20. Februar 2018 Otto König/Richard Detje: Erdoğans Doppelspiel: Deniz Yücel ist frei – sechs andere werden zu lebenslanger Haft verurteilt

Politisch angeordnete Freilassung

Foto: Plakat für die am 21. Mai 2017 sattfgefundene Solidaritäts-Matinee auf der Bühne des Schauspiel Frankfurt für Deniz Yücel und inhaftierte Journalistinnen und Journalisten in der Türkei.

Deniz Yücel ist frei. Ein Jahr lang saß der Welt-Korrespondent unschuldig im Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis Silivri. 367 Tage lang war er Geisel des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der ihn als »deutschen Agenten« und »Terroristen« brandmarkte.

In der ihm schließlich vorgelegten Anklageschrift [1] wurden wegen »Terrorpropaganda« und »Volksverhetzung« bis zu 18 Jahre Haft gefordert. Seine Freilassung und ungehinderte Ausreise ist ein Grund zur Freude. Doch gleichzeitig gehen die massiven Repressionen gegen die demokratische Opposition, gegen Gewerkschafter, Wissenschaftler und Journalisten in der Türkei unvermindert weiter. Allein in den vier Wochen, die seit dem Einmarsch der türkischen Armee in Nord-Syrien vergangen sind, wurden knapp 800 Personen wegen Teilnahme an Demonstrationen oder Mitteilungen in Sozialen Netzen festgenommen.

Zwei Stunden nach Yücels Freilassung wurden die Journalisten Ahmet Altan und Mehmet Altan sowie die Journalistin Nazli Ilcak und ihre Kollegen Fevzi Yazici, Yakup Simsek, Sükrü Tugrul Özsengül wegen angeblichen »Versuchs zum Umsturz der Verfassungsordnung« zu erschwerten lebenslangen Haftstrafen [2] verurteilt. Ihre »Verbrechen« lesen sich ähnlich wie die Anklagepunkte gegen Deniz Yücel. »Ich wurde Hunderte Male verklagt«, sagte der auch als Romancier bekannte Ahmet Altan nach dem Urteilsspruch. »Das ist das erste Mal, dass ein türkisches Gericht offenen Verfassungsbruch begeht. Soweit ich weiß, gab es das weder in der Zeit der Osmanen noch der Türkischen Republik.« Wenige Wochen zuvor hatte das Verfassungsgericht entschieden, dass Mehmet Altan unschuldig sei und aus der Haft entlassen werden müsse; ein Urteil, das auch für die Mitangeklagten Bedeutung hatte. Doch die unteren Instanzen haben diese Entscheidung ignoriert. Journalismus wird zum Verbrechen abgestempelt.

Auch wenn türkische Politiker gebetsmühlenartig wiederholen, die Justiz in ihrem Land sei unabhängig, legen spätestens die beiden Vorgänge offen, dass die türkische Justiz vom Präsidentenpalast gesteuert wird. Für den im Exil lebenden ehemaligen Chefredakteur der regierungskritischen türkischen Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, steht fest: »Der Sultan hat Deniz Yücels Verhaftung angeordnet und der Sultan hat beschlossen, dass er freigelassen wird« (Zeit online, 16.2.2018).

Wie hohl klingt vor diesem Hintergrund die Feststellung bundesdeutscher Politiker vom »positiven Signal« für die deutsch-türkischen Beziehungen. Yücel selbst erklärt: »Ich weiß immer noch nicht, warum ich vor einem Jahr verhaftet wurde, genauer, warum ich vor einem Jahr als Geisel genommen wurde – und ich weiß auch nicht, warum ich heute freigelassen wurde«. In seiner Videobotschaft erinnert er daran, dass er einen Zellennachbarn zurückgelassen habe, einen türkischen Journalisten, der nur wegen seiner journalistischen Tätigkeit in Haft sitzt – »und viele andere Journalisten, die nichts anderes getan haben, als ihren Beruf auszuüben.«

