ SCLM bestücken, was die israelische Regierung jedoch offiziell bestreitet. Die Existenz einer eigenen Atomstreitmacht mit wahrscheinlich 80 nuklearen Sprengköpfen hat keine israelische Regierung bislang offiziell bestätigt.

Deutschland ist zwar keine Atommacht, doch auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern 20 US-amerikanische B 61-Atombomben mit einem gewaltigen Zerstörungspotenzial, deren »Betriebszeit« im Rahmen des US-Modernisierungsprogramms verlängert werden soll. Die Nuklearwaffen werden dort im Rahmen der sogenannten »nuklearen Teilhabe« gelagert und können von deutschen PA-200-Tornados eingesetzt werden.[3] Die neue B 61-12, eine »Smart«-Bombe, soll treffgenauer sein und sogenannte »chirurgische Schläge« mit einem geringeren radioaktiven Niederschlag ermöglichen. Kritiker dieser modernisierten Nuklearwaffe weisen darauf hin, dass damit der Unterschied zwischen taktischer Kriegswaffe und strategischer Abschreckungsbombe verwischt wird und ein Szenarium befördert werde, in dem ein Atomkrieg mit begrenzten Folgen in Kauf genommen wird. Die Vorstellung, präzise treffen zu können, führt zur Absenkung der Hemmschwelle zum Einsatz der Waffe.

Unklar ist, welche Folgen die fortgesetzte nukleare Teilhabe für die Zukunftspläne der deutschen Luftwaffe haben wird. Die Tornado-Flotte ist inzwischen deutlich geschrumpft; von den 357 Stück, die von 1981 bis 1992 ausgeliefert wurden, werden Berichten zufolge nur noch 83 genutzt. Allerdings hat Airbus inzwischen begonnen, ein Nachfolgemodell zu konzipieren, das den modernen Kriegsszenarien entsprechen und zum Beispiel in der Lage sein soll, satellitengesteuert begleitet von Drohnen oder Drohnenschwärmen Einsätze zu fliegen.[4]

Zudem intensiviert sich seit Trumps Amtsantritt in den bundesdeutschen Leitmedien die Debatte darüber, ob Europa einen eigenen »Atomschirm« benötige. Was den Mitherausgeber der FAZ, Berthold Kohler, zur Feststellung veranlasste, Amerika werde die Verteidigung Europas in einem Maße den Europäern überlassen, womit sich die »Frage einer eigenen nuklearen Abschreckungsfähigkeit, welche die Zweifel an Amerikas Garantien ausgleichen könnte«, aufdränge. »Die französischen und britischen Arsenale sind dafür in ihrem gegenwärtigen Zustand zu schwach. Moskau aber rüstet auf.« (FAZ, 27.11.2016)

Dass Deutschland für den Aufbau entsprechender Kapazitäten erst einmal völkerrechtliche Verträge wie den Nicht-Verbreitungsvertrag brechen und den 2011 beschlossenen Atomausstieg kassieren müsste, scheint dem FAZ-Hardliner nicht zu interessieren. Schon zuvor hatte die Konrad-Adenauer-Stiftung festgestellt, dass eine Debatte darüber »dringend geboten« sei, denn eine »glaubwürdige Abschreckung« Russlands bedürfe einer »nuklearen Komponente«. Schließlich beauftragte der Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuss, Roderich Kiesewetter, den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages, die völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands beim Umgang mit Kernwaffen zu prüfen. Insbesondere war für ihn von Interesse, ob eine »Ko-Finanzierung ausländischer Nuklearwaffenpotentiale durch Deutschland« möglich sei.

Die Delegitimierung der nuklearen Abschreckung als Mittel der Politik ist wichtig und der von 132 Staaten vorgelegte UN-Vertragsentwurf ist dazu ein Baustein. Er verbietet das »entwickeln, testen, produzieren, anderweitige beschaffen, besitzen oder anhäufen« von Nuklearwaffen. Schon das Androhen eines Einsatzes wird darin unter Strafe gestellt.

Bei der UN-Vollversammlung im September 2017 soll das Regelwerk allen Mitgliedstaaten zur Unterschrift vorgelegt werden. Falls es innerhalb von drei Monaten von 50 Ländern ratifiziert wird, tritt es in Kraft. Damit wird zwar nicht über Nacht eine atomwaffenfreie Welt entstehen. Dennoch wird eine Wirkung erzielt, da der Vertrag nach Ansicht von Xanthe Hall von Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) »den Besitz von Atomwaffen stigmatisiert« und »den Druck zur Abrüstung erhöht«. Erfolge aus anderen Verbotsvertragsprozessen, zum Beispiel bei Landminen und Streumunition, zeigen: Eine begrenzte Anzahl von Staaten ging voran und später traten auch die Besitzerstaaten bei.

[1] Weder die neun Atomwaffenstaaten noch die Nato-Mitglieder – außer die Niederlande und Irland – nahmen an den Gesprächen bei der UN teil, die von Österreich, Brasilien, Irland, Mexiko, Nigeria und Südafrika initiiert wurden. Die Bundesregierung begründete ihren Boykott damit, dass es sich bei den Gesprächen um einen »gesinnungsethischen« Ansatz handle, der für das Bestreben, eine Welt ohne Atomwaffen zu erreichen, kontraproduktiv sei. Doch letztlich folgte sie den Vorgaben der USA, die in einem internen NATO-Papier vom Oktober 2016 ihre Bündnispartner aufgefordert hatte, gegen ein Atomwaffenverbot in den UN zu stimmen. Hinzu kommt, dass die in Deutschland stationierten US-Atomwaffen nach einem Beitritt zu diesem Vertrag abgezogen werden müssten.
[2] Vgl. Trends in World Nuclear Forces, 2017. SIPRI Fact Sheet July 2017.
[3] Der Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland ist politisch bereits beschlossen: von der Bundesregierung 2009 im Koalitionsvertrag vereinbart und im Jahr 2010 bekräftigt durch einen Beschluss des Bundestages. Die Berliner Regierung hat das Vorhaben jedoch mit dem Verweis darauf, dass die NATO über einen Abzug von Atomwaffen aus Europa bisher keinen Konsens erzielen konnte, nicht umgesetzt.
[4] Vgl. Gerhard Hegmann: Neuer Kampfjet bringt Deutschland die Atombomben-Frage. www.welt.de vom 12.6.2017.

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