12. Oktober 2015 Otto König / Richard Detje: Die 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa

Nos faltan 43

Auch ein Jahr nach dem Verschwinden der 43 Lehramtsstudenten in Iguala fragen die Eltern mit verzweifeltem Nachdruck: »Wo sind unsere Söhne?« Sie fühlen sich von der mexikanischen Regierung und ihrem Präsidenten Enrique Peña Nieto verraten. Die Aufklärungsbilanz der staatlichen Behörden geht gegen Null.

Zwar eröffnete die Staatsanwaltschaft inzwischen 111 Verfahren, doch verurteilt wurde niemand. Dabei handelt es sich um einen der wenigen Fälle, der von den Verantwortlichen nicht unter den Teppich gekehrt werden konnte. Auch der Versuch, die Tat auf einen Konflikt zwischen zwei verfeindeten Banden der organisierten Kriminalität zu reduzieren, misslang.

»Nos faltan 43« – »Uns fehlen 43« wurde in den vergangenen zwölf Monaten in Mexiko zum Motto einer breiten Bewegung, die auch international Resonanz und Unterstützung fand. Dies ist den Eltern zu verdanken, die seit dem Verschwinden ihrer Kinder keinen Tag Ruhe gaben, getragen von Protesten, denen sich größere Teile der Zivilgesellschaft anschlossen.

Nicht zuletzt das offenkundige Zusammenwirken von korrupten Sicherheitskräften, Justiz, kommunalen Amtsträgern und organisiertem Verbrechen versetzte die Bevölkerung in Aufruhr. »Todos somos Ayozinapa« (»Wir alle sind Ayotzinapa«) lautet eine Losung auf den Demonstrationen: Es kann jeden treffen.

Was geschah am 26. September 2014 in Iquala?[1] Studenten des Lehrerseminars »Raúl Isidro Burgos«[2] in Ayotzinapa im Bundesstaat Guerrero besetzten in der Nacht mehrere Busse, um gemeinsam zu einer Demonstration nach Mexiko-Stadt zu fahren. Die Polizei stoppte auf Anordnung des Bürgermeisters Jose Luis Abarca mit Schüssen die Busse. Dabei wurden sechs Menschen getötet. 43 Lehramtsstudenten wurden nach Angaben der Beamten verhaftet und der lokalen Drogen-Mafia »Guerreros Unidos« übergeben. Zu den Waffen, die bei der Schießerei im Einsatz waren, gehörten drei Dutzend G36-Gewehre der Waffenschmiede Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar, die laut »Endverbleibserklärung« nicht in dieser Provinz vorhanden sein durften.

Seit dem 27. September 2014 ermittelt die Generalstaatsanwaltschaft wegen Mordes. Vier Monate später präsentierte der damalige Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam auf einer Pressekonferenz Geständnisse und die – wie er sagte – »historische Wahrheit«. Per Videoeinspielung erklärte einer der mutmaßlichen Täter, sie hätten die Studenten mit Benzin übergossen und verbrannt. Obwohl bis zu diesem Zeitpunkt nur ein Einziger der Verschwundenen identifiziert worden war, erklärte daraufhin die Justiz die 43 vermissten Studenten für tot und den Fall für abgeschlossen.

»Carpetazo« – zu den Akten legen, nennt man das in Mexiko, eine oft praktizierte Form, um die wahren Täter zu decken. »Die mexikanische Justiz ist eine wahre Meisterin darin, Schuldige zu fabrizieren«, erklärte der Schriftsteller Juan Villoro im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau (26.9.2015).

Dass die Untersuchungen durch die Justiz-Behörden von Anfang an von Fehlinformationen geprägt waren,[3] belegen die im September veröffentlichten Ermittlungsergebnisse einer Expertengruppe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (CIDH). Sie wirft in ihrem rund 550 Seiten umfassenden Bericht den Behörden »schlampige und lückenhafte Ermittlungen« vor (Neue Züricher Zeitung, 8.9.2015).

Detailliert widerlegt die Kommission die Behauptung, dass die Opfer auf einer Müllkippe der Ortschaft Cocula nahe Iguala verbrannt worden seien. »Das können wir kategorisch ausschließen«, betonte der chilenische Anwalt und Mitglied der Expertenkommission, Francisco Cox. Es habe keine Spuren eines größeren Feuers gegeben, das erlaubt hätte, auch nur eine einzige Leiche zu verbrennen, heißt es in dem Report. Um 43 Studenten unter freiem Himmel zu verbrennen, bräuchte man 30 Tonnen Holz und zwölf Tonnen Autoreifen. Der Verbrennungsvorgang würde 60 Stunden dauern.[4]

Auch an der Theorie eines »lokalen Verbrechens« melden die internationalen Experten gehörige Zweifel an. Das Verbrechen sei zu groß, so das spanische Kommissionsmitglied Carlos Beristein, um »spontan von ein paar korrupten Dorfpolizisten organisiert zu werden«. Die Kommission wies darauf hin, dass die Studenten schon am Nachmittag des 26. September 2014 von der Bundespolizei und der Armee observiert worden seien. Beweise dafür seien unterschlagen und Anträge, mit den Soldaten des in der Nähe stationierten Armeebataillons 27 sprechen zu dürfen, abgelehnt worden.