Der türkische Journalist und Chefredakteur der Exilnachrichtenwebseite Ahvalnews, Yavuz Baydar, spricht vom »Doppelspiel« Erdogans: »Die westlichen Medien sollen sich über Yücel freuen und den historisch harten Gefängnisstrafen gegen die prominenten Autoren keine Beachtung schenken«. Fakt ist: Rund 150 Journalisten sitzen seit Monaten in türkischer Haft und warten auf eine Anklageschrift oder einen Prozesstermin. 31 deutsche Staatsbürger dürfen nach Angaben des Auswärtigen Amtes das Land wegen einer »Ausreisesperre« nicht verlassen, darunter die Ulmer Journalistin Meşale Tolu, deren Prozess wegen »Terrorpropaganda« weitergeführt wird.

Die Terrorvorwürfe dienen dazu, Kritiker des Präsidenten und der AKP-Regierung auszuschalten. So werden im Zuge des völkerrechtswidrigen Angriffs der türkischen Armee [3] im Kanton Afrin in Nordsyrien all diejenigen als »Terroristen« diffamiert, die zum Frieden aufrufen. Zwischenzeitlich wurden über 600 Menschen festgenommen, weil sie an Protesten teilgenommen oder sich in sozialen Medien kritisch gegen den Krieg geäußert haben. Darunter die Vorsitzenden des türkischen Ärztebundes, des größten Medizinerverbands der Türkei, die eine Petition veröffentlicht hatten, in der es am Ende heißt: »Nein zum Krieg, Frieden jetzt«. Und kaum 24 Stunden, nachdem die Demokratische Partei der Völker (HDP) [4] auf ihrem dritten Parteikongress zwei neue Vorsitzende gewählt hatte, leitete die türkische Generalstaatsanwaltschaft gegen die Co-Vorsitzende Pervin Buldan, die den Angriffskrieg in Afrin auf dem Kongress scharf kritisiert hatte, ein Verfahren wegen Unterstützung des »Terrorismus« ein.

Yücels Freilassung – genau wie seine Festnahme – ist politisch motiviert. Dies nährt den Verdacht, dass zwischen deutscher und türkischer Regierung ein Agreement geschlossen wurde. Der geschäftsführende deutsche Außenminister Sigmar Gabriel bestreitet dies vehement: »Es gibt keinen Deal, weder einen schmutzigen noch einen sauberen.« Fakt ist: Im Herbst letzten Jahres begann die türkische Regierung ihre Bemühungen zur Normalisierung des Verhältnisses beider Staaten zu intensivieren, um insbesondere wegen der lahmenden Wirtschaft die wirtschaftlichen Investitionen und den Tourismus aus Deutschland zu fördern. Schließlich werden rund 60% der türkischen Ex- und Importe mit der EU abgewickelt. Denn obwohl Deutschland im Streit um die deutschen Häftlinge nur sehr »homöopathische« Sanktionen gegen die Türkei ergriffen hat – wie die Einschränkung von Hermesbürgschaften für deutsche Firmen –, spürt die türkische Wirtschaft diese Maßnahmen. Und vor allem benötigt die Türkei Waffen für ihren Angriffskrieg in Nord-Syrien.

Setzt man die Puzzle-Teile zusammen, spricht etliches für Abmachungen über Waffengeschäfte. Es geht nicht nur um die Nachrüstung der im Afrin-Krieg eingesetzten Leopard-Panzer mit einer besseren Panzerung gegen Raketenbeschuss und Sprengfallen. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildrim warb am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz um eine deutsche Beteiligung am geplanten Bau des türkischen Kampfpanzers »Altay« in einer Größenordnung von 1.000 Panzern. Die Düsseldorfer Rüstungsschmiede, die ein Stück vom Kuchen abhaben will, hat in der Türkei mit dem türkischen Konzern BMC das Gemeinschaftsunternehmen RBSS gegründet. Firmensitz ist Ankara. Rheinmetall hält mit 40% eine Minderheit. Report München und dem Stern liegen Interne Rheinmetall-Mails vor, die zeigen, dass BMC dem deutschen Panzerbauer als Türöffner dienen soll. Die Entscheidung über den Auftrag in Höhe von etwa sieben Milliarden Euro sollte eigentlich Anfang 2018 fallen. Doch ohne Genehmigung der Bundesregierung ist eine Beteiligung von Rheinmetall am Panzerbau in der Türkei nicht möglich.