Den Experten zufolge muss nicht zwangsläufig davon ausgegangen werden, dass die Studenten tot sind. Damit unterstützen sie die Forderung der Angehörigen, die Suche fortzusetzen. Diese richteten Ende September an Präsident Enrique Peña Nieto die Forderung, dass die fünf internationalen Experten weiter ermitteln sollen, bis die »Verschwundenen« gefunden sind.

Doch die Behörden halten an ihrer Version fest. Kurz nach der Veröffentlichung des Expertenberichts präsentierte die Generalstaatsanwaltschaft einen Verhafteten – Gildardo López Astudillo (»El Gil«), Mafiaboss und Regionalchef der »Guerreros Unidos« –, der die Tötung und Verbrennung der 43 auf besagter Müllkippe allein organisiert haben soll. Der italienische Journalist Federico Mastrogiovanni, der zum Thema Verschwinden-Lassen ein viel beachtetes Buch geschrieben hat, hält den Zeitpunkt der Verhaftung für kalkuliert: »Der Staat kann einfach nicht zugeben, selbst Schuld an einem solchen Verbrechen zu tragen, denn das würde ein ganzes korruptes, kriminelles System erschüttern« (ARD, 25.9.2015).

Obwohl Mexiko eine Vielzahl von Menschenrechtsverträgen ratifiziert hat, unter anderem auch das »Internationale Übereinkommen zum Schutz Personen vor dem Verschwinden-Lassen«, sind derartige Verbrechen seit Jahrzehnten an der Tagesordnung. Es war und ist ein Mittel im Kampf gegen Kommunisten und Sozialisten, gegen AktivistInnen sozialer Bewegungen und Gewerkschaften, die sich für ihre Rechte und Interessen einsetzten, und gegen Journalisten, die darüber berichten.[5]

Selbst offiziellen Statistiken zufolge gelten ca. 26.000 Menschen seit 2007 als »verschwunden« – die Zahl ist größer als die registrierten Namen aller »desaparecidos« während des Wütens der südamerikanischen Militärdiktaturen. »Trotzdem leugnet die Regierung das Phänomen, ermittelt kaum, bestraft niemanden und unternimmt nichts, um dem vorzubeugen oder die Opfer zu entschädigen«, kritisiert die UN-Arbeitsgruppe über gewaltsame Verschleppungen (Der Tagesspiegel, 25.9.2015).

Die Angehörigen der 43 und ihre Unterstützer haben die Praxis des Verschwinden-Lassens in den Focus der Öffentlichkeit gerückt. Der Fall Ayotzinapa lässt sich nicht so einfach zu den Akten legen. Die Eltern kämpfen weiter. Von ihrer Hartnäckigkeit zeugt ein Graffiti auf dem Gelände der pädagogischen Fachschule: Eine Schildkröte, die sagt: »Ich bin langsam, aber unversöhnlich – viele Grüße, die Gerechtigkeit«. Ayotzinapa heißt in der indigenen Sprache »Nahuatl« – Ort der Schildkröten.

[1] Otto König/Richard Detje: Die Verschwundenen von Ayotzinapa/Mexiko »Wir wollen sie lebend zurück«, Sozialismus aktuell 24.11.2014.
[2] Staatliche Landlehrerseminare dieses Typs wurden ab Anfang der 1930er Jahre in vielen mexikanischen Bundesstaaten eingerichtet, in denen Jugendliche eine Ausbildung erhalten, die nach dem Abschluss als Lehrkräfte in entlegenen Dörfern Unterricht erteilten. Die Blütezeit dieser Hochschulen lag in den 1970er Jahren. 2003 gab es in Mexiko noch 457 solcher Einrichtungen, 68% der Teilnehmenden waren weiblich.
[3] Schon im Juli 2915 legte der Ombudsmann der mexikanischen Menschenrechtskommission (CNDH), Luis Raúl González Pérez, ein Dokument mit dem Titel »Stand der Ermittlungen im Fall Iguala« vor, in dem zahlreiche gravierende Defizite der Generalstaatsanwaltschaft (PGR) bei der Suche nach den 43 jungen Männern und bei der Aufklärung der weiteren sechs Morde dokumentiert sind (Amerika 21, 28.7.2015).
[4] Auch die Forensiker EAAF (1984 gegründet, um die Fälle der mindestens 9.000 »Verschwundenen« während der argentinischen Militärdiktatur von 1976-1983 aufzuklären), die am 5. Oktober vergangenen Jahres in Mexiko ihre Arbeit aufgenommen hatten, betonten, es gebe nicht genügend Beweise für das offizielle Ermittlungsergebnis, nach dem die Studenten in Cocula verbrannt worden sein sollen.
[5] Vgl. Christiane Schulz: Ayotzinapa/Mexiko. Dokumentation und Analyse eines Menschenrechtsverbrechens, MvB Agenda 6 , México via Berlin e.V. März 2015.

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