Doch das heißt nichts, wie der Vorgang um die Nachrüstung für M60-Panzer aus US-amerikanischer Produktion durch Rheinmetall beweist. Obwohl Sigmar Gabriel noch im September 2017 beteuerte, alle größeren Rüstungslieferungen an die Türkei seien auf Eis gelegt worden, erteilte die Bundesregierung vier Wochen später einen positiven Vorbescheid für Nachrüstungspakete für M60-Panzer. »Oh Wunder: Neun Tage nach dem positiven Bescheid entließen die Türken den deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner aus der Haft«, schreibt Hans-Martin Tillack wenige Tage vor Yücels Freilassung im Stern (13.2.2018).

Außenminister Gabriel will Yücels Freilassung dazu nutzen, »alle Gesprächsformate wieder zu beleben mit der Türkei«. Der türkische Staatspräsident mag gegenüber Berlin derzeit gerade auf Deeskalation setzen. Im Inland führt er seinen autoritären Kurs gegen die demokratischen Kräfte und in Nord-Syrien seinen Krieg ungebremst fort. Noch sitzen Zehntausende Menschen in türkischen Gefängnissen, deren einziges Vergehen darin besteht, eine andere Meinung als Erdoğan zu haben. Erst wenn alle unschuldigen Häftlinge freigelassen werden, kann es einen Weg zurück zu einer Normalität geben, wie sie zwischen der Türkei und Deutschland schon einmal bestand. Mit Deniz Yücels Freilassung darf die Unterstützung des Kampfes für die Menschenrechte und gegen die staatliche Unterdrückung der kurdischen Ethnien, für die Aufhebung des Streikverbots und Pressefreiheit sowie die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen nicht aufhören.

[1] Als Beweise führt die Anklageschrift neben einigen Telefonaten acht Artikel von Deniz Yücel an, die in der Welt erschienen sind. Darin habe er u.a. Operationen der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK als »ethnische Säuberung« bezeichnet und in einem Interview mit dem PKK-Kommandeur Cemil Bayık versucht, die PKK als »legitime und politische Organisation« darzustellen.
[2] Erschwerte lebenslange Haft, die in der Türkei anstelle der Todesstrafe verhängt wird, bedeutet Einzelhaft mit täglich nur einer Stunde Freigang. Bei guter Führung wird ein beschränkter Kontakt zu anderen Insassen gestattet. Besuch darf nur von Verwandten ersten Grades alle 15 Tage für eine Stunde empfangen werden. Während bei lebenslanger Haft nach 24 Jahren eine bedingte Haftentlassung möglich ist, ist dies bei der erschwerten lebenslangen Haft erst nach 30 Jahren zugelassen.
[3] Das türkische Militär setzt in ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg aus deutscher Produktion stammende Leopard-Panzer ein und kooperiert eng mit der Söldnertruppe »Freie Syrische Armee« (FSA), in deren Reihen auch ehemalige Kämpfer islamistischer Gruppen wie von al-Nusrah oder Ahrar al-Sham mitkämpfen.
[4] Die linke Oppositionspartei HDP hat die Verhaftungswelle besonders schwer getroffen. Neben Tausenden weiteren HDP-Mitgliedern und -Sympathisanten sitzen die beiden bisherigen Co-Vorsitzenden der Partei Selahattin Demirtas und Figen Yüksedag aufgrund derselben Anschuldigungen seit nunmehr über einem Jahr in Haft. Ihnen drohen über hundert Jahre Haft.

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